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•TANfOMO UNIVCMtlTV
L.,RAltlC«
STACKS
SEP l y 197/
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DAS AUSLAND
Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde
herausgegeben von
SIEGMUND GÜNTHER.
Jahrgang 65, Nr. 27.
Jährlich 5a Nummern ä 16 Seiten in Quart. Preis pro
Quartal M. 7.— Zu beziehen durch die Buchhandlungen des
In- und Auslandes und die Postämter.
Stuttgart, 2. Juli 1892.
Manuskripte und Rezensionsexemplare von Werken der
einschlägigen Litteratur sind direkt an Professor Dr.SIBGMUND
GÜNTHER in Mtlnchen, Akademiestrasse 5, zu senden.
Preis des Inserats auf dem Umschlag ao Pf. für die gespaltene Zeile in Petit.
Inhalt: 1. Die Entwickelung der historischen Länderkunde und ihre Stellung im Gesamtgebiete der Geographie. Von
J. Part sch (Breslau). II. S. 417. — 2. Eine Eisenbahn durch die Sahara. Von Adolf Fleischmann (München). (Schluss.)
S. 420. — 3. Zur mittelalterlichen Ethnographie. Von Fr. Guntram Schultheiss (München). S. 424. — 4. Der Staat Santa
Catharina in Südbrasilien. Von C. Ballod (Jena). S. 427. — 5. Geographische Mitteilungen. (H. Burmeister; Geologie von
Cypern; Reise nach Venezuela.) S. 430. — 6. Litteratur. (Middendorf; Graf Eberhard zu Erbach; Peters; v. Benko; Simony.) S. 431.
Die Entwickelung der historischen Länder¬
kunde und ihre Stellung im Gesamtgebiete
der Geographie.
Von J. Partsch (Breslau).
II.
Der Schluss meines Abrisses der Entwickelung
der historischen Länderkunde behauptet, sie bilde in
ihrer neuesten, erst in den letzten Jahrzehnten voll¬
zogenen Gestaltung »einen integrierenden Teil der
wissenschaftlichen Geographie«. Dieser Satz musste
auf Widerspruch gefasst sein. Es schien nicht über¬
flüssig, ihn durch eine knappe Gedankenreihe zu
stützen, welche den in unserer Zeit weniger allge¬
mein als früher anerkannten Wert historischer Arbeit
und historischer Schulung für den Geographen kurz
und bestimmt betonen sollte. Je mehr eine ein¬
seitige Wertschätzung der naturwissenschaftlichen
Grundlagen der Geographie überhand nimmt, desto
weniger durfte und wollte ich der ersten Gelegen¬
heit ausweichen, meine Farbe zu bekennen. Das
Eintreten in eine vollständige kritische Analyse ent¬
gegengesetzter Anschauungen, eine »speciellere Be¬
schäftigung« mit ihnen, war in einer Schlussbemer¬
kung zu einer kleinen Schrift weder möglich, noch
nötig. Wohl aber gebot schon die Achtung vor der
schärfsten Gegnerschaft, die Front der eigenen Aus¬
führungen ihr zuzukehren. Das ist ganz unzwei¬
deutig geschehen. Meine Meinung tritt der Ger-
lands gegenüber. Das war für jeden an diesen
Fragen Interessierten unverkennbar. Einer Nennung
des Namens bedurfte es dafür nicht; es handelt sich
nicht um einen Gegensatz der Personen, sondern
der Gedanken. Dass Gerland das Unterlassen der
Nennung seines Namens »zaghaft« findet, erklärt
sich nur daraus, dass die ganze Weite des Deutschen
Reiches zwischen uns liegt und unsere persönliche
Bekanntschaft auf zwei flüchtige freundliche Be-
Auftland 1892. Nr. 27.
rührungen beschränkt blieb. Nicht jenes mir vor¬
läufig fremde Gefühl hat mich früher und jetzt ab¬
gehalten, den von Gerland den historisch geschulten
Geographen hingeworfenen Handschuh aufzunehmen
und mit ihm zu einem längeren methodischen Waffen¬
gang zu schreiten, sondern ein ganz anderer Beweg¬
grund. Ich finde methodische Kontroversen zwischen
Anschauungen, die soweit auseinandergehen, nicht
fruchtbar. Es wäre davon kein Ergebnis zu erwarten,
höchstens eine Unterhaltung der Korona. Mir winkt
vorläufig noch nützlichere Arbeit. Aber wenn ich
offen sagen soll, was ich über Gerlands methodo¬
logische Ausführungen denke, so will ich nicht zu¬
rückhalten mit dem Geständnis, dass sie mir nicht
überzeugend begründet und gerade im gegenwärtigen
Zeitpunkt für die Geltung und das Wirken unserer
Wissenschaft so nachteilig erscheinen, wie methodische
Erörterungen überhaupt sein können.
Die bestimmte Ueberzeugung, dass es nicht er-
spriesslich ist, eine vollständige Widerlegung der
methodischen Ausführungen Gerlands zu versuchen,
kann mich natürlich nicht hindern, die Bemerkungen
zu beleuchten, welche er meinen wenigen methodi¬
schen Sätzen entgegenstellt. Gleich der Anfang ent¬
lockt ihm eine Aeusserung geringschätzigen Un¬
willens. Ich beginne: »In welchem Verhältnis steht
die historische Länderkunde zur Geographie? Um
die Fülle der Erscheinungen, welche auf der Erd¬
oberfläche wahrnehmbar sind, klar zu erfassen, teilt
der Menschengeist ihre Betrachtung nach den
Kategorien von Raum und Zeit; er sieht sie geo¬
graphisch oder historisch an. Aber nur vorüber¬
gehend kann in ihm das Bewusstsein zurücktreten,
dass diese Teilung nicht in den Dingen selbst be¬
gründet liegt, sondern in dem Willen des Betrachten¬
den. Sobald das Denken von dem einfachen Auf¬
fassen einer Thatsache weiter schreitet zu ihrem
Verständnis, wird unvermeidlich dem Historiker das
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Die Entwickelung der historischen Länderkunde und ihre Stellung im Gesamtgebiete der Geographie.
Nebeneinander, dem Geographen das Nacheinander
von Ursache und Wirkung fühlbar«. Gerl and ent¬
gegnet: »Alles dies ist völlig schief. Der Menschen¬
geist teilt die Fälle (!) der Gegenstände nie ein nach
Raum und Zeit [Gerland unterdrückt stillschweigend
das für meinen Gedanken belangreiche Wort, das
ich oben sperrte], sondern nur nach der Verschieden¬
heit ^ihrer Gesamtnatur; die Historie ist ebensowenig
die Wissenschaft des Nach*-, wie die Geographie die
des Nebeneinander. Solche Wissenschaften gibt es
nicht, auf solchen Grundlagen baut sich keine Wissen¬
schaft auf. Auch dies ist wieder so völlig selbst¬
verständlich, dass ich darüber hingehen kann.« Dass
eine Behauptung schief wird, wenn man sie schief
wiedergibt, bezweifle ich keinen Augenblick. Im
übrigen werde ich vorläufig fortfahren, einen wesent¬
lichen Unterschied historischer und geographischer
Betrachtung darin zu sehen, dass jene von der zeit¬
lichen Entwickelung, diese von der räumlichen Lage
und Gestaltung des Objektes ausgeht. Davon mich
abzubringen, dazu reicht die Belehrung Gerlands
noch nicht aus, so kräftig auch die Worte sind, in
die sie sich kleidet.
Von allgemeinerer Bedeutung ist der Vorwurf,
den Gerland gegen meine nächsten Ausführungen
erhebt, der Vorwurf, dass ich den Begriff »histo¬
rische Methode« bald im deduktiven, bald im in¬
duktiven Sinne gebraucht hätte, ohne mir dieses
Unterschiedes bewusst zu werden. Denn der be¬
trübende Eindruck dieser vermeintlichen Begriffsver¬
wirrung treibt Gerland zu einer recht willkommenen
nochmaligen knappen Formulierung seiner metho¬
dischen Grundanschauung. Er sagt: »Ich habe be¬
hauptet und behaupte noch, die Geographie könne
sich der historischen Methode nicht bedienen, da
sie eine ex'akte Wissenschaft sei, und also nur nach
induktiver Methode, nicht nach der deduktiven ar¬
beiten könne; ich definiere die historische Methode
an den betreffenden Stellen durchaus als die deduktiv¬
historische, als die psychologische, ich verlange und
betone überall, dass die induktiv-historische Methode,
auf welcher die gesamte Entwickelungsgeschichte,
sei es anorganischer, sei es organischer Wesen be¬
ruht, die der Erdkunde allein angemessene Methode
sei, ja, ich habe (Beitr. zur Geophys. XXXV f.)
gerade die Länderkunde ganz und gar auf die Ent¬
wickelungsgeschichte basiert! Wenn Partsch aber
sagt, die Erdkunde könne der historischen Methode
nicht entbehren, denn sie könne nicht ohne Ent¬
wickelungsgeschichte auskommen, so liegt eben hier
jene völlig unbegreifliche Verwechselung der beiden
Begriffe vor. Unter ,historischer Methode* versteht
die Wissenschaftslehre, versteht jeder wissenschaft¬
lich Gebildete nur die deduktive Methode, und wer
sie aus der Geographie verbannen will, der will ja
gerade nur der induktiven Methode Geltung ver¬
schaffen. Und dass, wer die Deduktion aus der
Erdkunde verbannen will, hierdurch nicht auf die
kritische Behandlung der einzelnen Thatsachen der
Induktion' auf die Kritik der Ueberlieferung ver¬
zichtet, das versteht sich schon aus dem Begriff der
Induktion ganz und gar von selbst.«
Das nimmt sich sehr bestimmt und scharf aus;
nur ist es nicht richtig. Es gibt, wie die »Wissen¬
schaftslehre« zeigt und jeder »wissenschaftlich Ge¬
bildete« weiss, ganz gewiss einen Gegensatz der In¬
duktion und Deduktion, aber nicht den Gegensatz der
induktiven und deduktiven Methode, an den Gerland
zu glauben scheint. Die Induktion schliesst die De¬
duktion nicht aus, sondern ein. Jede Wissenschaft vom
Wirklichen verfährt induktiv und deduktiv zugleich.
Am wenigsten geht es an, die exakten Wissenschaften
auf die induktive Methode zu beschränken. Man thut
gut, mit dem Worte »exakt« nicht zu spielen. Exakt
im weiteren Sinne ist jede Wissenschaft, die es
»genau« nimmt, also jede wirkliche Wissenschaft.
Exakt im engeren Sinne ist die Wissenschaft, welche
zu zahlenmässig bestimmten Gesetzmässigkeiten ge¬
langt, und sie ist exakt nur, soweit ihr dieses ge¬
lingt. Exakt und induktiv sind so wenig Wechsel¬
begriffe, dass jede exakte Wissenschaft und jede
Wissenschaft überhaupt darauf ausgeht, nach Mög¬
lichkeit zu einer deduktiven zu werden und dass
diejenigen Wissenschaften die exaktesten sind, denen
dies am vollkommensten gelungen ist. Es ist kaum
nötig, an die Entwickelung der Physik, der Astro¬
nomie zu erinnern. Und nun meint Gerland eine
Wissenschaft dadurch zum Range einer »exakten«
zu erheben, dass er aus ihr »die Deduktion ver¬
bannt« ! Auch in der Geschichte gibt es, wenn man
genau reden will, keinen so exklusiven Gegensatz
von deduktiver und induktiver Methode, sondern
die wissenschaftliche Methode der Geschichte ist
überall induktiv und deduktiv zugleich.
Diese wenigen Sätze werden ausreichen, zu
zeigen, wie weit ich entfernt bin, die methodische
Schablone Gerlands für ein passendes Kleid unserer
Wissenschaft zu halten. Dem Anspruch Gerlands,
»die Deduktion aus der Erdkunde zu verbannen«,
könnte man mit Fug und Recht den Satz meines
Schlussabschnittes entgegenstellen: »Wer der Geo¬
graphie vorschreibt, dass sie nur einer Methode
sich bedienen dürfe, wenn sie Anspruch mache, als
einheitliche Wissenschaft zu gelten, mutet ihr einen
Verzicht auf den freien Gebrauch ihrer Glieder zu,
einen Verzicht, für den keine sachliche Notwendig¬
keit spricht«. Aber als ich diesen Satz niederschrieb,
handelte es sich für mich gar nicht um den Gegen¬
satz von Induktion und Deduktion, sondern um den
Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichte,
und um den Nachweis, dass für erfolgreiche Arbeit
auf dem Felde der Geographie nicht allein und aus¬
schliesslich eine naturwissenschaftliche Schulung von
Wert sei, sondern dass auch die methodische Sicher¬
heit historischer Forschung, die nur durch längere
Ausübung erreichbare Vertrautheit mit der Arbeits¬
weise des Historikers in vielen Fällen als ein un¬
entbehrliches Rüstzeug des Geographen gelten müsse.
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Die Entwickelung der historischen Länderkunde und ihre Stellung im Gesamtgebiete der Geographie.
ln diesem Sinne ist es sehr wohl möglich, von
»historischer Methode« im Gegensatz zu »natur¬
wissenschaftlicher« zu sprechen. Schlagen wir Ernst
Bern heims schönes Lehrbuch der historischen Me¬
thode (Leipzig 1889) auf. Was behandelt es? Es
gibt eine specielle Beleuchtung der einzelnen Stadien,
die eine historische Untersuchung zu durchlaufen
hat, und bietet dem Forscher Anleitung und Hilfs¬
mittel für jede der Aufgaben, vor die er nach ein¬
ander gestellt wird: für die Heuristik (Quellenkunde),
die Kritik, die Auffassung, die Darstellung. Auf
all diesen Stufen seiner Arbeit hat der Forscher sehr
verwickelte Wege des Denkens zu gehen, bald den
eines induktiven, bald den eines deduktiven Ver¬
fahrens. Aber immer arbeitet er in der Bahn und
mit dem Rüstzeug der »historischen Methode«. Er
übt sich in der Technik der Geschichtsforschung.
Gerland freilich lehnt diese Verwendung des Be¬
griffes mit überraschender Schroffheit ab. Er belehrt
mich: »Unter historischer Methode 4 versteht die
Wissenschaftslehre, versteht jeder wissenschaftlich
Gebildete nur jene deduktive Methode«. Mir scheint:
wer eine wissenschaftliche Diskussion nicht anders
eröffnen kann, als damit, dass er zwischen sich und
dem Angegriffenen die Grenzlinie der »wissenschaft¬
lichen Bildung« zieht, der thut gut, sich vorher
wenigstens genau zu überzeugen, ob er sich selbst
auf der richtigen Seite der gewählten Grenzlinie
befindet.
Der Nachweis des hohen Wertes historischer
Schulung für die Arbeit des Geographen kann auf
verschiedene Weise geführt werden. Ich hatte mich
begnügt, hinzuweisen auf die Bedeutung der von
historischer Forschung beleuchteten Vergangenheit
für das volle Verständnis und die Beurteilung des
gegenwärtigen Zustandes eines Landes. Er muss
gewürdigt werden am Maasstab der »Leistungsfähig¬
keit« eines Landes. Das ist bekanntlich (Wagner,
Geogr. Jahrb. XII, 438) ein Punkt, in welchem
Gerland die von seiner Methodenlehre geforderte
Ausschliessung des Menschen vom Studienfelde des
Geographen nicht in folgerichtiger Schärfe aufrecht
halten konnte. Wenn er auch (Beitr. zur Geoph.
XXXVII) noch den Versuch macht, die Aufgabe
des Geographen, »die wissenschaftliche Darstellung
der Natur des Landes und seiner Leistungsfähig-
keit«, in der Weise zu begrenzen, dass »diese
Leistungsfähigkeit den Geographen nur um ihrer
selbst und des Landes willen interessieren soll, nicht
der Menschen wegen, für welche die Leistungen von
Wichtigkeit sind«, so fällt doch auch dieser letzte
Schein einer wirksamen Ausschliessung des Menschen
aus den Betrachtungen des Geographen, sobald Ger¬
land (a. a. O. XLVIII) unter den praktischen Auf¬
gaben, die er dem Geographen zuweist, des schönen
Berufes gedenkt, für eine verständnisvoll zu leitende
Kolonisation »den Gesamtwert eines Landes, seine
Leistungen und seine Leistungsfähigkeit darzu¬
legen«. Das kann unmöglich geschehen, ohne ein
Eingehen auf die Bedürfnisse und die Lebensbedin¬
gungen menschlicher Siedelungen. Hier nähert sich
Gerland unverkennbar der Kulturgeographie. Die
Versuchung war zu verlockend, den so freundlich
dargebotenen Arm des sonst so »menschenscheuen«
Methodikers ebenso freundlich anzunehmen. Das
that ich mit den Worten: »Wenn es die Aufgabe
des Geographen ist, die Natur des Landes und dessen
Leistungsfähigkeit wissenschaftlich darzustellen,
dann wird er die im Verlauf der Kulturentwicke¬
lung sich vollziehende Entwertung mancher Natur¬
eigentümlichkeiten, die steigende Geltung anderer
nicht unbeachtet lassen dürfen. Er wird nicht leicht
unterlassen, nach einer möglichst lebendigen Vor¬
stellung älterer Zustände des Landes zu streben, an
dessen Schilderung er herantritt.« Gerland findet
darin ein »Durcheinanderschieben ganz verschiedener
Gedankenkreise«. Die Natur des Landes sei das Objekt
naturwissenschaftlich-exakter Forschung, Leistungs¬
fähigkeit aber sei, ebenso wie »Geltung, Entwer¬
tung«, ein Begriff, der in die Kulturwissenschaft
gehöre. Gerland erkennt das Begriffsgespann, mit
dem er selbst einst fuhr, nicht mehr wieder. Seine
kritische Neigung kehrt sich gegen seine eigenen
Worte. Man muss sie gegen ihn in Schutz nehmen.
Die Erdoberfläche ist der Ort der Kultur, ihre Be¬
dingung und ihr Gegenstand. Genau soweit die
Wechselbeziehung beider reicht, darf und muss die
Geographie sie mit in ihren Arbeitsbereich herein¬
ziehen.
Wir sind am Schlüsse. Er lautete in meinen
methodischen Bemerkungen: »Findet der Geograph
von einer historischen Landeskunde diese Aufgabe
[einer lebendigen Darstellung älterer Zustände des
Landes] befriedigend gelöst, dann kann er sie dankbar
als einen bereits geleisteten Teil seiner eigenen Arbeit
begrüssen. Die historische Länderkunde in der
Gestalt, welche ihr unser Jahrhundert ge¬
geben, ist ein unentbehrliches Glied der ganzen
geographischen Wissenschaft.« Gerland findet es
handlicher, aus diesem Satz ein Stück herauszu¬
schneiden und den Rest in eine falsche Verbindung
zu bringen, ehe er ihn angreift. Er greift noch¬
mals auf den hierher nicht gehörigen, meisterhaft
missverstandenen Satz zurück, dass die historische
Länderkunde ursprünglich — d. h. in ihren An¬
fängen bei den Alexandrinern! — als ein Teil der
Geschichte sich erweist, und findet damit durch
mich selbst den Beweis erbracht, »dass sie ein un¬
entbehrliches Glied der geographischen Wissenschaft
nicht sein kann; denn sonst wären Geschichte und
Erdkunde identisch«. Dass zwei Wissenschaften
dadurch, dass ein Forschungsgebiet beiden, bald
ausschliesslich der einen, bald vorwiegend der an¬
deren, Früchte trägt, identisch werden sollen, ist
eine Folgerung von überraschender Kühnheit. Aber
wichtiger als die höchst unvorsichtige Fassung des
Gedankens ist sein Kern. Wenn wirklich bewiesen
wäre, dass die historische Länderkunde zur Geschichte
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Eine Eisenbahn durch die Sahara.
gehört, wäre damit immer noch nicht bewiesen, dass
sie nicht zur Geographie gehört. In der Natur der
Wissenschaften liegt es mit Notwendigkeit begründet,
dass sie in einander greifen. Wer das verkennt,
setzt an die Stelle der lebendigen Wissenschaft eine
willkürliche Schablone, eine Fiktion. Gegen solch
ein Schattenbild anzukämpfen, wäre ebenso vergeb¬
lich, wie überflüssig. Es zerrinnt wieder, wie es
entstand.
Vielleicht genügen diese Zeilen, dem Leser zu
zeigen, dass bei der Kritik, gegen die sie gerichtet
sind, die Klarheit des Verständnisses fremder An¬
schauungen und die Festigkeit der Begründung und
Begrenzung eigener nicht immer auf gleicher Höhe
stehen mit der absprechenden Zuversichtlichkeit des
Urteils. Vielleicht genügen sie auch, aus der Dis¬
kussion manches Missverständnis zu entfernen, das
ohne mein Verschulden in sie Eingang fand. Dass
ich aber, wenn neue Fehldeutungen die an und für
sich sehr einfachen und einfach verknüpften Fäden
einer kurzen Gedankenfolge nochmals verwirren, mich
wieder verpflichtet fühlen würde, um eine Klärung
und Verständigung mich zu bemühen, das kann ich
nicht versprechen. Davon würde mich die Anziehungs¬
kraft fruchtbarerer Aufgaben ebenso abhalten, wie die
Rücksicht auf die Leser dieser Zeitschrift, der ich es
aufrichtig danke, dass sie mir einmal das Wort ge¬
gönnt hat gegenüber einem Angriff, zu dessen Ab¬
wehr die Stelle, an der er erfolgte, keinen Raum bot.
Eine Eisenbahn durch die Sahara.
Von Adolf Fleischmann (München).
(Schluss.)
Die verschiedenen Probleme, die grosse Wüste
ganz oder teilweise unter Wasser zu setzen, die noch
vor nicht gar langer Zeit die Köpfe französischer
Ingenieure beschäftigten, scheinen verschwunden zu
sein, da man den Plan der Transsaharabahn wieder
aufgenommen hat, denn beides dürfte sich wohl gegen¬
seitig ausschliessen. Sie beruhten in einem Irrtum
in der Anschauung der Natur und des Charakters
der Wüste, der im grossen Publikum noch keines¬
wegs ganz beseitigt ist. Man meinte, die Sahara sei
eine zum grössten Teile unter dem Meeresspiegel
gelegene tiefe Ebene. Dies ist aber nicht der Fall.
Die Wüste ist weder eine Ebene, noch liegt ihr grösster
Teil tiefer als der Meeresspiegel, wenigstens jetzt nicht
mehr (s. u.). Im Gegenteil haben die neueren For¬
schungen, namentlich seit Nachtigals Reisen, er¬
geben, dass man es dort mit einem System von Hoch¬
ebenen zu thun hat. Dies gilt besonders von der ganzen
Strecke, auf welcher die Eisenbahn geplant ist. Felsiger
und harter Kiesboden ist viel vorherrschender wie der
Sand, und statt der Ebene findet man eine unge¬
ahnte Abwechselung von Berg und Thal. Die Ge¬
birge, welche sich nicht in der Wüste selbst, son¬
dern nördlich von ihr von West nach Ost zwischen
der Nordküste Afrikas und der Wüste hinziehen,
heben sich nicht aus weiten Ebenen hervor, sondern
bilden Terrassen, gleichsam Etappen des Weges zu
hoch gelegenen, mit einzelnen Gebirgsstöcken und
isolierten Berggruppen gezierten Ebenen in der Wüste,
welche von zahlreichen, w’asserlosen Flussthälern
durchschnitten sind. Diese fast durch 15 Breiten¬
grade und 25 Längengrade sich hinstreckenden
Wüstengegenden sind also grosse mit Sandbergen
und Sandflächen bedeckte Strecken. Sie bringen
die Vermutung hervor, dass einst bei der gewalt¬
samen Erhebung, welche die Gebirgskette im Nor¬
den und im Inneren der Wüste erzeugt haben muss,
weite, ungeheuere Ebenen in der angegebenen Gestalt,
in ihrer Gesamtheit unverändert mit erhoben worden
sein und dass im Laufe der Jahrtausende sich dann
aus der Verwitterung der Felsen und felsigen Ebenen
und unter dem Einflüsse der Stürme hier und dort
zusammenhängende Sandmassen hätten aufhäufen
mögen. Es stellen sich im ganzen westlichen Wüsten¬
gebiete, nicht minder im ganzen mittleren Teile
derselben, bis nach Fezzan hin, in Länge und Breite
variirende Züge oder vereinzelte und immer beweg¬
liche Dünen dar, und denkt man sich, von der Nord¬
küste her kommend, diese Anordnung in grossartigen
Dimensionen, so hat man eine von Westen nach
Osten sich hinziehende Gebirgskette vor sich, von
deren Höhen man nur ganz massig und allmählich
in die Sahara absteigt, wo sich dann, wie erwähnt,
die Massen dünenartiger Erhebungen gelben, san¬
digen Detritus ausdehnen und abermals terrassen¬
förmige Plateaus wüster Hammaden und kiesiger
Serirs auf einander folgen. In Fezzan und Tripolis
ändert sich dieser Charakter der Wüste; wir ver¬
zichten aber darauf, hier von dieser Veränderung
zu sprechen, weil die geplante Eisenbahn Fezzan
und Tripolis nicht berühren soll, vielmehr nur die
eben geschilderten Gegenden für sie in Betracht
kommen. Wir können aber nicht umhin, zur Cha¬
rakterisierung eben dieser letzteren eine kurze Er¬
zählung aus Nachtigals Reisewerk hier wiederzu¬
geben, welche deutlicher spricht, als alle Schilde¬
rungen. Er hatte nach langer Zeit endlich eine
Quelle gefunden, die er Brunnen nennt, und sagt:
»Die nächste Umgebung des Brunnens war bedeckt
mit gebleichten menschlichen Gebeinen und Kamel¬
skeletten. Schaudernd bemerkte ich bald in Sand
begraben die mumifizierten Leichname einiger Kin¬
der, welche noch mit den blauen Kattunfetzen be¬
deckt waren, die einst die Kleidung der Kinder ge¬
bildet hatten. Es scheint, dass auf dieser letzten
Station einer langen, trostlosen, schmerzensreichen
Reise die armen Kinder der Negerländer in auf¬
fallend grosser Anzahl ihren Tod finden. Die lange,
bei unzureichender Nahrung und sparsamem Wasser-
genusse zurückgelegte Reise, der Gegensatz zwischen
der hilfsquellenreichen Natur und der feuchten At¬
mosphäre ihrer Heimat und der zehrenden trockenen
Wüstenluft, die Anstrengungen und Entbehrungen,
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Eine Eisenbahn durch die Sahara.
4 2I
welche ihre Herren und die Umstände ihnen auf¬
erlegen, haben die Kräfte der jugendlichen Organis¬
men allmählich aufgezehrt — langsam erlöschen ihre
Lebensgeister unter dem vernichtenden Einflüsse der
Sonnenstrahlen, des Hungers und des Durstes.«
Ganz verschieden von dieser eigentlichen grossen
Wüste ist die sogenannte Vorwüste, in welcher Bis-
kräh liegt. Diese Wüstengegend hat eine Reihe
der schönsten und üppigsten Oasen aufzuweisen,
die es möglich machen, dass Industrie, Handel und
Gewerbe getrieben werden können. Und so war
denn auch der Bau der Eisenbahn bis zu dieser Stadt
möglich. Von jenen vegetationsreichen und mit
aller Pracht der Tropen ausgestatteten Oasen sieht
man nach Süden hin im schroffsten Gegensatz zu
den landschaftlich reizenden Oasenbildern die fahlen
Sandhügel der eigentlichen Wüste sich traurig am
Horizont mit ihren Steigungen und Senkungen hin¬
ziehen.
Denken wir uns nun den Schauplatz der fran¬
zösischen Eisenbahnpolitik als ein grosses unregel¬
mässiges Viereck, dessen südliche Seite wir von
Kuka am Tsad bis nach Timbuktu ziehen, während
die westliche von hier in nördlicher Richtung nach
Oran,die nördliche von Oran nach Constantine und die
östliche von hier in südlicher Richtung wieder an
den Tsad laufen würden, — denn dieser See und
Timbuktu sind, wie wir vorhin sahen, jener das
nächste und dieses das vorläufig ferner liegende Ziel
der französischen Eisenbahnpolitik — so erkennt man,
dass der Schauplatz der letzteren gerade in denjenigen
Teil der echten grossen Wüste fällt, dessen traurigen
und unwirtlichen Charakter wir soeben zu schildern
versucht haben, und der nur durch die beiden grössten
Oasen von Tuat und Asben unterbrochen wird.
Wir dürfen also nicht unterlassen, auch von ihnen
hier ein Bild zu entwerfen.
Tuat ist der Landstrich zwischen 27 und 30°
nördlicher Breite und 17—20 0 östlicher Länge, ein
Zufluchtsort für alle Karawanen, die mit ihren Ka¬
melen die Sahara durchwandern, etwa von der
Grösse Siziliens mit ungefähr 300000 Einwohnern,
rings vom echten Wüstenland umgeben. An eine
scharfe und genaue Abgrenzung darf man freilich
bei diesem Flächeninhalte nicht denken. Während
in dieser Umgebung den Tag über die Hitze in den
seltenen Schattenorten nie unter 40 °, zur Nachtzeit
nicht unter 25 0 beträgt, so dass sich alle Gegen¬
stände heiss anfühlen, ist die Temperatur in Tuat
viel gemässigter, beträgt bei Tage im Schatten durch¬
schnittlich 25 0 und sinkt zur Nachtzeit zuweilen
unter o; Krankheiten wie Brustleiden, Schwindsucht,
Rheumatismen und Gicht, mit welchen letzteren fast
alle Bewohner behaftet sind, kommen daher als Folgen
von Erkältungen sehr häufig vor. Ein Fluss, Saura,
der aus den Bergen Marokkos kommt, die einzige
Wasserader der Gegend, führt zwar nur nach den
stärksten Regengüssen reichlich Wasser in seinem
Bette, scheint aber unterirdisch das ganze Jahr hin-
Ausland 189a. Nr. 27.
durch Wasser zu haben. Tuat ist ein Komplex
mehrerer teils grösserer, teils kleinerer Oasen, die
nicht Zusammenhängen, sondern von Steppen und
Wüstenland unterbrochen sind. Ihre Fruchtbarkeit
ist zwar im Vergleich zur toten Natur der sie um¬
gebenden Wüste sehr gross, aber dennoch lange
nicht ausreichend zur Ernährung ihrer Bewohner.
Die sogenannte Fogaras, nicht etwa die Möglichkeit
leichter und reichlicher Berieselung des Landes, er¬
zeugen diese Fruchtbarkeit; Fogaras sind Quellen oder
Brunnen, die in einer Tiefe von etwa 2 1 /* Fuss
reines, wahrscheinlich durch den Sandboden filtriertes
Wasser in örtlich sehr verschiedener Menge haben.
Der Sand wird aufgescharrt und man findet dann
zuweilen so reichlich Wasser, dass man, wie Rohlfs *)
erzählt, in einer Stunde mehrere hundert Kamele
tränken kann, was aber eine Uebertreibung zu sein
scheint. Es werden zwar verschiedene Getreidearten
gebaut: Gerste, Weizen und das Bischna, eine Frucht,
die im August gesäet und im Oktober geerntet wird;
Korn aber so wenig, dass der Bedarf zum grössten
Teil vom nördlich gelegenen französischen Frucht¬
lande, dem Teil, bezogen werden muss. Die Haupt¬
nahrung des geringen Volkes liefern die Dattel- und
Palmenbäume. Aus letzteren wird auch das nötigste
Bauholz genommen. An Gemüsen baut man die
rote und weisse Rübe, Kohl, Kürbisse, Zwiebeln,
Knoblauch und Bohnen. Tiere eigener Art gibt
es nicht, die meisten kommen vom Norden her.
Rinder sind gar nicht, Pferde nur in kleiner Anzahl
vorhanden; Weidenfutter fehlt.
Die Zahl der Städte und Dörfer in Tuat ist
gering; noch geringer in allen anderen Gegenden
der Sahara. In Tuat sind Timimun, Adrhar und
Tamentit die einzigen nennenswerten Städte und Markt¬
plätze, deren Einwohnerzahl je 4—5000 nicht über¬
steigt, von der durch viele Abbildungen bekannten
Bauart, meist Lehmhütten, von Palmengärten um¬
geben, oder hier und da von einzelnen Palmengärten
spärlich beschattet. Die Bewohner sind teils Araber, teils
Eingeborene, beide stark gemischt mit dem Neger¬
blute des Sudan; sie sind friedlicher und ehrlicher
als die sie umgebenden Völkerstämme, aber als eifrige
Mohamedaner so sehr dem blindesten und düstersten
Fanatismus ergeben, dass der christliche Reisende
für sein Leben alles zu befürchten hat, solange nicht
eine kriegerische Okkupation des Landes, etwa seitens
der Franzosen, den Fanatismus, der selbst in den
ersten Familien heimisch ist, unterdrückt und un¬
schädlich macht.
Die etwa 100 Meilen südöstlich gelegene Oase
Asben, viel kleiner als Tuat, ist in den meisten der
soeben erwähnten Beziehungen den Tuat-Oasen so
ähnlich, dass wir es unterlassen können, sie näher zu
besprechen. Wir beschränken uns daher darauf, jetzt
noch zunächst einiges über die Wassergewinnung
innerhalb der echten Wüstengegenden, welche die
*) Rohlfs, Reisen in Marokko, S. 133.
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Eine Eisenbahn durch die Sahara.
Sahara-Eisenbahn durchschneiden müsste, mitzuteilen,
da für die Anlage der letzteren und für die damit
beschäftigten Menschen das Wasser doch wohl einer
der allerwichtigsten Faktoren genannt werden muss.
Bisher sind es nur Karawanenzüge gewesen, in
welchen die Menschen mit der Wüste in Berührung
gekommen sind. Den grössten Teil der Reise legten
sie auf ihren Kamelen sitzend oder zu Fuss zurück
und was dabei schon zu leiden und zu dulden ist,
gehört zu den bekanntesten, in kurzen Zügen vor¬
hin geschilderten Dingen. Wesentlich anders aber
gestaltet sich jene Berührung, wenn es sich um Eisen¬
bahnbauten, um schwere Arbeit mit Spaten, Schaufel
und Karren u. dergl. handelt.
In jenen Wüstengegenden, in der Central-Sahara,
regnet es fast nie, selbst kaum beim Gewitter, das über¬
haupt selten ist; desto häufiger wird wetterleuchten¬
der Himmel beobachtet. Der vorherrschende Ost¬
wind bringt keine Wolken und wenn ausnahmsweise
der Westwind vom Ozean her Wolken herbeiweht,
so werden sie durch die vom Boden ausstrahlende
Hitze aufgelöst, ehe sie sich zu Regen verdichten
können. Von einzelnen Brunnen mit geringem
Wassergehalte abgesehen, ist bis jetzt von Wasser¬
gewinnung keine Rede; brauchte man an einem be¬
stimmten Ort Wasser in grösseren Massen, nicht
bloss zum Trinken und Tränken, so müssten erst
Kanäle gegraben und gebaut werden, die es aus den
Oasen herbeiführen. Aber der Wasserreichtum der
Oasen im allgemeinen ist auch nicht gross. Sie
haben, wenn man sie in dieser Beziehung schemati¬
sieren wollte, folgende Wasser verhält nisse:
1. Oasen mit natürlicher Bewässerung,
a) oberirdisch (der seltenste Fall),
b) unterirdisch fliessendes Wasser.
Zu denen sub a gehören die nördlichsten. Zu
denen sub b die südlicheren, namentlich die meisten
von Tuat. Jene, sub a, sind die am besten situierten
und finden sich nur an den Ausgängen grosser Ge¬
birge, z. B. am Südabhange des Atlas.
2. Oasen mit künstlicher Bewässerung. Sie
besitzen
a) Quellen, die aus der Erde hervorsprudeln,
b) oder unterirdisch fliessendes Wasser schon
in der Tiefe von 1—2 Fuss,
c) in anderen muss das Wasser aus einer Tiefe
von 12—30 Fuss heraufgefördert oder
d) es muss aus der Ferne durch künstliche Lei¬
tung hingeführt werden. In der algerischen, also noch
nicht in der eigentlichen Wüste, die den Tuat und
Asben umgibt, haben es die Franzosen allerdings zu
artesischen Brunnen gebracht, welche das Wasser
wie eine natürliche Quelle aus einer Tiefe von 500 Fuss
hervorsprudeln lassen. Weiter südlich wird ihnen
etwas Aehnliches nicht gelingen. Wo nun in den
Oasen sub ib oder sub 2 a, b durch Menschen¬
kräfte das Wasser aus der grösseren oder geringeren
Tiefe, aus Quellen oder fliessendem Wasser, herauf- 1
geholt werden muss, ist bis jetzt das Verfahren in
Gebrauch, dass entweder durch Menschenhände das
Wasser in hölzernen und ledernen Eimern oder durch
Räder, ein vertikales und ein horizontales, die in
einander greifen, heraufgeholt wird. Um das verti¬
kale Rad läuft ein langes Tau, an dessen Ende Töpfe
befestigt sind. Das Tau lässt die letzteren hinab
und windet sie, wenn sie vollgeschöpft sind, wieder
herauf. Die Triebkraft der Räder sind Kamele,
Esel, Maultiere, hier und da Rinder und Pferde. Eine
dritte Art, das Wasser aus der Tiefe herauszuholen,
ist eine arabische Erfindung. Ist der Rand der Brun¬
nen oder Wasserlöcher nämlich schräg geneigt, ent¬
weder natürlich oder erst so hergestellt — dann
lassen die Menschen, allein oder mit Hilfe von Tieren,
Schläuche hinab, die am einen Ende eine weite, am
anderen eine enge Oeffnung haben. Wenn sich der
Schlauch durch die weite Oeffnung gefüllt hat, ziehen
sie ihn langsam und vorsichtig in wagrechter Lage
herauf, dann senken sie ihn mit der engen Oeffnung
und lassen das Wasser herausfliessen. Wie beschwer¬
lich dies ist, leuchtet ein, da manche Schläuche nahezu
200 Liter Wasser halten und die Arbeit das ganze
Jahr fortgesetzt werden muss und zwar Tag und
Nacht, um nur so viel Wasser gewinnen zu können,
als für die Felder nötig ist. Endlich hilft man sich
auch jetzt schon selbst in den Oasen mit Kanälen
und einem ganzen Kanalsystem. Wenn man näm¬
lich Wasser an unkultivierten, steinigen Stellen, ent¬
fernt vom Kulturlande, antrifft, hat man Kanäle von
etwa zwei Fuss Durchmesser und oft mehrere tau¬
send Schritte Länge angelegt. Damit das Wasser
nicht durch die trockene heisse Luft verdunstet,
müssen die Kanäle unterirdisch dahingeführt werden,
wo man es braucht. Meist ist aber das an einer
Stelle gefundene Wasser nicht ausreichend für den
Bedarf und man sucht in der Umgegend nach wei¬
teren solchen Quellen, die man dem Hauptkanale
durch Seitenkanäle zuleitet. Auch die Oeffnungen,
in welche die Arbeiter beim Ausgraben der Kanäle
hinabsteigen, pflegen mit grossen Steinen zugedeckt
zu werden, damit keine Luft Zutritt, die das Wasser
aufsaugt 1 ). Wo nun dieses zur Berieselung die¬
nende Wasser erst in der eben geschilderten Art
aus Quellen herausgeholt werden muss, werden
die Felder durch Herausschaffung des Erdreiches
vertieft, eine Arbeit, welche immer wiederholt wer¬
den muss, denn durch den Dünger und den hinge¬
wehten Sand werden die Vertiefungen wieder aus¬
gefüllt. Und gerade solche Oasen sind am stärksten
bevölkert, weshalb eine sparsame, genau nach der
Zeit geregelte Verteilung des Wassers geboten ist,
um für alle Felder nur notdürftig auszureichen.
Mit Ausnahme des schon erwähnten von Nor¬
den kommenden Saura gibt es in der echten Wüste
auch keine Flüsse. Erst am südlichen Ende der¬
selben tritt das Flussgebiet des Niger und der nach
*) Rohlfs, Quer durch Afrika, I, S. 210 ff.
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Eine Eisenbahn durch die Sahara.
423
Norden ausspringende grosse Bogen dieses Stromes bei
Timbuktu an die Wüstengegenden heran. Oasen,
die aus Flüssen bewässert werden können, finden
sich nur im Norden, namentlich am Südabhange
des Atlas. Aber auch in diesem günstiger situierten
Teile der Sahara werden die Flüsse im weiteren
Verlaufe durch die starke Verdunstung immer wasser¬
ärmer; auch der Draa, der vom Atlas herab wohl¬
genährt durch Tafilelt strömt, nimmt diesen Verlauf;
er erreicht den Ozean nur in Jahren, in denen ausser-
gewöhnlicher Regenfall und geschmolzener Schnee aus
dem Gebirge ihn verstärkt. In anderen Jahren trocknet
er schon vor seiner Mündung aus. Andere Flüsse
treten bei anhaltender Regenzeit aus den Ufern und
bilden dann Sümpfe und Seen.
Ueber den Ursprung des unterirdischen Wassers
hat die Wissenschaft noch keine Klarheit gewonnen.
Wir müssen aber in Bezug hierauf der vorliegenden
Besprechung um so mehr noch einiges über die
Streitfrage, ob die Sahara ursprünglich von Wasser
überflutet war, beifügen, als diese für das Eisenbahn¬
projekt der Franzosen, welches immer von den
Wasser Verhältnissen bedingt sein wird, nicht ganz
gleichgültig ist und mit Ursprung und Natur jenes
unterirdischen Wassers im Zusammenhänge stehen
dürfte.
Dass in historischer Zeit die Sahara nicht mit
Wasser bedeckt war, versteht sich zwar nicht von
selbst, denn die Griechen und Römer wussten vom
Inneren Afrikas äusserst wenig; aber wohl scheint
nach Herodots Erzählung die Wüste schon lange
vor seiner Zeit Wüste gewesen zu sein, da er vom
Hohenpriester des Jupiter-Ammontempels erfahren
hatte, fünf Jünglinge hätten »die Wüste« durch¬
zogen. Dass in prähistorischer Zeit die ganze Sahara
vom Meere bedeckt gewesen sei, soll nach einer in
der Gegenwart sehr verbreiteten Ansicht, besonders
deshalb ausser Zweifel sein, weil zahlreiche Muscheln
und Versteinerungen dort gefunden worden sind und
die ersteren zum Teil solchen Tieren angehören,
die heute noch in angrenzenden Meeren leben. Ferner
sollen die kolossalen Sanddünen von der einstigen
Ueberflutung des Bodens zeugen. Dagegen vertreten
die französischen Gelehrten Vatonne und Du-
veyrier, deren Meinung auch heute noch viele An¬
hänger zählt, die Theorie: es habe an Ort und Stelle
eine noch gegenwärtig fortwirkende chemische Zer¬
setzung der Gesteine stattgefunden, die Dünen seien
weder durch Wasserfluten abgelagert, noch durch
Wind und Stürme zusammengehäuft worden 1 ). Die
erstere Meinung nimmt als Grund, warum das ehe¬
malige Wasser später geschwunden sei, allmähliche,
wahrscheinlich vulkanische Erhebungen des Bodens
an, wie es auch anderwärts vorgekommen; dann
habe der Wind, namentlich der Ostwind, den trocken
*) Nach K. v. Zittels abschliessenden Forschungen war
seit der spättertiären Zeit die eigentliche Wüste sicherlich nicht
mehr unter Wasser. Die Red.
gelegten Sand zu den Dünen zusammengeweht, was
aus der Gestalt derselben deutlich zu erkennen sei,
sie glichen starr gewordenen Wellen und Wogen im
grossen Sandmeere der Wüste. Man sei wohl zu
dem Schlüsse berechtigt, dass einst unter anderen
topographischen Verhältnissen das Klima in der
Sahara ein ganz anderes gewesen, dass reichlicher
Regen gefallen sei, der die Flüsse mit Wasser ge¬
füllt und der eine Vegetation erzeugt hätte, von
welcher die Versteinerung ganzer Wälder, wie man
sie vorgefunden, deutlich Zeugnis ablege 1 ). Wir
verzichten darauf. Gründe und Gegengründe für und
gegen diese beiden einander gegenüberstehenden
Theorien hier zu erörtern. Von einigem Gewichte
sind aber zwei Erscheinungen: einmal der Reich¬
tum der Sahara an ausgetrockneten Seebecken, ja
sogar an Seen. Den Boden der ersteren — sie
heissen Sebcha — bedecken Sumpf und Schlamm
mit einer harten Kruste von salziger Erde, oder rei¬
nem Salz. Diese Sebcha sind oft von so grosser Aus¬
dehnung, dass inselartig Oasen darin Vorkommen.
Die letzteren, die Seen, setzen bedeutende unterirdische
Zuflüsse voraus, um bei der grossen Verdunstung
ihr Wasser, wenigstens einen Teil des Jahres hin¬
durch, zu behalten. Man wird wohl annehmen dürfen,
einmal, dass die unterirdischen Wasser mit der ehe¬
maligen Ueberflutung der Sahara, vielleicht auch mit
dem Ozean in einem freilich noch nicht ermittelten
Zusammenhänge stehen, und dass diese unterirdi¬
schen Wassermassen sich in ihrer Richtung immer,
wenn auch nach einem noch unbekannten Gesetze
verändern dürften. Auf ein solches Gesetz deutet
die zweite jener Erscheinungen, nämlich die Wahr¬
nehmung, dass in Mittelafrika die Verbreitung der
Pflanzen von Süden nach Norden im steten Fort¬
schreiten begriffen ist. Wir wollen zwar dieser Wahr¬
nehmung kein allzu grosses Vertrauen entgegenbringen,
denn man wird dabei in Erwägung ziehen müssen,
dass es sich dort um ungeheuere Flächenräume han¬
delt, dass allein schon die Sahara mit 114600 deut¬
schen Quadratmeilen, also zehnmal so gross als
Deutschland, angegeben wird. Wir bezweifeln, dass
bei solch einer Ausdehnung jenes von Süden nach
Norden angeblich wahrgenommene Fortschreiten einer
gewissen Vegetation mit einiger Sicherheit festge¬
stellt werden kann. Auch ist die Grenzbestimmung
der Sahara nach einer bestimmten Linie nicht
wohl möglich. Rohlfs meint scherzhaft, die
Grenze werde am sichersten durch den Floh ange¬
zeigt; wo dieses Tierchen davon abstehe, die Rei¬
senden zu begleiten, da beginne die Sahara, die Re¬
gion der absolut trockenen Atmosphäre. Aber immer¬
hin führte die behauptete Wahrnehmung zu inter¬
essanten Hypothesen. Man findet es, wenn sie be¬
gründet, gar nicht unwahrscheinlich, dass einst auch
der Sandboden der Sahara sich in Humus umwan¬
deln und mit Wäldern bedecken werde. Indem dann
*) Rohlfs, a. a. O., S. 212.
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424
Zur mittelalterlichen Ethnographie.
regelmässige feuchte Niederschläge von Central-Afrika
weiter nach Norden vorrücken — mögen auch noch
Tausende von Jahren darüber hingehen — werde
die grosse Wüste auf hören, eine Wüste zu sein;
dann werde (nach einem Ausspruch Desors) »die
Sahara das sein, was sie niemals war, eine Gras¬
steppe, eine mit Savanen bedeckte Ebene (?), oder
ein Kulturland; dann werden auch unsere Alpen erst
zu ihrem wahren Klima gelangen, einem verhältnis¬
mässig kälteren, als das gegenwärtige, aber doch
milderen, als sie früher (zur Eiszeit) gehabt haben«!
Wir dürfen vielleicht dieser Hypothese noch die
weitere beifügen: Dann wird auch die Zeit gekom¬
men sein, wo man mit mehr Sicherheit den Plan
einer Eisenbahn durch die Sahara entwerfen und
auf die Möglichkeit seiner Ausführung mehr hoffen
kann, als gegenwärtig.
Werden wohl die Franzosen auf diesen Zeit¬
punkt warten?
Es wäre von grossem Interesse für die Wissen¬
schaft, wenn, was unseres Wissens noch nicht ge¬
schehen ist, die drei vorhin erwähnten Gutachten über
den Plan einer Sahara-Eisenbahn veröffentlicht wür¬
den, denn man kann sich ein solches Gutachten doch
nur als das Ergebnis der sorgfältigsten Terrainunter¬
suchungen denken und diese setzen eine so gründ¬
liche Durchforschung der Sahara seitens der Tech¬
niker voraus, dass sie in ihrem aus sich selbst er¬
gebenden, wenn auch in erster Linie nicht für die
Wissenschaft berechnetem Werte alle bisherigen For¬
schungen der Reisenden übertreffen und für die Zu¬
kunft unnötig erscheinen lassen müssten. Wir können
daher bei gegenwärtiger Unterhaltung nicht unter¬
lassen, mitzuteilen, was Dr. Oskar Lenz in seinem
zweibändigen Reisewerk über Timbuktu in Bezug
auf die Eisenbahnpolitik der Franzosen sagt. Wäh¬
rend die Reiseberichte Dr. Nachtigals, Rohlfs u. a.,
denen wir mehrfach unsere vorstehenden Mittei¬
lungen entnommen haben, hierüber schweigen, fin¬
den wir in O. Lenz’ Werk eine bedeutende Autorität
für den skeptischen Standpunkt, den wir dem fran¬
zösischen Eisenbahnprojekt gegenüber eingenommen
haben. Er betrachtet die Hindernisse, die sich ihm
entgegenstellen, sowohl von ihrer politischen, als
auch von ihrer technischen und sanitären Seite.
Wenn auch die französischen Militärposten ziemlich
weit nach Süden hinabreichen, so ist doch der Ein¬
fluss der Regierung in diesen Gegenden noch ein
sehr beschränkter. Auch nur Vorarbeiten für eine
Eisenbahn auszuführen, wird wegen der Feindselig¬
keit und des Fanatismus der Bevölkerung höchstens
bis El Golea, weiter südlich aber bestimmt nicht
mehr möglich sein, solange das Land nicht unter¬
jocht ist. Dasselbe gilt in noch höherem Grade von
Tuat, wo die Feindseligkeit der Bewohner gegen
Christen die denkbar grösste ist. Alle Verträge,
welche die Franzosen bis jetzt mit den Völker¬
schaften von Tuat abgeschlossen haben, sind von
diesen gebrochen worden und ohne irgend ein Er¬
gebnis gewesen. »Wenn es nun schon ungemein
schwierig für Einzelreisende ist, Tuat zu erreichen,
um wie viel mehr Hindernisse werden sich einer
Kolonne von Ingenieuren, Soldaten u. s. w. ent¬
gegenstellen, welche beauftragt ist, die sorgfältigsten
Terrainstudien und Vermessungen vorzunehmen, wie
sie zur Anlage von Eisenbahnen notwendig sind!
Von allen Seiten her drohen die Schwierigkeiten:
im Westen hat man die fanatischen Araber und
Berber des südlichen Marokko in den Oasen¬
gruppen von Figig und Tafilelt und im Osten
das unter türkischer Herrschaft stehende Fezzan mit
bedeutenden Handelsplätzen. Im Süden aber ist das
fast ganz unbekannte Gebirgsland Ahaggar, dessen
Bewohner, fast ausschliesslich Tuareg, sich bisher
am erfolgreichsten gegen europäische Eindringlinge
gewehrt haben und die den französischen Unter¬
nehmungen den ernstesten Widerstand bereiten wür¬
den.« Was die technischen Schwierigkeiten betrifft,
so weist Lenz hauptsächlich auf den Mangel und
mehr noch auf die ungünstige Verteilung des Wassers
und auf den Umstand hin, dass innerhalb der Dünen¬
komplexe, der oft sehr langen und breiten Reihen
von Sandbergen, immer Veränderungen in der Kon¬
figuration der Kämme und der Lage der Berge zu
einander eintreten, die einen festen Bahnkörper zu
errichten kaum gestatten, alles Hindernisse, deren
Ueberwindung selbst der modernen Technik nicht
gelingen würde, ganz abgesehen von noch zahl¬
reichen anderen unberechenbaren und unkontrolier-
baren Schwierigkeiten. In sanitärer Beziehung ist
das Klima zwar nicht für eine Eisenbahn selbst,
wohl aber für diejenigen von der grössten Bedeu¬
tung, die sie bauen und später benutzen sollen. End¬
lich würde wohl von einer Rentabilität der Bahn
auf Decennien keine Rede sein können; selbst die
Verzinsung des enormen Anlagekapitals würde man
kaum erhoffen können und die jährlichen Erhaltungs¬
kosten der Bahn würden bei weitem nicht gedeckt
werden. So weit Lenz.
Lägen die Verhältnisse ebenso günstig, wie sie
thatsächlich ungünstig liegen, so würde die Ausfüh¬
rung des französischen Planes eine erhebliche Macht¬
erweiterung Frankreichs überhaupt zur Folge haben.
Thatsächlich aber erscheint dieselbe noch nicht als
bedrohlich.
Zur mittelalterlichen Ethnographie.
Von Fr. Guntram Schultheiss (München).
In Nr. 12 des »Auslands« hat Herr Dr. Georg
Steinhausen die merkwürdige Ebstorfer Weltkarte
eingehend besprochen und ihre Stellung zur mittel¬
alterlichen Geographie und Ethnographie hervor¬
gehoben. Die nachfolgenden Zeilen machen keinen
höheren Anspruch als den einer teilweisen Ergänzung
der trefflichen Bemerkungen, zu der schon die Be¬
merkung Anlass bieten darf, dass auf der Karte die
Amazonen zweimal eingetragen sind. Es zeigt sich
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Zur mittelalterlichen Ethnographie.
eben gleich bei dieser Gelegenheit, dass die mittel¬
alterliche Ethnographie weit weniger kartographische
als litterarische Tradition ist; und vielleicht ist es
überhaupt fraglich, wie weit von der ersteren ge¬
sprochen werden kann. Denn die Fabel von den
Amazonen des hohen Nordens J ), deren Blüte bei
Adam von Bremen, IV, 19, sich zeigt, hat Müllen-
hoff (Deutsche Altertumskunde II, 10) ohne Zweifel
mit Recht auf ein Spiel der Volksetymologie zu¬
rückgeführt, die aus dem Namen der Quänen, Kai-
nulaiset, das germanische Wort für Weib heraus¬
hörte, da altnordisch kvenir, angelsächsisch cvfinas,
der Name dieses Volkes, an das gotische quinö,
angelsächsische cvene (englisch quean), althochdeutsch
quena, und die andere Form gotisch quens, alt¬
nordisch kvan, angelsächsisch cven [queen, Königin])
anklang, wodurch sich die Erwähnung einer Frauen¬
herrschaft bei Tacitus, Germ. c. 45, erklären könnte.
(»Suionibus Sitonum gentes continuantur. Cetera
similes uno differunt, quod femina dominatur.«) Solche
Dinge haben ein zäheres Leben, als Wahrheiten,
besonders wenn sie sich wie hier immer wieder neu
bilden können. Paulus Diaconus, der schon ein
ganzes Volk von Amazonen dort nennt, scheint sich
auch auf mündliche Ueberlieferung berufen zu wollen
(Hist. Langobardorum I, 15 referri audivi). Adam
von Bremen aber lässt das Ueberwuchern der lit-
terarischen Tradition nicht verkennen. Ihre Fort¬
pflanzung, sagt er, soll nach einigen durch Wasser¬
trinken vermittelt sein, nach anderen durch an¬
wandernde Händler oder durch Sklaven; er selbst hält
es für glaubenswürdiger, dass die monstra, die dort
nicht selten seien, dazu dienlich seien. Die männlichen
Geburten sind Hundsköpfe, die weiblichen überaus
schöne Weiber. Gefangene Hundsköpfe würden in
Russland häufig gesehen. Adam von Bremen, der
doch sonst seine Erkundigungen so gewissenhaft
einzog, glaubt also daran so fest, wie seine Zeitge¬
nossen, z. B. Bernold von St. Blasien im Schwarz¬
wald, der von den böhmischen Hilfstruppen Hein¬
richs IV. erzählt, dass sie die Gefangenen zuletzt
an die Hundsköpfe zum Frass verkauften (Chronicon
1077, Monumenta Germaniae tom. V, 434). Diese
Hundsköpfe aber sind doch kaum etwas anderes,
als eine jeder Kritik sich entschlagende Uebertragung
aus der fabelhaften Ausschmückung der Ostländer,
wie sie sich in der litterarischen Tradition an den
Zug Alexanders nach Indien angesetzt hat 2 ). Die
mittelalterliche Ethnographie steht eben unbedingt
*) Vgl. auch Peschei, Geschichte der Erdkunde, S. 90.
2 ) Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde, II, 49, neigt
dazu, sie auf »Scherz und Neckerei* zurückzuführen, die aus
Pelzbekleideten Leute mit »Menschengesichtern, aber Gliedtnaassen
wilder Tiere« gemacht hätten. »Leicht wurden daraus die
Schreckbilder hundsköpfiger Popanze und Bluttrinker.« Aber
gerade der Hundskopf ist eben doch das Charakteristische, und
wenn schon bei Paulus Diaconus, I, 11, die Langobarden
hundsköpfige Bluttrinker aus dem Norden mit sich bringen, so
wird das eben Gelehrte Zuthat zur Volkssage sein können, die
als willkommene Bereicherung erscheinen wird.
425
unter dem Einfluss der Nachrichten der Alten, die
Beobachtung tritt völlig zurück hinter der oft bis
zum Unbegreiflichen geistlosen Mosaikarbeit. Es
ist noch zu verzeihen, wenn z. B. Regino im
9. Jahrhundert die Magyaren von den Skythen her¬
leitet; aber dann schreibt er die Schilderung ihrer
Sitten aus des Justinus Philippischen Geschichten
ab; seine Nachricht über die Menschenmenge der
nördlichen Völker nimmt er von Paulus Diaconus;
die Kampfweise der Ungarn wieder aus Justins
Schilderung der Parther. Matthäus von Paris, im
13. Jahrhundert, der ein umfängliches und sonst
sehr wertvolles Geschichtswerk über seine Zeit
schreibt, nennt beim Feldzug Wilhelms von
Holland gegen die Friesen die Sauromaten deren
Nachbarn, wie es scheint, nur um einen Vers aus
Juvenal anzubringen (Mon. 28, S. 357).
Gegenüber den ethnographischen Kenntnissen
des Altertums ist diese Arbeitsweise ein Rückschritt,
die Verwirrung musste sich steigern, indem auch die
christlich-kirchlichen Vorstellungen eindrangen. Gog
und Magog mussten ja auch untergebracht werden,
da ihre Wirklichkeit doch keinem Zweifel unterliegen
konnte. Isidor von Sevilla leitet ganz unbefangen
die Goten davon ab, wegen der Aehnlichkeit des
Namens; später verfügt man anders über sie. Wie
konnte es an Schwankungen der Auffassung fehlen:
Aufzeichnungen des 10. Jahrhunderts machen die
Magyaren zu Hagarenern, also Nachkommen der
Hagar, die doch nach der biblischen Erzählung
Semiten wären; der spätere Verfasser der grossen
St. Galler Klosterchronik (Cas. S. Galli, ed. Meyer
vonKnonau, c. 82) erklärt sich in kritischer Regung
dagegen. Was dabei vorschwebt, ist der allgemeine
Gegensatz von Christen und Heiden, der alle ethno¬
graphischen Unterschiede austilgt. InderGudrun tritt
ein Mohrenkönig Siegfried auf: zu seiner Erklärung
hat man auf einen Normannenhäuptling zu Ende des
9. Jahrhunderts hingewiesen, da zur Zeit der Kreuz¬
züge thatsächlich die heidnischen Normannen in
grosser Unbefangenheit mit den Sarazenen und
Mauren verwechselt wurden. Neben solchen Dingen,
wie sie in der mittelalterlichen Dichtung, also in der
Auffassung der nicht eigentlich gelehrten Kreise öfter
sich finden — wie z. B. auch das Lied von Troja des
Herbort von Fritzlar alte und neue Völker bunt
durch einander wirrt — darf man freilich die Gegen¬
stücke unserer Zeiten nicht übersehen. Der Einfluss
des Bibellesens hat die verlorenen zehn Stämme nicht
nur unter den Indianern suchen lassen. In England,
seit die Puritaner sich so ganz ins alte Testament
eingelebt haben, dass sie sich als die Beschnittenen
gegenüber den Ismaeliten der Hochkirche zu be¬
zeichnen keinen Anstand nahmen, konnte in weiten
Kreisen die Meinung sich einwurzeln, dass die Eng¬
länder Abkömmlinge der zehn Stämme seien!
Solcher Tollheit gegenüber erscheint die mittel¬
alterliche Ethnographie fast rationalistisch. Adam
von Bremen zählt unter den Bewohnern von Jumnc
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426
Zur mittelalterlichen Ethnographie.
bei Wollin neben Slawen auch Griechen auf (II, 19),
aber er leitet auch den Namen des Baltischen Meeres
von baltfcus, der Gürtel, ab, es erstrecke sich in
langem Zuge durch die skythischen Gegenden bis
nach Griechenland (IV, 10 in drei Handschriften).
Das Wort ruft die Vorstellung hervor und der
Aberglaube, im Worte die Sache zu haben, ist der
tiefste Grundzug des mittelalterlichen Denkens bis
zur verstiegensten Scholastik. »Mit Worten lässt
sich trefflich streiten, mit Worten ein System be¬
reiten«. Das Grundbuch, die wahre Quelle der mittel¬
alterlichen Ethnographie, ist bezeichnenderweise des
Isidor von Sevilla Werk »libri etymologiarum sive
originüm«. Daher stammt eine Reihe von Sätzen, die
immer wieder abgeschrieben wurden oder wenigstens
als Muster und Vorbild dienten, dass die Gallier
wegen ihrer weissen Farbe so heissen, weil 7dXa
griechisch die Milch ist (lib. 9, c. 2, n. 104), dass
die Pikten so heissen, weil sie tätowiert sind, picti!
(lib. 19, c. 23, 11. 7). Die Germanen heissen nach
ihm so wegen der immania corpora, nach anderen
a germinando populos; eine Deutung, die mehr
Glück hatte. Sie ist auch in einem weitverbreiteten
und vielfach verarbeiteten geographisch-ethnographi¬
schen Abriss, der Imago mundi des Honorius Au-
gustodunensis (wahrscheinlich zu Anfang des
12. Jahrhunderts) aufgenommen. Gleichen Wertes ist
die Ableitung des Namens der Alamannen vom lacus
Lemannus, wobei es wohl ganz gleichgültig ist, ob
man dabei an den Genfer See oder an eine Ver¬
ballhornung des ßodensees, Bodmannssees denken
will. Der Erfinder war jedenfalls froh, nur über¬
haupt eine Etymologie zu haben, wenn man solche
Spielereien so heissen will.
Andererseits hatte aber auch die Völkerwande¬
rung, die Mischung von germanischen Völkern unter
die Romanen, die ethnographischen Grenzen und
auch Begriffe verwischt und zerstört. Die von
Tacitus überlieferte genealogische Einteilung der
Germanen in Ingävonen, Istävonen, Herminonen ist
schon in der sog. fränkischen Völkertafel um 520
(jetzt Mülle n ho ff, Deutsche Altertumskunde, 3. Band
[1892], S. 325—328) durch einander gebracht;
Istio ist der Stammvater der Römer, Brittonen,
Franken und Alemannen, Erminus der der Goten,
Vandalen, Gepiden und Sachsen. Bald beginnt
die gelehrte Aftersage vom gemeinsamen Ursprung
der Franken und Römer von den Trojanern sich
auszubreiten und zu wuchern, deren Anfänge zu
entwirren erst nach wiederholten Anläufen und
Bemühungen gelungen ist. Eine unwissende und
gedankenlose Geschichtsklitterung des 7. Jahr¬
hunderts hat, Zeiten und Völker durch einander
werfend, aus den Phrygiern einer älteren Chronik
kurzweg Franken gemacht 1 ). Trotz seiner Bedenk¬
lichkeit wird dieser Einfall nach und nach zum In-
*) Vgl. Hccger, Trojancrsiige, Landauer Gymnasial-
programm 1891.
ventarstück ethnographischer Auffassung, ja er er¬
hält geradezu politische Bedeutung für die Recht¬
mässigkeit des mittelalterlichen römischen Kaisertums,
worauf nicht näher einzugehen ist. Seitenstücke
dazu sind die Ableitungen der Franken und auch
der Sachsen vom Heere Alexanders des Grossen;
das erstere frühzeitig abgestorben (zuletzt wohl in
Otfrieds von Weissenburg Evangelienharmonie);
das zweite bei sächsischen Chronisten und im sog.
Sachsenspiegel, dem deutsch geschriebenen Rechts¬
buch. Dazu gehört auch die Abstammung der Bayern
aus Armenien, die schon am Ende des 11. Jahrhunderts
zu belegen ist (Annolied, Vers 315). Es wird da
behauptet, dass in Armenien noch Deutschsprechende
gefunden würden. An Hermin oder Irmin als
Stammvater ist dabei nicht mehr zu denken: alle
Varianten und Abschriften der fränkischen Völker¬
tafel aus verschiedenen Jahrhunderten stellen die
Bayern zu den Nachkommen des Ingo, Ingus
oder Tingus.
Im Widerspruch zu diesen ethnographischen
Wunderlichkeiten befindet sich eine Reihe voa No¬
tizen bei mittelalterlichen Schriftstellern der früheren
Jahrhunderte, die den Ursprung der Langobarden,
der Franken, ja aller Deutschsprechenden an die
Normannen und Skandinavier anknüpfen. Man hat
diesem Umstande neuerdings grosses Gewicht bei¬
gelegt und die Hypothese von der skandinavischen
Urheimat der Germanen und Arier dadurch zu stützen
gesucht (Penka, Origines und Herkunft der Arier,
Wilser, Ausland, 1890, S. 915). Jedenfalls liegt
darin ein unbeirrtes und richtiges Gefühl des ethno¬
graphischen Zusammenhanges, wenn auch die histo¬
rische Kritik über die Beweiskraft dieser Stellen zu
einem anderen Ergebnis führt. Auch bei den Sachsen
bestand eine abweichende Ueberlieferung, dass sie
von den Angeln, den Bewohnern Britanniens, aus¬
gegangen seien.
Ein Gewinn fruchtbaren ethnographischen Wis¬
sens war auf diesem Wege nicht zu erreichen, der
nur der ungeprüften Ueberlieferung folgte oder von
blossen Wortspielereien abgelenkt wurde. Dazu ge¬
hört z. B. auch die im 12. Jahrhundert übliche Ver¬
wendung des Namens der verschollenen Vandalen
für die Wenden, die Form Tartaren statt Tataren,
mit Anlehnung an den Tartarus, die Umsetzung
der magyarischen jaszök = Bogenschützen für einen
Teil der Rumänen in die klassischen Jazygen, was
noch heute auf den Karten irreführt. Ein Fortschritt
konnte nur durch unbefangene Beobachtung ge¬
schehen; und wie gering ist ihr Einfluss, wenn
Helmold zu Ende des 12. Jahrhunderts mit Be¬
rufung auf Gewährsmänner auch die Ungarn zu den
Slawen rechnet, von denen sie sich weder an Sitte
noch an Sprache unterschieden. Nun ist freilich
Helmold durch eine beträchtliche Entfernung von
den Ungarn geschieden, von denen er eine so wenig
zutreffende Ansicht ausspricht. Die Grundlage geo¬
graphischer Auffassung muss für den pädagogischen
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ßcr Staut Santa Catharinu in SUilhrasilicn.
427
Standpunkt die Heimatskunde bilden. Die Kenntnis
der Umgebung ermöglicht uns das Verständnis für
ferne Länder. Eine Bekundung des entsprechenden
Standpunktes in der Entwickelung der Geographie
zeigt nun auch eine kurze, lateinisch geschriebene
Beschreibung des Eisass, an die sich diejenige Deutsch¬
lands schliesst, aus dem 13. Jahrhundert stammend,
wohl aus dem Dominikanerkloster in Kolmar (ab¬
gedruckt in den Monumenta Germaniae historica,
Bd. 17). Sie ist allerdings mehr kulturhistorisch
interessant, weil eben in jedem geographischen Do¬
kument der Vergangenheit der historische Bestand¬
teil an Wert um so mehr steigt, als der geographische
Standpunkt überwunden wird. Aber die Geschichte
des geographischen Interesses darf an der kleinen
Schrift nicht achtlos vorübergehen.
Ebenso musste auch die ethnographische Auf¬
fassung allmählich gefördert werden durch die fort¬
schreitende Ausbildung der Nationalitäten seit der
Völkerwanderung und dann durch die unmittelbaren
Berührungen der Völker, die den Blick für die
charakteristischen Unterschiede schärften. So lernte
also der Deutsche durch die Römerzüge die Italiener
immer besser kennen. In einem epischen Gedicht
über die Thaten Friedrich Rotbarts, das mit dem
Namen Ligurinus bezeichnet wird, dessen Verfasser
aber wohl ein Deutscher gewesen ist, findet sich
z. B. eine sehr unbefangene Charakteristik der Lom¬
barden, die der Verschmelzung des germanischen
und romanischen Wesens gerecht zu werden sucht.
Ein anderer Dichter dieser Zeit unterlässt bei der Be¬
handlung der trojanischen Abkunft der Franken keines¬
wegs die Befriedigung der rationalistischen Frage, wie
denn nun die Nachkommen der Trojaner doch ger¬
manische Franken seien (Gottfried von Viterbo,
Monumenta, Bd. 22. Speculum regum, lib. II, c. 62).
Um nicht über die Zeit der Ebstorfer Karte
hinauszugehen, sei nur noch in dieser Hinsicht an
den ethnographischen Standpunkt des dem Jorda-
nusvonOsnabrück zugeschriebenen kleinen Buches
über das Römische Reich erinnert. Auch hier ist
die Trojaner-Sage in Einklang gebracht mit der ger¬
manischen Nationalität der Franken. Andererseits
ist eine Charakteristik der Franzosen versucht, die
von guter Beobachtung zeugt, aber zugleich die
Fortwirkung der etymologischen Spielereien im Sinne
Isidors beweist. Die romanischen Franzosen sind
ihm in Wahrheit Gallier, aber die Deutung ihres
Namens von vaXa ablehnend, weil sie zwar den
Spaniern oder Mauren gegenüber als hellfarbig gelten
könnten, nicht aber den Angeln oder Sachsen —
denkt er lieber an den gallus, den Hahn, wegen
der Aehnlichkeit der Eigenschaften, die er in schlechte,
gute und sehr gute einteilt. Der Hahn ist wie der
Gallier der unteren Stände »superbus, clamosus, luxu-
riosus, iticonstans, pronus ad lites, pronus ad pacem«;
seine guten Eigenschaften aber sind die des fran¬
zösischen Adels. Der Hahn ist schön von Gestalt,
aber schöner mit Federn, als gerupft, so der Fran¬
zose schöner »vestitus, quam nudus; audax, hilaris,
amativus et liberalis.« Das klingt alles fast scherz¬
haft, aber dass es nicht so sehr daneben trifft, be¬
weist den Blick des Mannes, der wohl in Paris
studiert hat. Seine Darstellung hat auch Anklang
und Fortwirkung erlebt. Das Bild des kollernden
Hahnes hat man immer wieder aufgewärmt. Der
Zusammenhang liegt vielleicht in den späteren Völker¬
spiegeln bis aufBodinus und Barclay hin. Aber
dies bedürfte einer eingehenderen Darstellung, als sich
mit diesen anspruchslosen Zeilen vertragen könnte.
Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
Von C. Ballod (Jena).
Die hier folgende Arbeit bildet den Versuch einer
wissenschaftlichen Darstellung der physikalischen und
wirtschaftlichen Verhältnisse des Staates Santa Catha¬
rina in Südbrasilien. Um diese Verhältnisse aus
eigener Anschauung kennen zu lernen, hat sich der
Verfasser dieser Arbeit zweimal (September bis Okto¬
ber 1889 und Juni 1890 bis Februar 1891) in Santa
Catharina aufgehalten und dabei vorzugsweise den
Süden des Staates kennen gelernt. Die vorliegende
Litteratur ist versucht worden in einer möglichst
kritischen Weise zum Vergleich heranzuziehen.
Santa Catharina erstreckt sich von 26° 30 / südl.
Br. bis 29 0 18' südl. Br. Der Flächeninhalt beträgt
nach den meisten Angaben 74156 qkm; die Ein¬
wohnerzahl 216000. Die Insel Santa Catharina
(550 qkm) soll nach der Zählung vom 31. Dezem¬
ber 1890 circa 25 000 Einwohner gehabt haben, da¬
runter die Hauptstadt Desterro selbst 9000, die
Kolonie Blumenau 26400, Azambuja 5000. Brasi¬
lianische Volkszählungen, so auch die von 1890,
bieten jedoch durchaus keine sehr zuverlässigen und
lückenlosen Resultate.
Die orographischen und die Bodenver¬
hältnisse.
Santa Catharina wird durch das nordsüdlich ver¬
laufende Küstengebirge, die Serra Geral oder Serra
do Mar in zwei Teile zerlegt: in das im Mittel
800—1000 m sich erhebende Hochland, das zum
Stromsystem des Laplata gehört, und in das 30 — 150
(im Mittel 70—100) km breite und 400 km lange
Küstengebiet, das von einer ganzen Anzahl west¬
lich fliessender Küstenflüsse entwässert wird. Die
im Mittel 1000—1500 m sich erhebende Serra Geral
ragt im Süden des Staates steil, fast mauerartig auf,
bildet nach der Mitte des Staates zu das auf über
2000 m sich erhebende Massiv der Serra do Trom-
budo, an welches sich die ins Küstenland vorsprin¬
gende Serra da Boa Vista, welche die etwa 1100 m
hoch gelegenen Campos gleichen Namens trägt, an-
schliesst. Letztere besteht aus durch »Trapp« ge¬
hobenen sedimentären Gesteinen. Darauf teilt sich die
Serra in zwei Ketten, deren erstere vom grossen Itajahy
(Itajahy Assü) durchbrochen und gewöhnlich als
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428
Der Staat Santa Cat ha ri na in Südbrasilien.
Serra do Mar, deren zweite, weiter zurückliegende,
man als Serra Geral bezeichnet. Diese beiden Ketten
schliessen ein über ioo Quadratmeilen grosses, im
Mittel 2—500 m hochgelegenes Gebiet ein. Es wird
von Quellarmen des Itajahy entwässert und besteht
aus Sandsteinen, die häufig von eruptiven Bildungen
durchbrochen sind. Nach Norden zu scheint dieses
Gebiet ziemlich sanft und allmählich in die etwa
Soo m hohen, vielfach zerklüfteten Campos von Säo
Bento und weiterhin vom Rio Negro überzugehen,
deren westlichen Abfall die durchschnittlich 1000 m
hohe Serra de S. Miguel mit dem sich daran an¬
schliessenden Jaraguastock (1140 m), bildet. Diese
Serra Geral bildet die Wasserscheide zwischen dem
Flussgebiet des Laplata und den Küstenflüssen, bloss
von einigen geringfügigen Zuflüssen des Itapocü im
Norden und des Ararangua im Süden wird sie durch¬
brochen. Die Serra ragt nur wenig über das an¬
liegende Hochland auf, so dass sie mehr als der
vielfach erodierte und ausgezackte Absturz des Hoch¬
landes anzusehen ist, der im Süden durch ausge¬
dehnte Absenkungen oder Verwerfungen des Küsten¬
gebietes entstanden sein mag, im Norden und in
der Mitte mögen auch Faltungen das ihrige gethan
haben. Das Hochland zeigt im allgemeinen mehr
sanfte, wellenförmige Erhebungen und neigt sich
nur ganz allmählich zum Laplata. Das Küsten¬
land zeigt bloss im Norden (in Donna Francisca)
und im Süden, wo sedimentäre Bildungen aufge¬
lagert sind, sanftere Formen, sonst ist es ungemein
wild zerrissen und zerklüftet, besonders da, wo grani-
tische Bergketten oder eruptive Bildungen (nament¬
lich »Trapp«) zu Tage treten; kegelförmige Kuppen
gleich riesigen Maulwurfshügeln wechseln ab mit
steilen Bergzügen und Bergrücken, die öfters 30, ja
40° und mehr Steigung haben und selten auch nur
einige Kilometer in einer Richtung verlaufen, unter¬
brochen durch tiefe Thäler und Schluchten, in
denen sich unzählige Wasserrinnsale ihr Bett ge¬
graben haben. Es ist, als ob ein wild bewegtes
Meer, dessen Wellen Hunderte von Metern Höhe
haben, plötzlich erstarrt wäre. Ketten der Granit-
und Gneisformation ziehen sich bis zur Küste, bil¬
den eine Menge Vorgebirge und tauchen selbst in
einiger Entfernung von der Küste als Inseln wieder
auf, so die Insel Santa Catharina. Das ganze
Küstengebiet gehört der Urgneisformation an, welcher
jedoch vielfach jüngere Sedimente, hauptsächlich ein
thoniger Sandstein, aber auch Schiefer aufgelagert
sind, die ihrerseits von zahlreichen vulkanischen Bil¬
dungen, besonders »Trapp«, aber auch Basalten
durchbrochen sind, letzteres namentlich im 1000 m
hohen Morro do Balni, nördlich vom Itajahy. Kalke
oder Mergel sind dagegen kaum anzutreffen, ein
angebliches Vorkommen von Marmor und grauem
Kalkstein an der Küste zwischen Itajahy und Cam-
briu erwähnt Prof. Dr. H. L an g e *); auch W. v. H u n d t
') II. Lange, Südbrasilien, 2. Aufl., Berlin 1885, S. 127.
berichtet von einem rötlichen Marmor in der Kolonie
Urussanga 1 ), allein diese Angabe ist sehr unzuver¬
lässig. Thatsache ist jedenfalls, dass sämtliche Küsten¬
flüsse ein ungemein weiches kalkarmes Wasser haben,
was ja Wäscherinnen sehr Zusagen mag, für die
Landwirtschaft infolge der daraus resultierenden Kalk¬
armut des Bodens bedenklicher erscheint. In der
Kolonie Donna Francisca hat nach Dr. Wo hit¬
mann das Wasser der meisten Flüsschen und Brunnen
nur V 2 — 1 Härtegrad, die meisten Gewässer wiesen
nur 0,1 g an getrocknetem Rückstand in einem Liter
Wasser auf, der dabei noch zu 30—80 °/o organi¬
schen Ursprungs war 2 ). Eine genauere Untersuchung
der jüngeren sedimentären Bildungen seitens eines
geschulten Geologen hat noch gar nicht stattgefun¬
den, was übrigens bei den an Versteinerungen armen
Sandsteinen und der überwuchernden Vegetation mit
nicht geringen Schwierigkeiten verknüpft wäre. Nach
Sellow, der in den zwanziger Jahren das Küsten¬
land von Südbrasilien bereiste, und nach Vascon-
cellos 3 ) gehört der Sandstein der Serra der Tertiär¬
formation an; letzterer hat in der Serra Santa Mar-
tinho, am südlichen Fuss in den Sandsteinen 10—20
Fuss lange und 5—6 Fuss dicke Stämme verkieselten
Holzes von Dikotyledonenstruktur gefunden und
meint, dieselben könnten nicht älter sein als die
jüngste Sekundärformation (Kreide). Mit Sicherheit
weiss man übrigens nicht einmal das Alter der unter
der Serra sich hinziehenden, teils schiefrigen, teils
Schwefelkies enthaltenden Kohle, die an den Quellen
des Tubaräo (und auch den des Araranguä) in einer
Mächtigkeit von 3—4 m zwischen Sandsteinen zu
Tage tritt. Diese Kohle stimmt ihrer Beschaffen¬
heit nach vollkommen mit der in Rio Grande do
Sul bei Jaguaräo gefundenen Kohle, welche Vas-
concellos für eine schwarze Glanzkohle aus der
Tertiärzeit erklärt. Nach A. Hettner 4 ) gehören
indessen die Pflanzenreste der Kohlen in Rio Grande
zur Glossopterisflora und wahrscheinlich zur Trias.
Was die praktische Verwendbarkeit dieser Kohlen
betrifft, so wusste bereits Woldemar Schulz 5 ),
dass sie wenig Hitze geben und wenig Coaks erzeugen,
somit geringwertig sind. Dennoch hat man später¬
hin auf ihre Ausbeutung grosse Hoffnungen gesetzt,
der Visconde Barbacena erwarb 1863 im Bezirk
der Tubaräokohlen 2 □ Leguas Land und brachte
nach längerem vergeblichen Bemühen schliesslich
eine englische Gesellschaft zu stände, die mit 7°/o
Zinsengarantie auf ein Kapital von 5451 Contos
(12 ^2 Millionen Mark) seitens der brasilianischen
*) Santa Catharina, Gera 1887, S. 128.
2 ) Dr. F. Wohltmann, Handb. der tropischen Agrikultur,
I, Leipzig 1892, S. 128.
s ) Memoria geologica sobre os terrenos do Curral Alto
e serra do roque, Porto Alegre 1851.
4 ) Das südlichste Brasilien, Zeitschr. d. Gescllsch. f. Erd¬
kunde in Berlin 1891, S. 85—144.
5 ) Studien über agrarische und physikalische Verhältnisse
in Südbrasilien, Leipzig 1865, S. 120.
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Der Staat Santa Catharina in Sitdbrasilien.
429
Regierung eine 111 Kilometer lange Eisenbahn vom
Küstenplatz Impituba bis zu den Kohlenlagern baute.
Die Eisenbahn wurde 1884 fertig und nun ging man
mit einigen hundert Arbeitern an die Ausbeutung
der Kohlen, deren Untauglichkeit für Dampfkessel-
fcuerung infolge ihres Eisenkiesgehaltes und geringen
Brennwertes nun bald erkannt und darauf der Abbau
eingestellt wurde. Eine brasilianische Kommission
von Ingenieuren, die im Juni 1890 die Kohlenlager
besuchte und ein »Relatorio sobre os terrenos do
carväo do Tubarao«, Rio de Janeiro 1890, heraus¬
gab, gibt die Geringwertigkeit der Kohlen zu, em¬
pfiehlt jedoch neue Bohrungen anzustellen, um
vielleicht auf taugliche Kohlenschichten zu stossen,
was wohl kaum wahrscheinlich sein dürfte. Für
Briquetsfabrikation mögen sich übrigens dieTubaräo-
kohlen ebenso wie die Kohlen von Sao Jeronymo
in Rio Grande do Sul eignen. Vulkanische Erschei¬
nungen oder Erdbeben sind gegenwärtig so gut wie
unbekannt, doch legt neben den Eruptivgesteinen
auch das Vorhandensein warmer Quellen beiTheresio-
polis im Cubataothal und am Tubarao von einstiger
vulkanischer Thätigkeit Zeugnis ab.
Was das Vorkommen von Metallen anlangt, so
finden sich in der Serra an den Araranguäquellen
Kupfererze, auch Silbererze sollen im vorigen Jahr¬
hundert an den Quellen des Laranjeiras, eines Zu¬
flusses des Tubarao, von Jesuiten verarbeitet wor¬
den sein. Man findet daselbst noch eine verfallene,
ehemalige Jesuitenniederlassung, von verwilderten
Orangenhainen umgeben, die jedoch zunächst wohl
dem Zwecke der Mission unter den Indianern dienen
mochte. Eisenerze kommen häufig vor, so nament¬
lich Raseneisenstein in Donna Francisca und bei
Laguna. Ob die Erze den Abbau lohnen würden,
darüber fehlen noch alle genaueren Untersuchungen.
An der Küste kommen sehr häufig Sambaquis
vor, es sind das Muschelhügel, die zuweilen einen
Durchmesser von 100—150 m bei einer verhältnis¬
mässig geringen Mächtigkeit haben. Ueber ihren Ur¬
sprung sind wir noch nicht hinreichend aufgeklärt,
wahrscheinlich waren es Lagerplätze von Indianern,
die die Muscheln genossen haben, nach anderer Mei¬
nung auch Begräbnisstätten von Indianerhäuptlingen,
thatsächlich hat man menschliche Knochen und ganze
Skelette in ihnen gefunden. Gegenwärtig wird fast
aller Kalkbedarf aus ihnen gewonnen, wodurch sie
natürlich in absehbarer Zeit zu verschwinden drohen.
Was die Verwitterungsschicht oder Bodenkrume
des Küstenlandes betrifft, so besteht sie auf geneigtem
Terrain (Bergen und Hügeln) zumeist aus einem
gelben oder roten Lehm, schwarzer Humus ist da¬
gegen in einer kaum zolldicken Schicht, auf weite
Strecken gar nicht aufgelagert, bloss die Thalsohlen
der grösseren Flüsse enthalten einen von ange¬
schwemmten Humusbestandteilen dunkel gefärbten,
in der Regel sehr fruchtbaren, thonigen oder san¬
digen Alluvialboden. Es wäre indessen ein grober
Irrtum, wenn man aus dem Nichtvorhandensein einer
sch warzen Humusschicht auf Unfruchtbarkeit schliessen
wollte, wie es neue Ankömmlinge aus dem Norden
häufig thun. Humusansammlungen bilden sich im
Süden wegen der bedeutend schnelleren Zersetzung
organischer Stoffe weit schwieriger als im Norden.
Indessen ist der Humus im Süden auch weniger not¬
wendig wegen der höheren Bodenwärme und dann
weil seine absorbierenden Eigenschaften zum Teil
durch Eisenoxyd und Thonerde vertreten werden
können, Stickstoff wird aber bei reichlichem Regen¬
fall in hinreichenden Mengen aus der Luft geliefert 1 ).
Bodenanalysen haben dabei ergeben, dass es solchen
Rot- und Gelberden öfters durchaus nicht an Humus
und Stickstoff fehlt, dass die letzteren Bodenbestand¬
teile aber häufig durch Thonerde und Eisenoxyd¬
teilchen inkrustiert und verdeckt sind.
Wenn Wohltmann meint, die Rot- und Gelb¬
erden seien eine unvollkommene Phase der Laterit-
bildung 2 ), so ist das bloss insoweit zuzugeben, als
sich dieser Ausspruch auf Urwaldboden bezieht (der
im Küstengebiet von Santa Catharina freilich vor¬
herrscht), nicht aber als ob es im Bereich der Rot-
und Gelberden an einer hinreichend langen Epoche
der Lateritbildung, sowie an hinreichenden Mengen
Eisen im Boden gefehlt hätte, wie Wohltmann weiter
ausführt; sind sie doch gerade vorherrschend aus
archäischen und älteren Eruptivgesteinen gebildet,
auch durchaus nicht sehr arm an Eisen. Laterit bil¬
det sich nach Prof. Dr. Pechuel-Loesche in
dichten Waldgebieten erst, nachdem die Vegetation
abgeräumt ist 3 ), wenn dann die Insolation mit voller
Kraft wirken kann, der Boden abwechselnd austrocknet
und wieder von Regen durchtränkt wird, wobei zu¬
gleich eine Anreicherung an Eisen stattfindet, indem
Thon, Kalk und Alkalien ausgewaschen und weg¬
geführt werden. Die typischen Latcritgebiete sind
ja zumeist Strauch- oder Baumsteppen, in denen die
Sonne fast ungehindert auf den Boden einwirken
kann, die starke Hitze im Wechsel mit heftigen
Regengüssen bedingen die porös-schwammige, wasser¬
durchlassende Beschaffenheit des Latentes, der zu¬
gleich an mineralischen Pflanzennährstoffen verarmt
ist. Der Boden der Campos von Rio Grande do
Sul zeigt ja nach A. Hettner 4 ), wo er thonig oder
lehmig ist, ebenfalls eine lateritartige Beschaffenheit,
mit dem er auch in Bezug auf Mangel an wichtigen
Pflanzennährstoffen übereinstimmt, indessen sind auch
die Gelb- und Roterden der brasilianischen Wald¬
gebiete, von vulkanischen Verwitterungsböden abge¬
sehen, nicht sehr reich daran, und es sind daher
wohl weniger die chemischen Eigenschaften, die sie
vom Laterit unterscheiden, sondern eher die physi¬
kalischen, indem sie nicht so porös-schwammig und
wasserdurchlassend sind. (Fortsetzung folgt.)
*) Wohltmann, Tropische Agrikultur, Kap. II, I, S. ioo f.
2 ) Ebenda, S. 226.
n ) Pcchuel-Loesche, Kongoland, Jena 1S87, S. 355 f*
4 ) Zeitschr. d. Gesellsch. f. Erdkunde in Berlin 1891,
S. 85^-144. __
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430
Geographische Mitteilungen.
Geographische Mitteilungen.
(H. Bur me ist er.) Am 2. April d. J. ist in Buenos
Aires hochbetagt der in weiten Kreisen bekannte Natur¬
forscher Professor Dr. Hermann Burmeister ge¬
storben; sein Begräbnis fand am 4. April auf Staatskosten
und mit hohen Ehren statt. Geboren am 15. Januar 1807
in Stralsund, studierte er in Greifswald und Halle Medizin
und Naturwissenschaften, war dann von 1831 in Berlin
als Gymnasiallehrer und Privatdocent thätig und wurde
1837 ausserordentlicher und 1842 ordentlicher Professor
der Zoologie an der Universität Halle, zu deren be¬
deutendsten Lehrern er gehörte. 1848 war Burmeister
Mitglied des Frankfurter Parlamentes, dann des preussi-
schen Abgeordnetenhauses. Von September 1850 bis
März 1852 und von Herbst 1856 bis März 1860 unter¬
nahm er zwei wissenschaftliche Reisen nach Brasilien
und Argentinien. Im Mai 1861 gab er seine Professur
in Halle auf und siedelte nach Buenos Aires über, wo
er als Direktor des von ihm errichteten und bald zu
hohem Ansehen gelangenden naturhistorischen Museums
bis zu seinem Tode wirkte. Ausser zahlreichen zoologischen
Arbeiten hat der Verstorbene auch eine grosse Reihe wert¬
voller geographischer Schriften veröffentlicht; erwähnt
seien hier nur neben seinen Beiträgen für Petermanns
Mitteilungen und die Berliner Zeitschrift für Erdkunde
seine Reisewerke: »Reise nach Brasilien« (Berlin 1853);
»Landschaftliche Bilder Brasiliens« (1853); »Reise durch
die La Plata-Staaten« (Halle 1861, 2 Bde.). Einen weiten
Leserkreis fanden namentlich auch zwei seiner frühesten
Werke, die »Geologischen Bilder zur Geschichte der
Erde und ihrer Bewohner« (2. Aufl. 1855) un ^ seine
»Geschichte der Schöpfung« (7. Aufl. 1872, besorgt
durch C. Giebel). Der Wissenschaft ist Bur meist er
in seinem neuen Vaterlande eine wichtige Stütze ge¬
wesen *). (Mitteilung von Dr. Wolkenhauer in Bremen.)
(Geologie von Cypern.) Den älteren geologi¬
schen Durchforschungen der Insel Cypern, welche von
Gau dry, Unger und Kot sch y vorgenommen wurden,
ist nun eine neuere von A. Bergeat gefolgt, welche
zumal dem petrographischen Gesichtspunkte weit mehr
als jene früheren Rechnung trägt. Was die sedimentären
Bildungen anbelangt, so fand sich in der Hauptsache
die Thatsache bestätigt, dass nur junge Gesteine an¬
stehend angetroflfen werden; die Gebirgskette im Norden
besteht vorwiegend aus echt kretacischem Kreidekalk
(und zwar ohne Dolomit), und der zu diesem diskordant
lagernde eoeäne Kalk ist nur spärlich vertreten, während
Miocän, Pliocän und Quartär mächtig entwickelt sind
und durch ihren Reichtum an fossilen Einschlüssen eine
leichtere Altersbestimmung ermöglichen. Von älteren
Eruptivgesteinen ist lediglich der Diabas als Felsbildner
*) Es darf nicht verschwiegen werden, dass, wo so viel
Licht ist, auch einiger Schatten nicht fehlt. So Bedeutendes
Burmeister für die naturhistorische Erforschung seines Adoptiv-
Vaterlandes leistete, so hat doch die Geographie des Landes von
seinen Arbeiten nicht den gleichen Gewinn gezogen (vgl. Wap-
paeus in den »Gott. Gel. Anzeigen» 1877, S. 47 ff.). Und die
höchst einflussreiche Stellung, welche der Verstorbene einnahm,
trug, als die Universität Cordoba begründet wurde, das Ihrige
dazu bei, einzelnen der aus Deutschland berufenen Professoren —
Vogler, S telzner u. s. w. — das Einleben in die neuen
Verhältnisse wesentlich zu erschweren. Freies akademisches
Leben liess sich mit einer Suprematie, wie sie Burmeister
ausübte, schlechterdings nicht vereinbaren. Die Red.
von Bedeutung gewesen, dieser aber auch um so mehr,
denn aus ihm besteht der eigentliche Inselkern desTroodos,
u. a. der den Lesern dieser Zeitschrift aus den letzten
Nummern wohlbekannte Stavrovuni. Auf dessen
Gipfel ist aber die für Cypern überhaupt charakteristische
Umwandlung der Hornblende und des Plagioklases bereits
derart fortgeschritten, dass man die Struktur des Ge¬
steines kaum mehr zu erkennen vermag; der Diabas
ist gänzlich in Chlorit übergegangen. Jüngere Vulkan¬
gesteine, d. h. solche, deren Ausbruch ins tertiäre Zeit¬
alter zu setzen ist, finden sich gleichfalls im Troodos-
Gebirge, aber auch längs der ganzen Nordküste reiht
sich eine Eruptionsstelle an die andere. Hier wiegen
Andesite verschiedenen Charakters vor. Basalt ward
gar nicht, Trachyt nur in vereinzelten Blöcken ange¬
troffen. Das Kalkgestein hat da, wo es von den feurig¬
flüssigen Magma - Massen durchbrochen ward, eine
ausgesprochene Umänderung seines Gefüges erlitten
(Kontaktmctamorphismus). Endlich sei bemerkt, dass
der Bau der Inselgebirge sich mit den von E. Suess
angenommenen drei »Mediterranstufen« sehr wohl in
Einklang bringen lässt; zur Zeit der ersten Stufe fehlte
die Insel als solche gänzlich; aus dem Meere der zweiten
Stufe traten die Diabas-Massen des Troodos hervor,
um für die mioeänen Schichtbildungen als Unterlage zu
dienen, und in die Zeit der dritten Stufe fällt die Auf¬
richtung der Nord kette mit ihren plioeänen Ablagerungen.
(Tschermak-Bcckes Mineralogische Mitteilungen, 1891,
XXI.)
(Reise nach Venezuela.) Nachdem Professor
W. Sievers (Giessen) schon früher, mit Unterstützung
der Hamburger Geographischen Gesellschaft, ausgedehnte
Reisen in Venezuela unternommen und deren Ergebnisse
in drei grösseren Werken niedergelegt hatte, bereitet
derselbe eine neue Bereisung dieses Staates vor, und
wieder wird die genannte Korporation die Mittel ge¬
währen. Es war für dieselbe hauptsächlich der Gedanke
maassgebend, dass die Handelsbeziehungen zwischen
Venezuela und dem Deutschen Reiche sich stets leb¬
hafter gestalten, dass bei den dortselbst begründeten
industriellen Unternehmungen (Fabriken, Eisenbahn¬
bauten u. s. w.) Deutsche wesentlich beteiligt sind, und
dass folglich eine immer gründlichere Kenntnis der
wirtschaftlichen, politischen und Natur-Verhältnisse jenes
Landes erwünscht werden muss. Professor Sievers
sprach sich in einem in Hamburg gehaltenen Vortrage
über seinen Reiseplan aus und erklärte, dass die Reise
im Herbst und Winter dieses Jahres ausgeführt werden
und sich vorwiegend auf den Nord westen Venezuelas
erstrecken solle. Die Landschaft Coro, das Gebirge
zwischen Caracas und Barquisimeto, sowie die Llanos
sollen durchwandert werden, und durch diese letzteren
hindurch hofft der Genannte bis in das noch recht wenig
bekannte Grenzgebiet gegen Britisch-Guyana Vordringen
zu können. Natürlich muss, da der in Südamerika
übliche Bürgerkrieg wieder einmal entfesselt ist, bei
der Reise auf die augenblickliche Lage Rücksicht ge¬
nommen werden. Auf der Hinreise gedenkt sich Pro¬
fessor Sievers auf der Insel Puerto Rico aufzuhalten
und sie, die von der geographischen Forschung bisher
ziemlich stiefmütterlich behandelt worden ist, näher in
Augenschein zu nehmen. (Hamburgischer Korrespondent
vom 7. Juni 1892.)
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Litteratur.
431
Litteratur.
Das Muchik oder die Chimu-Sprache. Mit einer Ein¬
leitung Uber die Kulturvölker, die gleichzeitig mit den Inkas
und Aymaräs in Südamerika lebten, und einem Anhang über
die Chibcha-Sprache. Von E. W. Middendorf. Leipzig,
Brockhaus, 1892. VIII—222 S. (Die einheimischen Sprachen
Perus. VI. Band.) 12 M.
Ich habe bereits in dieser Zeitschrift (Jahrgang 1891,
S. 651 ff.) auf die Wichtigkeit des epochemachenden Werkes
Middendorfs hingewiesen und das baldige Erscheinen des
letzten Bandes dieser grossen Publikation in Aussicht gestellt. —
Nun ist der betreffende Band im Druck erschienen, der eine
wissenschaftliche Darstellung der bisher bloss mangelhaft be¬
kannten Chimu-Sprache umfasst. Diese Sprache wurde in den
Küstenstrichen des nördlichen Peru, etwa vom 6.° 30' bis 8.° 30'
südl. Breite, namentlich in den fünf Thälern der kurzläufigen
Gebirgsströme (Thal von Trujillo, Chicama, Pacasmayo, Lam-
bayeque und Morope) gesprochen. Thr Hauptort lag dort, wo
heutzutage die Stadt Trujillo steht. Dort befand sich die Stadt
Chanchan, von den Spaniern el gran Chimu genannt, deren weit
ausgedehnte Ruinen von der Kultur des Volkes, welches sie einst
bewohnte, Zeugnis ablegen.
Gegenwärtig kann die Chimu-Sprache als ein dem Aus¬
sterben entgegengehendes Idiom betrachtet werden, denn sie
fristet bloss in den niederen Schichten der Bewohnerschaft der
Stadt Eten ein klägliches Dasein. Die jüngere Generation schämt
sich ihrer Muttersprache und gebraucht sie bloss im intimen
Verkehr der Familienglieder unter einander.
Alles, was wir über diese Sprache aus älterer Zeit wissen,
stammt von dem Geistlichen Fernando de la Carrera, einem
eingeborenen Spanier, der in der ersten Hälfte des 17. Jahr¬
hunderts lebte und Pfarrer der Stadt Reque war, eines Ortes,
der in der Nähe des Hafens von Eten in der Diöcese von Tru¬
jillo gelegen ist. Die von ihm verfasste Grammatik erschien in
Lima 1644 unter dem Titel: »Arte de la lengua Yunga de los
valles del obispado de Trujillo». — Dieses Buch gehört gegen¬
wärtig zu den grössten Raritäten, und es wurde deshalb im Jahre
1879 in der Revista Peruana wieder abgedruckt und später im
Jahre 1880 von Carlos Paz-Soldan, dem Redakteur der Re¬
vista, separat herausgegeben.
Obwohl nun dasjenige, was Carrera in seinem Buche
nach Art der alten Grammatiker bietet, höchst dankenswert ist
und eine allgemeine Beurteilung des Charakters der Sprache ge¬
stattet, so ist doch vieles in seiner Grammatik dunkel, und nament¬
lich die Phonetik ist etwas mangelhaft behandelt. Man kann es
daher als einen Glücksfall betrachten, dass Middendorf der
im Absterben begriffenen Sprache sich annahm und, noch ehe
sie ganz verschwunden war, an der Hand Carreras ihre Wörter
und Wendungen aus dem Munde alter Leute der Stadt Eten
sammelte. Middendorf dürfte wahrscheinlich der letzte ge¬
bildete Europäer sein, welcher die Chimu-Sprache reden ge¬
hört hat!
Die Chimu-Sprache hat mit den beiden Hauptsprachen
Perus, dem Ketschua und Aymarä, weder in der Phonetik, noch
in der Wortbildung, noch auch im Wortvorrat eine Aehnlich-
keit, sie muss uns für ein isoliertes Idiom gelten, was be¬
kanntlich auf dem Boden Amerikas keine auffallende Erscheinung
ist. Auch das Chibcha, die Sprache der Muysca auf dem Hoch¬
lande von Cuftdinamarca, welche der Verfasser am Ende seiner
Arbeit über die Chimu-Sprache einer eingehenden Analyse unter¬
zieht, ist von den beiden peruanischen Hauptsprachen ganz ver¬
schieden, es hat aber wahrscheinlich Verwandte, welche über
die Meerenge bis nach Mexiko reichen, steht mithin nicht so
ganz isoliert da.
Ein interessantes Kapitel ist die Frage über die Kultur
der Chimu und die von ihnen hinterlassenen Kulturdenkmäler.
Leider sind die wertvollsten derselben, die Schmucksachen und
Geräte aus Gold, der bis auf die Neuzeit betriebenen Schatz¬
gräberei unwiederbringlich zum Opfer gefallen; gerade diese
würden uns einen hohen Begriff von der Kultur dieses inter¬
essanten Volkes beibringen können. Obwohl die Chimu von
den Inkas und Aymaräs ganz verschieden waren, werden doch
viele ihren Gräbern und Ruinen entnommene Objekte, so nament¬
lich die Thongefässe, in den europäischen Museen als peruanische
(den Inka angehörende) Erzeugnisse aufgestellt. Dies wird man
künftig korrigieren müssen; man wird dem ackerbautreibenden
und industriösen Kulturvolke der Chimu das geben, was ihm
gebührt.
Wien. Friedrich Müller.
Wandertage eines deutschen Touristen im Strom-
und Küstengebiete des Orinoco. Von Graf Eberhard
zu Erbach. Mit 20 Abbildungen und 2 Karten. Leipzig, 1892.
Der Verfasser behandelt die drei Städte Caräcas, La Guaira
und Linded Bolävar, das Land zwischen und um die beiden
ersteren, die Stromfahrt auf dem Orinoco und das Seebad Ma-
cuto, sowie weniger eingehend Carüpano. Im ganzen sah der¬
selbe sonach nicht viel von Venezuela, beobachtete aber gut,
vor allen Dingen das Volksleben, das, wie auch die Interessen
der höheren Stände, die politischen Zustände und das Strassen-
leben fesselnd und im ganzen richtig geschildert sind. In diesen
Schilderungen, die sich nur etwas zu viel mit dem schönen Ge¬
schlecht beschäftigen, liegt der Wert des Buches, sowie auch in
den die Geschichte der Unabhängigkeitskriege behandelnden um¬
fangreichen Kapiteln, zu denen Graf Erbach offenbar eigene
Studien gemacht hat. Wissenschaftlichen Wert beansprucht der
Band nicht, dagegen sind die Naturschilderungen teilweise schön.
Die beiden Karten stellen die Geschichte der Independencia
und der Handelsgebiete von Linded Bolävar dar; letzteres ist
unendlich viel kleiner, als der auf der Karte niedergelegte, das
ganze nördliche Südamerika bis zum Amazonas umfassende Raum.
Die Abbildungen sind teils nach in Caräcas käuflichen
Photographien und Bildern ungleich gearbeitet, teils aus Appun
(S. 336) und Reelus (S. 154), welch letztere eine Kreolin von
Martinique darstellt, entnommen.
Die Litteratur der Jahre seit 1887 ist dem Verfasser nicht
bekannt geworden, da weder des Referenten Arbeiten über Vene¬
zuela, noch die Chaffenjous über den Orinoco angeführt sind.
Im ganzen ist das Buch ein recht anziehend geschriebener
Beitrag zur Kenntnis Venezuelas, der anspruchslosen Lesern ge¬
nügen wird.
Giessen. W. Sievers.
Gefechtsweise und Expeditionsführung in Afrika.
Von Dr. Karl Peters. Berlin, 1892. H. Walther. 19 S.
Die kleine vorliegende Schrift ist eine etwas ausführlichere
Begründung der Gedanken, die Dr. Peters am Schluss seines
Berichtes vom 8. September 1891 an den Gouverneur v. Soden
(Kol.-Bl. 1891, S. 491) ausgesprochen: es ist eine sachlich ge¬
haltene Polemik gegen die Ausrüstung und Fechtweise der Schutz¬
truppe und zwar auf Grund eigener Erfahrung in dem Schar¬
mützel gegen die Warombo am Kilimandscharo. Dr. Peters
generalisiert einen einzelnen Fall. Wenn in dem von ihm ge¬
lieferten Gefechte Ausrüstung und Kampfweise der Schutztruppe
versagte, so ist doch ein so kategorisch absprechendes Urteil
kaum gerechtfertigt, wenn man bedenkt, dass dieselbe Schutz¬
truppe mit der ihr eigentümlichen kriegerischen Ausbildung schon
zahlreiche und namhafte Erfolge aufzuweisen und dass sie unter
der Führung von Wissmann in demselben Terraiu mehrere
Monate früher einen glänzenden Sieg über Sinna von Kiboscho
errungen hat. Peters stützt seine Polemik auf den Satz: »Wir
befinden uns in Afrika auf dem gegebenen Boden der Nahwaffe«.
Das ist als allgemeiner Ausspruch gewiss unrichtig; denn woher
käme dann die Ueberlegenheit der Feuerwaffen gegen die Speere
und Assegais der Eingeborenen?
Und haben nicht die Berichte von den Kämpfen während
des Araberaufstandes und namentlich Gravenreuths Schilde¬
rung von der Niederlage der Wahehe den Beweis geliefert, dass
es auch in Afrika rangierte Schlachten gibt? Richtig erscheint,
dass es dort viel häufiger zum entscheidenden Nahkampf kommt, als
in Europa. Dr. Peters irrt jedoch, wenn er andeutet, die deutsche
militärische Ausbildung verhindere den Einzelnen, im Nahkampf
sich zu bewähren. Hätte er ein einziges Waldgefecht im deutsch¬
französischen Krieg — also in einem der Grassteppe vergleich-
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432
Literatur.
baren, unübersichtlichen Terrain — erlebt, so wüsste er, dass
man im deutschen Heere darauf vorbereitet ist, in solch be¬
stimmten Fällen die Führung im ganzen aufgeben zu müssen,
und dass dann jeder einzelne Soldat seinen Mann zu stellen hat.
Ich weiss es nicht, aber es erscheint mir undenkbar, dass der
kriegserfahrene Wissmann nicht auch diesen Teil deutscher
Ausbildung in das ostafrikanische Reglement hinübergenom¬
men hat.
Sollte aber Peters mit seiner Schrift bezweckt und er¬
reicht haben, dass auf den Hinterlader des Sudanesen das Bajo¬
nett jetzt gepflanzt wird, so müsste man dieses Resultat als eine
willkommene Errungenschaft begrüssen.
Wenn ich auch nicht der Meinung bin, dass der Offizier
der Schutztruppe die »Gefechtsweise und Expeditionsführung«
Peters als maassgebenden Leitfaden benutzen wird — denn wie
schneckenartig langsam käme er bei der empfohlenen übertriebenen
Vorsicht in Marschsicherungsdienst vom Fleck! — so bjn ich
doch andererseits überzeugt, dass er zwischen vielem, das längst
bekannt, manches finden wird, das er bei Gelegenheit zum Nutzen
seiner Truppe verwenden kann.
München. Brix Förster.
Die Schiffsstation der k. und k. Kriegsmarine in
Ostasien. Reisen S. M. Schiffe »Nautilus« und »Aurora«.
1884—1888. Verfasst auf Befehl des k. und k. Reichs-Kriegs¬
ministeriums etc. von Jerolim Freiherr von Benko, k. und
k. Fregattenkapitän d. R. Mit drei Kartenskizzen. Wien.
Druck und Verlag von C. Gerolds Sohn. 1892. gr. 8°. IV.
990 S.
Dass die offiziellen Rapporte österreichischer Kriegsschiffe
auch für die Geographie als Wissenschaft beachtenswert sind,
ist bekannt, denn es genügt, die Namen »Novara«, »Albatros«
und »Fasana« zu nennen. In dem vorliegenden stattlichen Bande
sind die Berichte über zwei ausgedehnte Expeditionen zusammen¬
gefasst; der »Nautilus« war vom 20. Oktober 1884 bis zum
18. Januar 1887, die »Aurora« war vom I. August 1886 bis
zum 28. April 1888 unterwegs. Es werden (S. 1—206; S 207
bis 265) die gemachten weiten Fahrten im einzelnen beschrieben,
wobei natürlich auf das spezifisch seemännische Moment beson¬
deres Gewicht gelegt werden musste, dann aber schliesst sich,
als überwiegender Bestandteil des Ganzen, ein grosser, selbstän¬
diger Essay an über die Reiche Siam, China und Japan mit In¬
begriff Koreas und der in jenen Gegenden zu findenden euro¬
päischen Kolonialbesitzungen. Es ist natürlich, dass diese dritte
Abteilung weitaus am meisten das Interesse des Lesers auf sich
ziehen muss.
Die sehr eingehenden Mitteilungen stützen sich grossen-
teils auf die Angaben der Schiffsoffiziere, welche von den Küsten-
plätzen aus auch Teile des Inneren kennen zu lernen Gelegen¬
heit hatten, aber es ist auch die vorhandene Litteratur verwertet
worden, um von den politischen, militärischen und insbesondere
den wirtschaftlichen Verhältnissen der ostasiatischen Länder ein
möglichst treues und übersichtliches Bild zu entwerfen. Kapitän
Spetzler hat sich z. B. über Siam und über die Aussichten,
welche es dem europäischen Handel darbietet, offenbar sehr
gründlich zu informieren versucht, und gewiss verdienen die von
ihm gegebenen Ratschläge die Aufmerksamkeit der beteiligten
Kreise. Wir heben namentlich hervor, was über die siamesi¬
schen Tributärstaaten Salangah und Quedah (Kidah) und deren
Naturerzeugnisse beigebracht wird. Die Art und der Umfang
des chinesischen Aussenhandels wird ausführlich und unter Bei¬
gabe eines sehr reichen statistischen Materiales geschildert, so
dass der Leser in den Stand gesetzt wird, sich über die Be¬
deutung der einzelnen Vertragshäfen ein zuverlässiges Urteil zu
bilden. Vielen neu dürften die Ergebnisse jener nationalökono¬
mischen Preisfragen sein, welche das Polytechnische Institut zu
Shanghai seit einigen Jahren stellt; man erfährt, wie sich in den
Köpfen von Landesbewohnem höherer Bildung das Wesen des
Handels «larstellt, und findet iin Reiche der Mitte richtige und
irrige Anschauungen wieder, wie sie auch in Europa seit 200 Jahren
für die Volkswirtschaft maassgebend gewesen sind. Es ist uns
begreiflicherweise nicht möglich, den vielseitigen Inhalt des
Buches an dieser Stelle den Einzelheiten nach zu würdigen; nur
des Abschnittes über Sarawak auf Borneo möchten wir noch be¬
sonders gedenken, weil wir uns nicht entsinnen, diese eigenartige
Staatenbildung anderwärts gleich umfassend besprochen gefunden
zu haben.
Einen Abschnitt seines Werkes, »Das Datum auf den Phi¬
lippinen« betitelt (S. 803--813), hat Herr v. Benko schon
früher separat erscheinen lassen, weil er der Ansicht war, die
historische Thatsache, welche der genannten Inselgruppe im
Jahre 1844 zu einer rationellen Zeitzählung verhalf, sei bei
uns in Europa ganz unbekannt geblieben. Hierin war er nun
freilich im Irrtum; die Bücher, welche er zu Rate gezogen,
waren teils ältere, teils solche, die auf einen eigentlich wissen¬
schaftlichen Inhalt keinen Anspruch erheben können, und so ent¬
ging ihm, wie v. Danckelman und der Unterzeichnete bereits
früher darlegten, dass er mit dem Inhalte des Kapitels für Fach¬
kreise nichts neues bringen konnte. Immerhin ist die hier ge¬
gebene Erzählung des Herganges auch für jene gewiss nicht un¬
interessant, umsomehr, da der Originaltext des Erlasses abgedruckt
wird, kraft dessen dereinst in Spanisch-Ostindien vom 30. De-
cember 1844, mit Auslassung des Sylvestertages, zum I. Januar
1845 übergegangen wurde. Es hat übrigens v. Danckelman
betont, dass trotz dieses Fortfalles der sog. »geschichtlichen
Datumsgrenze« die Datierung in einzelnen Teilen Polynesiens
noch immer keine so einheitliche ist, wie man erwarten sollte.
Die Canarischen Inseln, insbesondere Lanzarote
und die Isletas. Vortrag, gehalten den 10. Februar 1892
von Prof. Dr. Oskar Simony. Mit 10 Tafeln. Wien, 1892.
Selbstverlag des Vereines zur Verbreitung naturwissenschaft¬
licher Kenntnisse, kl. 8°. 74 S.
Der unmittelbare Zweck, welcher den als Mathematiker
wohlbekannten Österreichischen Gelehrten nach den Canarischen
Inseln führte, war ein astrophysikalischer; auf dem Pik de Teyde
wurden spektralanalytische Beobachtungen angestellt, über die
wir uns hier nicht verbreiten wollen, weil Aussicht besteht, dass
das »Ausland« auf diese — auch für die Physik der Erde sehr
wichtigen — Studien später wird zurückkommen können. In
dem Autor, dem Sohne des Geographen F. Simony, war aber
auch der geographische Geist mächtig genug, um ihn neben
seinem eigentlichen Arbeitsziele auch der Natur der von ihm
bereisten Inselgruppe seine Aufmerksamkeit zuwenden zu lassen,
und so ist denn die in diesem Schriftchen gegebene Schilderung
der nordöstlichsten, der afrikanischen Festlandküste nächst be¬
nachbarten Canarien von grossem Interesse für die Erdkunde als
solche.
Die Vulkane sind es, welche auch auf diesen Eilanden die
geologische Ortsbeschaffenheit und den Landschaftscharakter be¬
stimmen, und wenn auch durch v. Buch, v. Fritsch und andere
Forscher die Vulkangeographie der westafrikanischen Inselwelt in
den Hauptpunkten ergründet ist, so kann die lebensvolle Dar¬
stellung des Herrn Simony darum doch nicht minder wertvolle
Ergänzungen darbieten, so über die sonderbare Gekröselava, über
die »Hornitos« , über die als »Calderas« bekannten Ilohlräume,
welche hier wie auf den Azoren (dort portugiesisch als »Cal-
deiras« bezeichnet und von Hartung näher untersucht) eine
grosse Rolle spielen. Aber auch die Pflanzen- und Tierwelt hat
einen hingebenden Beschreiber in dem Verfasser gefunden, wie
denn die von ihm nach Wien zurückgebrachte zoologische Aus¬
beute den Fachmännern des Naturhistorischen Hofmuseums zu
mehreren Monographien Veranlassung gegeben hat (s. Ausland,
1892, Nr. 7).
Ausser zwei Kärtchen sind der kleinen Schrift mehrere
von Herrn Simony selbst ausgeführte Photogramme beigegeben,
welche in das Wesen gewisser vulkanischer Gebilde einen über¬
raschend guten Einblick verstauen. Ein Bild, wie dasjenige des
als »Hornito quemado« bekannten Lavaschlotes (Tafel III) wird
durch die treueste Sachbeschreibung, was Einsicht in die Natur
der eruptiven Vorgänge anlangt, niemals erreicht werden.
S. Günther.
Verlag der J. G. Cotta’sehen Buchhandlung Nachfolger
in Stuttgart.
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft ebendaselbst.
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DAS AUSLAND
Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde
herausgegeben von
SIEGMUND GÜNTHER.
Jahrgang 65, Nr. 28. Stuttgart, 9. Juli 1892.
Jährlich 5a Nummern ä 16 Seiten in Quart. Preis pro Manuskripte und Rezensionsexemplare von Werken der
Quartal M. 7.— Zu beziehen durch die Buchhandlungen des einschlägigen Litteratur sind direkt an Professor Dr.SIEGMUND
ln- und Auslandes und die Postämter. GÜNTHER in München, Akademiestrasse 5, zu senden.
Preis des Inserats auf dem Umschlag so Pf. für die gespaltene Zeile in Petit.
Inhalt: I. Neue hydrographische Karten von Süddeutschland. Von Adolf E. Förster (Wien). S. 433. — 2. Wald-,
Heide- und Moorllächen der Niederlande. Von W. Götz (München). S. 436. — 3. Der Kosiyut-Bund der Bella-Coola-Indianer.
Von J. A. Jacobsen (Berlin). S. 437. — 4. Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien. Von C. Ballod (Jena). (Fortsetzung.)
S. 441. — 5. Geographische Mitteilungen. (Pechuel-Loesches Studien zur Morphologie der Wüstenlandschaft; Erdumdrehung und
Körperbeschaffenheit nochmals.) S. 446. — 6. Litteratur. (Missernte und Notstand.) S. 448.
Neue hydrographische Karten von Süd¬
deutschland.
Von Adolf E. Förster (Wien).
Durch die 1883 ins Leben gerufene Reichs-
komission zur Untersuchung der Stromverhältnisse
des Rheins und seiner bedeutenderen Nebenflüsse
und der Hochwässer des R h e i n gebietes wurde ein
äusserst reichhaltiges Material über alle hydrogra¬
phischen Verhältnisse des Rheingebietes zusammen¬
gebracht, »wie dies bisher in solcher Vollständigkeit
noch von keinem anderen Flussgebiet an einer Stelle
gesammelt ist.« Hs war der Kommission nicht
möglich, alle diese wertvollen Beiträge der einzelnen
am Rheingebiete beteiligten Bundesstaaten des
deutschen Reiches, der Schweiz und Oesterreichs
zu publizieren, sie musste sich begnügen bloss die
Hauptresultate daraus zu veröffentlichen x ) und über-
liess es den einzelnen Staaten, die von ihnen ge¬
lieferten Beiträge nach ihrem Belieben zu verwerten.
Als ein solcher Beitrag kann auch die jüngst
erschienene »Hydrographische Uebersichts-
karte des Königreiches Württemberg« im
Maasse 1 : 60000 vom Inspektor C. Regel mann,
herausgegeben vom königl. württ. statistischen
Landesamte 1891, angesehen werden. Dieselbe ist
zwar nicht ganz neu. Bereits 1884 ist sie als Bei¬
lage zur Arbeit Regelmanns: Flächeninhalt der
Flussgebiete Württembergs-) erschienen,
doch damals ist diese Karte trotz ihrer Güte nur
wenig bekannt geworden. Für letztere spricht wohl
der Umstand, dass die Rheinkommission den ein-
*) Der Rheinstrom und seine wichtigsten Nebenflüsse.
Herausg. vom Centralbureau für Meteorologie und Hydrographie
im Grossherzogtum Baden. Berlin 1889.
2 ) Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landes¬
kunde, 1883, Supplement-Band S. 3—48. Herausg. vom kgl.
württemb. statistischen Landesamte. Stuttgart 1884.
Ausland 1892, Nr. aß.
zelnen Bundesstaaten vorschrieb, der hydrographi¬
schen Beschreibung der zum Rheingebiet gehörigen
Teile ihres Landes eine hydrographische Karte nach
Muster der württembergischen beizulegen. Eine
eingehende Besprechung der zweiten (Neu-)Bearbei¬
tung unter steter Berücksichtigung der ersten Aus¬
gabe dürfte daher gerechtfertigt erscheinen.
Dieselbe reicht wie die ältere Karte ungefähr
von 47 ft 15' — 49 0 51' nördl. Br. und von 18 0 15'
— io° 38' östl. v. Gr.; ihre Grenzen sind also etwa
durch folgende grössere Orte bezeichnet: im Süden
Wattenwyl und Dürnten in der Schweiz, im
Westen Landau und Neustadt a. d. Hardt in
der Rheinpfalz und Alzey in Rheinhessen, im
Norden Darmstadt in Hessen, im Osten Ans¬
bach und Dillingen in Bayern. Sie umfasst ein
Gebiet von 52924,3 km. Bei nur oberflächlicher
Vergleichung beider Karten macht sich bereits ein
grosser Unterschied zu Gunsten der Neubearbeitung
geltend. Zeigte die alte Karte das jetzt leider
manchmal noch übliche Abbrechen kartographischer
Darstellungen an den Landesgrenzen, indem über
letztere hinaus nur noch einzelne spärliche Angaben
sich finden, so ist dieses Prinzip bei der neuen mit
Recht gänzlich verlassen worden. Dieselbe stellt
sich dar als ein Stück der kartographisch abgebildeten
Erdoberfläche innerhalb der oben angegebenen Gren¬
zen. Dabei kommt aber das eigene Land nicht zu kurz.
In der ersten sowie in der Neuauflage sind die Fluss¬
gebiete, soweit sie Württemberg angehen, durch ein
zartes und deutliches Flächenkolorit hervorgehoben.
Dabei hat der Verfasser jedoch mit Recht nicht so
ängstlich an der Landesgrenze Halt gemacht, wie
dies auf den hydrographischen Karten von Baden 1 )
*) Hydrographische Uebersichtskarte des Grossherzogtums
Baden. 1 : 400000. Bildet die Beilage zu Heft 4 der Beiträge
zur Hydrographie des Grossherzogtums Baden: Die Flächen¬
inhalte der Flussgebiete Badens.
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434
Neue hydrographische Karten von Süddeutschland.
und von Oesterreich 1 ) der Fall ist, sondern auch
Flussgebiete, welche nur zum Teil zu Württem¬
berg gehören, sind mit Kolorit versehen, so das
gesamte Neckargebiet, das Taubergebiet und
das Gebiet der Donau bis einschliesslich Iller¬
gebiet einerseits, Eg au- und Brenz gebiet anderer¬
seits. Im ganzen sind dabei drei Farben zur An¬
wendung gekommen, zwei für das Rheingebiet,
nämlich eine für das erst mittelbar dem Rhein
tributäre Tauber gebiet, die andere für das Neckar-
und Bodenseegebiet, die dritte für das beide letzteren
trennende Donaugebiet. Von Wasserscheiden sind
fünf Gattungen unterschieden von der europäischen
Wasserscheide zwischen dem Gebiet der Nordsee
und des Schwarzen Meeres abwärts; solche eines
Gebietes von mehr als 400 km sind überdies durch
ein sie begleitendes Farbenband hervorgehoben. Ins¬
besondere interessiert der Verlauf der europäischen
Wasserscheide. Im Süden vom Schwärzen Grat
im Kemptener Wald bis westlich Pfullendorf
tritt sie in der Natur nur wenig deutlich hervor,
indem sie meist an den Verlauf alter Moränenwälle
sich knüpft, in der Rauhen Alb weist sie viel¬
fach Zacken und Vorsprünge nach Nordwesten auf,
indem sie ziemlich genau am oberen Rand des nörd¬
lichen Abfalles derselben entlang läuft und so dessen
Verlauf zeigt. Der grösste Teil der Rauhen Alb
wird mithin von Regelmann zum Donaugebiet
gerechnet.
Kommt gerade hierbei dem Verfasser die natür¬
liche Anschauung, welche er bei seinen trigono¬
metrischen Höhenbestimmungen von den meisten
Teilen Württembergs gewonnen hat, zu gute, so
gibt es doch auch Gebiete, wo selbst dies, ja vielfach
auch eingehende geologische Untersuchungen keine
Anhaltspunkte für das Verzeichnen der Wasserschei¬
den gewähren. Solche Gebiete wären entweder aus¬
zuscheiden oder nach der Ergiebigkeit der aus ihnen
kommenden Quellen zwischen denselben aufzuteilen.
In anderen Ländern mit stark permeablen Gebieten
wird sich dieselbe Unsicherheit in der Kenntnis der
Wasserscheiden ergeben. — Zahlreich aufgenommene
und auf N. N. und an Gewässern auf das Mittel¬
wasser reduzierte Höhenangaben, sowie auch die
eingeschriebenen Namen markanter Bodenerhebun¬
gen geben Anhaltspunkte für den mit den oro-
graphischen Verhältnissen des Landes minder Ver¬
trauten, da die Karte keine Terraindarstellung ent-
*) Hydrographische Uebersichtskarte von Oesterreich.
I : 500000. 6 Bl. Zum Amtsgebrauch im k. k. Ackerbau¬
ministerium angefertigt. 1888. (Dieselbe bricht nicht nur mit
dem Flächenkolorit, sondern sogar mit jeglicher kartographischer
Darstellung genau an der Grenze ab, so dass ein ganz willkür¬
liches und unnatürliches Bild der ja nur äusserst selten von
der politischen Grenze umrahmten Flussgebiete entsteht; ein
wenig nachahmenswertes Beispiel für die Herstellung solcher
Karten.)
Als Text dazu: Wilhelm Becker, Die Gewässer in
Oesterreich. Wien 1890. Herausg. vom k. k. Ackerbaumini¬
sterium. Enthält die Flächeninhalte der einzelnen Flussgebiete.
hält. Auch hierin liegt ein Vorzug der neuen Karte
gegenüber der alten, die nur wenige Höhenzahlen,
Bergnamen aber gar nicht aufgenommen hat. Wenn
aber die neue Bearbeitung eine Menge von Orts¬
namen bringt und die Orte selbst nach ihrer Grösse
durch die Schrift und die Ortszeichen unterscheidet,
so ist dies bei einer hydrographischen Uebersichts¬
karte wohl zu weit gegangen. Die erste Ausgabe
beschränkt sich hierin ausser wenigen anderen Orten
lediglich nur auf hydrographisch wichtige Orte.
Sonst haben noch in beiden Bearbeitungen Auf¬
nahme gefunden die hauptsächlich dem Jura eigen¬
tümlichen Erscheinungen der Quelltöpfe, von welchen
der Blautopf in Blaubeuren und die Quelle
der (Radolfszeller) Aach die bekanntesten sind
(ferner die hauptsächlich im Jura und in der Muschel¬
kalkplatte auftretenden Trockenthäler, die kleineren
in der Moränenlandschaft Oberschwabens exi¬
stierenden wurden wohl nicht berücksichtigt), so¬
wie die meteorologischen und die Pegelstationen
im Gebiet der Karte. In der neuen Karte sind die
meteorologischen Stationen in solche und in Regen¬
stationen unterschieden. Sie weist gerade in Würt¬
temberg gegenüber der alten einen grossen Zu¬
wachs von meteorologischen Stationen auf, da im
Jahre 1887 in richtiger Erkenntnis der Wichtigkeit
von Regenstationen für die Bestimmung der Wasser¬
führung der Flüsse das Netz der Württemberg i-
sehen meteorologischen Beobachtungsstationen um
45 Regenstationen vermehrt wurde. Das sehr reiche
Flussgeäder ist, wie auch die Benennung* der Flüsse,
in der ersten Bearbeitung schwarz, in der Neuauflage
blau, in letzterer überaus systematisch seiner Gat¬
tung nach durch verschiedene Breite unterschieden.
Die einzelnen Flussgebiete sind durch beigesetzte
Ziffern und Zahlen markiert, die mit den entsprechen¬
den Angaben der Schrift »Flächeninhalt der Fluss¬
gebiete Württembergs« korrespondieren. Die
Hauptresultate dieser Arbeiten sind bei der neuen
Karte am Rande angegeben. Während diese Ver¬
weise in der Karte bei der ersten Auflage mit feiner
schwarzer Schrift aufgedruckt sind, erscheinen sie
in der neuen stärker und in roter Farbe. Dadurch,
sowie durch das Blau des Flussgeäders und der
Flussnamen, dann auch durch die verschiedene Grösse
der Ortsnamen und Ortszeichen wirkt aber die neue
Karte weniger ruhig auf den Beschauer als die alte.
Auch die Arbeiten der Vollzugskommission für Her¬
stellung einer Bodenseekarte 1 ) sind für die Neu¬
bearbeitung verwendet worden, indem sie für den
Bodensee Isobathen mit Abständen von 50 zu 50 m
bringt. Im ganzen genommen ist diese Neubear¬
beitung eine sehr tüchtige Leistung des auch sonst
um die Landeskunde von Württemberg sehr ver¬
dienten Inspektors C. Regelmann in einer auch
x ) Näheres über dieselben in Graf E. Zeppelins Vortrag:
lieber die Erforschung des Bodensees. Verh. des IX. Deutschen
Geographentages. S. 198—208. Berlin 1891. D. Reimer.
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Neue hydrographische Karten von Süddeutschland.
435
technisch auf der Höhe der Zeit stehenden Aus¬
führung; und Geo- und Hydrographen müssen dem
Württ. statistischen Landesamte für die
Herausgabe dieser Karte dankbar sein. Sie ist samt
ihrer Vorgängerin, sowie den entsprechenden Publi¬
kationen des »Hydrographischen Bureaus der
Abteilung für Strassen- und Wasserbau im
königl. württemb. Ministerium des Innern
auch ein Zeugnis für die zunehmende Beachtung,
welche sich die Hydrographie im letzten Jahrzehnt
auch in Württemberg zu erfreuen hatte.
Es liegt nahe, die eben besprochene Karte mit
den im Laufe des letzten Jahrzehntes erschienenen
hydrographischen Karten von dem rechtsrheinischen
Bayern und Baden zu vergleichen, um aus ihrer
Verschiedenartigkeit Anhaltspunkte zu bekommen
für das, was in eine hydrographische Uebersichtskarte
aufzunehmen ist *).
Die hydrographischeUebersichtskarte des
Grossherzogtums Baden 2 ), 1885 vom Central¬
bureau für Meteorologie und Hydrographie
in Karlsruhe herausgegeben, enthält trotz des um
die Hälfte grösseren Maasstabes (1 : 400000) kein
reicheres Wassergeäder als die württembergisehe,
ermöglicht aber dadurch noch die Aufnahme der
zahlreichen für die Moränenlandschaft Oberschwa¬
bens charakteristischen Weiher und kleinen Seen.
Ausser den gewöhnlichen hydrographischen Details
enthält sie noch Terraindarstellung in Schummerung
und Höhenkurven von 200 zu 200 m Abstand.
Von dem rechtsrheinischen Bayern besitzen
wir dank der Thätigkeit der kgl. bayer. obersten
Baubehörde mehrere hydrographische Uebersichts-
karten, indem die 1881 erschienene hydrogra¬
phische Karte (Maasstab 1 : 750000) speciellen
Darstellungen wie einer ombrometrisch-hydro-
graphischen und einer orographisch-hydro-
graphischen Karte zur Grundlage diente; erstere
1885, letztere 1888 erschienen 3 ). Diese drei Karten
brechen mit der Darstellung an den Grenzen der
ganz oder nur teilweise zu Bayern gehörigen
Flussgebiete ab. Sie enthalten also das gesamte Main¬
gebiet und das Donaugebiet bis unterhalb Passau
samt dem ganzen Inngebiet, schliessen aber anderer¬
seits das Gebiet der bayerischen Bodenseezu¬
flüsse, der Eger und der Saale aus. Bei dem
*) Die Uebersichtskarte der Niederschlagsgebiete des Rheins
und seiner Nebenflüsse in Eisass-Lothringen im Maasse von
1 : 500000 (Tafel 2 im Atlas zum i. Heft der technisch-statisti¬
schen Mitteilungen über die Stromverhältnisse des Rheins längs
des elsass-lothringischen Gebietes, aufgestellt im Ministerium für
Eisass-Lothringen, Abteilung für Gewerbe, Landwirtschaft und
öffentliche Arbeiten, Strassburg 1885) ist bloss eine flüchtige
Skizze und wurde deshalb nicht zum Vergleich herbeigezogen.
Von der Rheinpfalz und vom Grossherzogtum Hessen, sowie
von den norddeutschen Staaten sind mir keine derartigen hydro¬
graphischen Uebersichtskarten in einem grösseren Maasstabe
bekannt.
2 ) Siehe Anmerkung 1 auf Seite 433.
3 ) Alle drei Karten von der kgl. bayer. obersten Bau¬
behörde herausgegeben.
etwas kleinen Maasstab war manche Zurückhaltung
bei Aufnahme hydrographischen Details in die Karte
notwendig. Von Wasserscheiden werden vier Gat¬
tungen unterschieden. Höhenzahlen und Bergnamen
enthält die hydrographische Karte nicht. Diese Karte
hat wie oben erwähnt auch als Grundlage für eine
oro-hydrographische Karte gedient. Letztere bringt
ausser den Angaben der hydrographischen Karte
noch Höhenschichten, hört aber mit denselben eben¬
falls an den Grenzen der Flussgebiete auf. Das
orographische Element überwiegt auf ihr vor dem
hydrographischen; die Verfolgung der Neben Wasser¬
scheiden wird insbesondere im Hochgebirg äusserst
schwierig. Und doch muss sie als wertvolle Ver¬
vollständigung der hydrographischen Karte freudigst
begrüsst werden. Die badische hydrographische
Karte erzielt trotz des Flächenkolorits der zwei Haupt¬
flussgebiete (freilich nur im eigenen Lande) nicht
die beabsichtigte hydrographische und orographische
Uebersicht. Wohl tritt das östliche Randgebirge
der oberrheinischen Tiefebene und der nördliche
Abfall des schwäbischen Jura deutlich hervor;
der südliche dagegen ist weniger deutlich, die Terrain¬
verhältnisse in Oberschwaben aber sind ganz aus¬
druckslos dargestellt. Die Höhenkurven von 200
zu 200 m genügen höchstens im Schwarzwald,
um ein Bild der Abflussrichtungen zu geben. Die¬
selben sind, wie auch die reichliche Beschreibung
der Karte mit speciellen Lokalnamen der »Jordan-
schen Höhenübersichtskarte von Baden,
Württemberg und Hohenzollern« 1 ) entnommen.
Auch in der badischen Karte erschwert die Terrain¬
darstellung die Verfolgung der Neben Wasserscheiden
sehr. Fassen wir die eben besprochenen hydro¬
graphischen Karten von Baden, Bayern, (speciell
die orographisch-hy drographische Ausgabe) und W ü r t-
temberg als Muster solcher Darstellungen auf, so
kann man wohl aussprechen, dass die württ em-
bergische Karte am meisten dem Wesen einer
hydrographischen Uebersichtskarte entspricht, nur
manchmal zu viel bringt. Terraindarstellung sollte
aus hydrographischen Uebersichtskarten überhaupt
fortgelassen werden; zahlreiche Höhenzahlen, sowie
mässig eingeschriebene Berg- und eventuell auch Ge-
birgsnamen müssen genügen, die orographischen
Verhältnisse des Landes zu vergegenwärtigen.
Dabei empfiehlt sich der Vorgang der königl.
bayer. obersten Baubehörde sehr zur Nach¬
ahmung, die hydrographische Karte durch Ausgabe
einer orographischen in gleichem Maasstabe und mit
Hervorhebung der einzelnen Flussgebiete zu ver¬
vollständigen. In letzteren sollten nur Höhenkurven
beziehungsweise Höhenschichten zur Vorstellung der
Terrain- und damit auch der Abflussverhältnisse ver¬
wendet und die Individualität des darzustellenden
J ) 1878 in 2. Auflage erschienen. Karlsruhe, G. Braun.
Trotz des ziemlich grossen Maasstabes (i : 400000) trägt auch
diese Uebersichtskarte der Individualität der darin dargestellten
Gegenden nicht allenthalben Rechnung.
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436
Wald-, Heide- und Moorflächen der Niederlande.
Landes möglichst berücksichtigt werden, wie dies
z. B. in Leuzingers Reliefkarte von Mittel¬
und Südbayern 1 ) so trefflich durchgeführt ist.
Ein frommer Wunsch, zur Zeit noch, in Baden
aber seit kurzer Zeit zur Verwirklichung gebracht,
wäre die Beigabe einer Waldkarte im gleichen Maass¬
stabe der hydrographischen Karte mit Angabe der ein¬
zelnen Flussgebiete und Unterscheidung der Bestands¬
arten. Hat man auch lange den Einfluss des Waldes
auf Klima und Wasserwirtschaft über- und wohl auch
unterschätzt und erst jetzt denselben durch zwar um¬
ständliche aber genaue Messungen festzustellen ver¬
sucht 2 ), so ist derselbe doch gerade in Bezug auf
die Wasserwirtschaft äusserst wichtig, und Waldkarten
sind daher ein notwendiges Hilfsmittel beim Studium
der hydrographischen Verhältnisse eines Landes.
Als freilich in weiter Ferne stehendes Ideal
möchte uns dann die Vereinigung dieser Karten mit
einer solchen der mittleren jährlichen Niederschlags¬
mengen , ähnlich der bayerischen ombrometrisch-
hydrographischen Karte, und einer geologischen, auf
der die einzelnen Schichten nach ihrer grösseren
oder geringeren Permeabilität besonders zu kenn¬
zeichnen wären, unter steter Berücksichtigung der
hydrographischen Verhältnisse zu einem hydrographi¬
schen Atlas vorschweben, wie es auch bei den Ueber-
sichtskarten zum Rheinstromwerk ist 3 ), freilich nur
in einem kleinen Maasstabe (1:2000000) zur
Durchführung gelangte.
Bei Zunahme der Kenntnis der Abflussmengen
eines Gebietes sollten, wie dies in der »Carta idro-
graphica dell Italia« geschieht 1 ), auch diese Auf¬
nahme in die hydrographischen Uebersichtskarten fin¬
den, vielleicht durch Verwendung verschieden grosser
Zeichen bei den Pegelstationen, ähnlich den die Ein¬
wohnerzahl bezeichnenden Ortszeichen, eventuell auch
durch Beisetzung kleiner Zahlen. In analoger Weise
könnte dann auch in der geologischen Karte das
Verhältnis von Niederschlag zum abfliessendcn Wasser
angedeutet werden. Doch das sind noch für sehr
lange fromme Wünsche.
Bei gleichzeitigem Gebrauch der drei bespro¬
chenen Karten ist ihr verschiedener Maasstab sehr
hinderlich. Dieselben sind jedoch als Bausteine für
ein erstrebenswertes Endziel: für die Herstellung
hydrographischer Karten, beziehungsweise At¬
lanten natürlicher, durch keine politischen Gren¬
zen willkürlich begrenzter Stromgebiete, von
grösstem Wert. Einstweilen müssen wir mit jedem,
wenn auch nur kleinem Erfolg zufrieden sein und
mit Freuden begrüssen, dass als Beilage zu dem im
*) Augsburg von Lampart. Maasstab I : 500000. Speciell
die physikal.-geogr. Ausgabe.
*) Darüber vergl. Penck, Forstliche Meteorologie in
Oesterreich. Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik,
XIII. Jahrg., 7. Heft.
3 ) Siehe Anmerkung 1 auf Seite 433.
4 ) Nach einem Referate Vogels über diese Karte im
Litteraturverzeichnis zu Petermanns Mitteilungen 1889, S. 169,
Nr. 2626.
käis. statistischen Amte zu Berlin bearbeiteten
Werke: »Die Stromgebiete des deutschen
Reiches, hydrographisch und orographisch be¬
schrieben« 1 ), eine hydrographische Karte des
deutschen Reiches erscheinen wird. Möge die¬
selbe die Erfahrungen, die sich aus den drei vor¬
liegenden Karten ergeben, sich zu nutze machen und
ein rühmliches Zeugnis echter deutscher Arbeit werden!
Wald-, Heide- und Moorflächen der Nieder¬
lande.
Von W. Gütz (München).
Das klassische Land der »Moorkultur« in Mittel¬
europa ist das Gebiet um die Südersee. Denn hier
kam es bereits im Mittelalter (vielleicht noch früher)
auf, durch Abbrennen der obersten Torfschicht eine
chemische Umsetzung der Bodendecke zu bewirken,
welche dann einige Jahre Saat und Ernte gestattet.
Sodann aber hat man ebendort schon gegen Ende
des vorigen Jahrhunderts damit begonnen, durch
wasserstandregulierende, schiffbare Kanäle und durch
Bodenmischungen die Humusmasse der Moore, hier
»Venn« genannt, anbaufähig zu gestalten. Ebenso
kam man in den Niederlanden allein zu dem Fort¬
schritte, in die kolonisierten Striche des Moorgebietes
auch die Industrie zu verpflanzen. Denn man er¬
kannte rechtzeitig genug, man dürfe es nicht durch
eine zu geringe Zuweisung von Ackerflächen an die
Kolonistendörfer verschulden, dass Armut und Unzu¬
friedenheit in den Neuschöpfungen einkehre, sondern
man verhüte durch die Mehrseitigkeit des Erwerbes,
d. h. das Hinzukommen industrieller Anlagen, die
Nachteile unzureichender Bodenerträgnissc inmitten
der Heide- und Moorflächen.
Eine grosse Unternehmergesellschaft wurde auf
Anregung des Staates ins Dasein gerufen, die »Neder-
landsche Heide-Maatschappij«, welche in systemati¬
scher Weise und im grossen Stile Aufforstung und
Kolonisation der Oedgründe, insbesondere auch der
Vennmoore (allerdings ein Pleonasmus, aber zur
Verdeutlichung üblich geworden), in die Hand ge¬
nommen. Für ihren Zweck zeigte sich aber als ein
vorderstes Bedürfnis die Klarstellung der Bodenfläche,
welche für sie in Betracht kommen kann, zugleich
auch eine genauere Kenntnis der Verteilung der
Waldflächen im Lande, da bei der bestehenden Wald¬
armut gerade die Ersetzung dieses Mangels für die
einzelnen Distrikte je nach deren Waldverhältnissen
ins Auge zu fassen wäre. Da aber eine statistische
Erhebung von seiten der Staatsbehörde nicht in
wünschenswert kurzer Zeit zu erwarten war, so Hess
sich aus Liebe zur Sache ein Beamter der genannten
Heide-Maatschappij dazu herbei, eine Uebersicht der
Waldungen und Oedgründe der Niederlande mittels
einer sorgfältigen statistischen Arbeit und zweier statt-
*) Statistik des Deutschen Reiches, Neue Folge, Bd. 39.
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Der Kosiyut-Bund der Bella-Coola-Indianer.
437
licher anschaulicher Karten herzustellen 1 ). Dr. H-
Blink nämlich führt nach Provinzen und in diesen
nach Katastralgemeinden sowohl die Ausdehnung des
bewaldeten Grundes (mit Unterscheidung der Fichten¬
bestände) als in einer gemeinsamen Kolumne die
Grösse des Heide-, Venn- und Dünensandgebietes
vor. Es werden wohl verschiedene Hindernisse ge¬
wesen sein, welche eine Ausscheidung dieser für An¬
bauarbeit beträchtlich unterschiedenen Bodenflächen
unthunlich machten. Allerdings müssen wir hier her¬
vorheben , dass das Brennverfahren, besonders bei
der zumeist kalkreicheren Beschaffenheit der dortigen
Vennmoore, gewöhnlich eine ausgedehnte Heidebe¬
deckung der betreffenden Flächen zur Folge hat,
wenn deren Anbaujahrgänge vorüber sind. Infolge¬
dessen lässt sich für eine längere Reihe von Jahren
Venn- und Heidegebiet statistisch oder kartographisch
nicht verlässig trennen.
Die beiden beigegebenen Karten veranschaulichen
sehr übersichtlich. Die eine legt uns die Bewaldung
in acht verschiedenfarbigen Angaben je nach dem
Prozentanteil an der Gesamtfläche der Gemeinden
vor. Die bewaldetsten Striche hat das Gebiet
zwischen Ijssel und Vecht, sowie das nördliche Lim¬
burg, vorwiegend zwischen 15 und 35 Prozent des
Gesamtareales. Ohne Wald und nur mit 1—5 Pro¬
zent behilft sich etwa die Hälfte des Landes nörd¬
lich einer Linie von Nijmwegen nach der belgischen
Scheldemündung. Die Karte der dreierlei Oedgründe
ist durch den Umstand einfacher für das Auge, weil
sich nur der Osten nördlich des Rheines, sodann
das Gebiet westlich der Ijssel bis nahe zur Vecht,
endlich zwischen Roermündung, Maas-Waal und
Biesbosch als beträchtlich mit genannten Oberflächen¬
arten bedeckt erweist.
Wir in Deutschland würden freilich hinsichtlich
der neuerdings so lebhaft behandelten Moorkultur¬
frage sehr dankbar und erfreut sein müssen, wenn
uns über eines und das andere unserer grösseren
Moorgebiete ähnlich sorgfältige und gefällige Ar¬
beiten Klarheit schaffen würden. Wir haben aber
wenigstens neuerdings die Möglichkeit, für eines
der grössten Moorgebiete Mitteleuropas, nämlich für
Südbayern, auf Grund der im Gange befindlichen
eingehenden Erhebungen der Staatsregierung das
wünschenswerte Material zu der fraglichen Seite der
Landeskunde zu gewinnen.
Der Kosiyut-Bund der Bella-Coola-Indianer.
Von J. A. Jacobsen (Berlin).
In einem Artikel der Nr. 47, Jahrgang 1891,
des »Ausland«: »Reiseberichte aus unbekannten Teilen
Britisch-Columbiens, von Philipp Jacobsen«, ge¬
schieht mehrfach des Gottes Kosiyut Erwähnung,
*) Dr. H. Blink, Overziclit van de Uitgestrektheid der
Bosschen en der Woeste Gronden in Nederland. Amsterdam,
H. Gerlings, 1891. 28 S.
Ausland 189a, Nr. 28.
und daher dürfte es von Interesse sein, etwas Näheres
über den Gott und den nach ihm benannten Geheim¬
bund zu erfahren.
Wennschon die Küstenbewohner Nord west -
amerikas insgesamt sich durch starres Festhalten
am Althergebrachten auszeichnen, so tritt diese kon¬
servative Richtung doch ganz besonders bei den Be¬
wohnern der Küstenstrecke von der Juan de Fuca-
Strasse bis zum St. Eliasberg hervor; denn hier werden
die von den Vorvätern überkommenen mysteriösen
Gebräuche so heilig gehalten, dass man diese Stämme
als besonders religiös bezeichnen könnte, wenn
dieses Wort bei ihrem verworrenen Glauben, der
keineswegs als positive Religion angesehen werden
kann, nicht zu viel bedeutete.
Sind nun auch die Gebräuche durch das Her¬
kommen genau begrenzt und in ihren Formen fest¬
stehend, so sind dem gegenüber die Begriffe von
der Gottheit, namentlich was den Gott Kosiyut
angeht, der in den Erzählungen, wie auch im Leben
der Indianer eine grosse Rolle spielt, so aus einander
gehend, dass man wohl oder übel glauben muss,
dass sie selbst keine bestimmte, abgeschlossene Vor¬
stellung von dem Wesen und Walten des Gottes
haben. Zwar nicht erschöpfend, scheint es doch
am meisten zutreffend, wenn er als der Inbegriff
des Unbegreiflichen, Heiligen, Kunstvollen bezeichnet
wird; denn dies alles heisst bei den Indianern Kosi¬
yut, ganz ähnlich wie bei den Polynesiern und
Melanesiern das Wort Tabu oder Pomali.
Alle ihre Götter haben die Gestalt von Unge¬
heuern, halb Tier, halb Mensch, sind aber darauf
nicht beschränkt, sondern können, je nach Wollen
und Umständen, auch jede andere Form annehmen,
erscheinen jedoch mit Vorliebe in einer gewissen
Lieblingsgestalt, die sie den Menschen kenntlich
macht. Ihrem Aufenthalte nach werden unterschieden:
Götter der Unterwelt, die meist als Meeresbewohner
gedacht sind, Wald- und Berggeister und Götter der
Oberwelt und der Wolken, welche den Himmel be¬
wohnen und von den meisten Stämmen als die mäch¬
tigsten betrachtet werden.
Einer der letzteren ist, nach dem verbreitetsten
Glauben, der Gott Kosiyut, der den Mond (En-
kla-loi-killa) zu seinem Aufenthalte erkoren hat und
daher mit diesem identificiert wird. Ausserdem hat
aber der Gott, ganz der Lebensweise der Indianer
entsprechend, noch andere Wohnorte und wird bei¬
spielshalber auch als Gott des Waldes verehrt.
Mit Bezug auf die erste Vorstellung vom Kosi¬
yut glauben die Indianer, wenn Mondfinsternis ein-
tritt, dass der Mond zur Erde herabgekommen sei,
um irgendwo einen Kosiyut-Tanz aufzuführen, und
färben daher ihr Gesicht beim Kosiyut-Fest schwarz.
Auch erregt diese Naturerscheinung ihre Furcht, die
in der Vorstellung begründet ist, dass der Mond,
wenn er die dunkle Hülle nach und nach entfernt,
die Teile derselben zur Erde wirft, was den Tod
desjenigen zur Folge hat, der davon getroffen wird.
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438
Der Kosiyut-Bund der Bella-Coola-Indianer.
Bei den Kosiyut-Festen gelangen die Götter
durch Masken zur Darstellung, die je nach der Art
der Geister (Geister des Waldes, des Berges, der
Unterwelt und der Oberwelt) einen anderen Gesichts¬
ausdruck tragen. Merkwürdigerweise sieht man dabei
jedoch von dem Gott, nach dem das Fest benannt
ist, wenig; eine charakteristische Vorführung des
Kosiyut oder Mondes erfolgt nicht, nur weist das
Schwärzen des Gesichtes, das von den Tänzern
allerdings mit peinlicher Genauigkeit ausgeführt wird,
darauf hin; und wenn einer der Tänzer in besonders
kunstvoll geschnitzter Maske, mit sinnreichem, den
Zuschauern unverständlichem Mechanismus erscheint,
so ist es »Kosiyut«.
Im engsten Zusammenhang mit diesen Kosiyut-
Festen steht der anfangs erwähnte Geheimbund,
da die aktiv dabei Beteiligten Mitglieder des Kosiyut-
Bundes sind, der namentlich in dem vorgenannten
Küstenstrich weit verbreitet ist. Er bildet die Vor¬
stufe für die übrigen Geheimbünde; denn »Kosiyut«
muss derjenige bereits sein, der in einen anderen
Bund aufgenommen werden will. Immerhin sind
es jedoch nur wenige Auserwählte, meist Jünglinge
und mannbare Mädchen (obgleich verheiratete Per¬
sonen nicht ausgeschlossen sind), die Aufnahme
finden.
Die Novizen werden von Lehrern, deren Würde
von dem Vater auf den Sohn forterbt, und von
denen meist nur einer, seltener zwei, in einem Dorfe
ansässig sind, in den Mysterien und Tänzen unter¬
richtet und dürfen, ebenso wie die Lehrer, das Dorf
im Laufe des ersten Jahres nicht verlassen. Ferner
müssen sie Kopf- und Halsringe von rotgefärbtem
Baumbast, die sie vom Lehrer erhalten, während des
Lehrjahres unausgesetzt tragen; auch dürfen sie diese
Ringe in der Festzeit, November und Dezember,
nicht ablegen. Das Gesicht soll stets schwarz ge¬
färbt sein, so dass auch nicht ein Punkt der Ge¬
sichtsfarbe sichtbar wird. Diese Vorschrift wird je¬
doch während der Tageszeit nicht so genau genommen,
von Eintritt der Dunkelheit ab aber streng beobachtet.
Beinkleider zu tragen ist verboten, dagegen eine
saubere wollene Decke, die Tracht der Väter, vor¬
geschrieben. Unerlässliche Bedingung ist ein ernstes
Wesen; Lachen und Scherzen ist verpönt, ebenso
der Verkehr mit den früheren Spielgefährten. Auch
dürfen die Novizen während des ersten Jahres sich
nicht auf das Wasser begeben, da sie dadurch die
Fische von der Küste verscheuchen würden.
Ein Preisgeben der Bundesgeheimnisse wird
durch den alten Kosiyut oder einen Medizinmann
mit dem Tode bestraft.
Wie schon angedeutet, haben die Mitglieder
des Kosiyut-Bundes den Vorzug, auch den anderen
Geheimbünden, besonders denen der Medizinmänner
und der »Allk« oder »Nutlo-matla« genannten Ver¬
bindung beitreten zu können. Von der Gottheit in¬
spiriert, haben sie die Fähigkeit, Uebematürliches
auszuführen, besitzen gewissermaassen einen Teil
der Kraft des Gottes und zeigen diese, um ihre
Echtheit darzuthun, indem sie den Zuschauern, von
denen nur wenige dem Bunde angehören, zuweilen
recht bemerkenswerte Kunststücke vorführen.
Weisse, die früher solchen heiligen Winterfesten
beiwohnten, glaubten daher auch, es mit Medizin¬
männern zu thun zu haben, da diese in solchen
Produktionen Hervorragendes leisten und sie auch
bei der Heilung von Kranken zur Anwendung
bringen. Hierzu gebraucht der Kosiyut seine Fähig¬
keiten niemals, da dies Sache der Medizinmänner
ist, die in erster Linie ja auch Kosiyuts sind.
Die von den jungen Kosiyuts ausgeführten
Kunststücke wechseln mannigfach ab; denn jeder ist
bestrebt, etwas Neues zu bringen. Neben dem, auch
von den Medizinmännern oft beliebten Experiment,
sich lebendig verbrennen zu lassen, werden auch
glühende Steine oder glühendes Eisen in den blossen
Händen getragen. Andere schlitzen sich den Bauch
auf, lassen sich den Kopf abschneiden oder eine
Lanze durch den Leib stossen u. a. m.
Mein im Lande lebender Bruder hatte im ver¬
gangenen Winter Gelegenheit, bei einem Kosiyut-
Feste ein Kunststück zu beobachten, das thatsächlich
unbegreiflich erscheint. Ein junger Indianer hatte
nackt einen Tanz aufgeführt und bat darauf die Zu¬
schauer, ihm eine Matte überzuwerfen, die alsbald
so fest an seinem Rücken haften blieb, dass vier
Männer, welche mit aller Gewalt an der Matte
zerrten, wohl den Indianer daran hochheben, diese
aber nicht von seinem Körper trennen konnten.
Ebenso erfolglos waren weitere, vor dem Hause fort¬
gesetzte Versuche; die Matte blieb, wie mit dem Tän¬
zer verwachsen, an seinem Rücken haften, ohne dass
der Zusammenhang bemerkbar gewesen wäre.
Der weibliche Teil der Kosiyuts sucht seine
Force hauptsächlich im Wahrsagen und leistet darin
scheinbar Erstaunliches.
So gab eine Kosiyut-Frau in einem Dorfe,
wo das Kosiyut-Fest abgehalten wurde, und das
vier Wegstunden über Wasser von einem anderen
Dorfe, wo man gleichfalls ein Fest feierte, entfernt
lag, alles genau detailliert an, was sich zu derselben
Zeit bei dem Feste ereignete, und ihre Angaben
zeigten sich als vollkommen zutreffend, als Fest¬
teilnehmer zum Dorfe zurückkehrten und über den
Verlauf des Festes befragt wurden.
In Uebungen und Unterricht geht der Sommer
vorüber und die Zeit kommt heran, wo die Auf¬
genommenen den erwarteten Geist Noa-kinem
sehen sollen. Haben sie ihn erblickt, so wird geschäftig
hantiert: das Haus wird in stand gesetzt, d. h. man
entfernt die Pfähle und Matten, die die Schlafstätten
der einzelnen Familien von einander trennen, der
Fussboden, der aus festgestampfter Erde besteht,
wird überall geebnet, das nötige Brennholz ge¬
schlagen , in der Mitte des Hauses aufgeschichtet
und bei einbrechender Dunkelheit in Brand gesetzt.
Nun beginnt der Tanz.
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Der Kosiyut-Bund der Bella-Coola-Indianer.
439
Meist setzt sich eine alte Frau ans Feuer und
schüttet aus einem grossen, schlauchartigen, aus See¬
tang hergestellten Behälter von Zeit zu Zeit etwas
Thran in die Flammen, die dadurch bis zum Dach¬
gebälk auf lodernd, die Tanzscene grell beleuchten.
Die Tänze des Kosiyut gehören zu den sog.
Unterwelttänzen, da der Kosiyut meist nur vom
Gotte der Unterwelt, dessen Empfang das Fest ver¬
herrlicht, inspiriert ist. Seltener gelangen Oberwelt¬
tänze, jedenfalls aber erst am vierten und letzten
Festtage zur Aufführung, wie wir weiterhin noch
zeigen werden.
Bei der Nachricht, dass in diesem oder jenem
Dorfe ein Tanz begonnen hat, hört man daher auch
die Frage von den Indianern: »Ist es ein Tanz der
Unterwelt, oder der Wolken?«
Während der ersten drei Tage des Kosiyut-
Festes tanzen die Novizen mit geschwärzten Ge¬
sichtern und den vorerwähnten roten Kopf- und
Halsringen. Sie sind die Hauptpersonen, welche unter
Leitung des alten Kosiyut, ihres Lehrers, der hier
als Ceremonienmeister funktioniert, die ersten und
letzten Tänze aufführen, die, wie bereits gesagt,
Tänze der Unterwelt sind und »Di-kenk-di-nachom«
genannt werden. Bei diesen Novizentänzen dürfen
die älteren Kosiyuts nur tanzen, wenn der Cere¬
monienmeister ihre Gesänge aufruft.
Die Aufnahme in den Bund und diese Tage
des ersten Festes bilden daher auch den Glanzpunkt
im Leben des jungen Kosiyut; er denkt gern daran
zurück und erzählt bis ins späte Alter mit Stolz
davon.
Am vierten Tage, der das Fest abschliesst, wird
der Besuch der Geister der Unterwelt, geführt von
Noa-kinem,ihrem Beherrscher, sowie der des Waldes
und der Berge, bei dem mächtigsten Gott der Ober¬
welt, Al-kon-däm, nach anderer Version auch Mess-
mess-saldnik genannt, dargestellt. Alle Teilnehmer
tanzen in Masken, die neben den eigentlichen Götter¬
masken, je nach den Familientraditionen der Tänzer,
charakteristisch sind. Auch bedient man sich der
Flöten, durch deren Töne die Stimmen der Götter
von den Tanzenden markiert werden.
Eine Maske, die einen weiblichen Waldgeist
(»Anu-li-kutsai«) mit lachendem Gesicht, schief
stehenden Augen und nach oben spitz zulaufendem
Kopf repräsentiert, eröffnet den Tanz. Dieser Geist
redet eine fremde Sprache und hat die Macht, die
Menschen zu allen Tänzen, besonders aber zum
Kosiyut-Tanz, verlocken zu können. Sobald jemand
von ihm zum Tanz inspiriert ist, hört man den Ton
einer kleinen Flöte.
Von hervorragenden Göttermasken ist die des
Donnergottes Saiyul hervorzuheben; die Stimme
desselben wird durch eine Flöte dargestellt, während
mittelst einer grossen, mit Steinen gefüllten Kiste das
Rollen des Donners nachgeahmt wird. Ferner Al-
kon-dam, den sich die Indianer wie ein Europäer
aussehend vorstellen, und dessen Maske immer halb
geschlossene Augen zeigt. Er thront über den Wolken
im Aufgang der Sonne, die, Sinek genannt, als
sein Sohn verehrt wird *). Unter den nun folgenden
Tänzen ist noch der Sinakomek bemerkenswert.
Der Tanzende trägt einen aus den Barthaaren
der Seelöwen hergestellten kronenartigen Kopfputz,
von dessen Rückseite viele Hermelinfelle herabhängen
und der in seiner oben offenen Höhlung weisse Adler¬
daunen birgt, die bei den Bewegungen des Tänzers
herausgeweht, den Eindruck eines Schneegestöbers
her Vorbringen sollen. Tänze der den Göttern dienst¬
baren Tiere, als: Adler, Rabe, Wolf, Bär u. a. folgen
in den entsprechenden Masken und der lachende
Waldgeist Anu-li-kutsai beschliesst mit einem
letzten Tanze das Fest, das in Bella-Coola, Kims-
kwit und Tallio genau zur selben Zeit beginnt und
ebenso präcise in den drei Dörfern schliesst. Dies
geschieht deshalb, weil die Indianer glauben, dass
der Gott Noa-kinem in den drei Dörfern zu gleicher
Zeit eintrifft und sie ebenso wieder verlässt.
Die kleinen, unschwer herzustellenden Masken
werden nach Schluss des Festes von den Tänzern
mit dem Ruf: »Woh-hoi!« ins Feuer geworfen, die
grösseren, schön geschnitzten dagegen an verborgenen
Orten aufbewahrt.
Mit dem Kosiyut-Feste, das nach unserer Zeit¬
bestimmung gewöhnlich zwischen Weihnachten und
Neujahr fällt, haben alle heiligen Festlichkeiten und
damit auch die der anderen Geheimbünde, die be¬
reits im November beginnen, bei den Bella-Coola-
Indianern ihr Ende erreicht, und der Kosiyut, allen
Zwanges frei, geht nun wieder seinen gewohnten
Beschäftigungen nach.
Den Festlichkeiten liegt folgende Mythe zu
Grunde:
Der Beherrscher der Unterwelt, der mächtige
Noa-kinem, welcher weit im fernen Westen, jen¬
seits des Meeres, in einem Lande wohnt, in dem
sich die Lachse während der Winterzeit aufhalten,
wendet sich im Monat Dezember nach Osten, wo
er den gewaltigen Gott Al-kon-dam (auch Mess-
mess-salanik genannt), der über den Wolken im
Aufgang der Sonne wohnt, besuchen will. Hierbei
kommt er an die Küste von Britisch-Columbien, ist
jedoch schon seit Wochen von den Geistersehern,
d. h. den Kosiyuts, gesehen und auf der Reise
beobachtet worden.
Am vierten Tage nach seiner Abfahrt legt er
mit seinem grossen Gefolge an einer Landspitze an,
ruht hier vier Tage und fährt nach Osten weiter,
um wieder an einer Landspitze zu landen l ). Schon
an dieser Stelle wird er von einigen alten Kosiyuts
*) Merkwürdig ist, dass die grossen Geister, die im Osten
auf einer grossen, schönen Insel wohnen, wo in vier mächtigen
Strömen Scharen fetter Lachse sich tummeln (das Kanaan der
Indianer), und die gleichfalls eine weisse Hautfarbe haben, die
Indianer als Sklaven gebrauchten. Die Namen dieser vier Geister
lauten: Mess-mess-saldnik, Julo-timot, Metle-fik-set
und Metla-puli-set.
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440
Der Kosiyut-Bund der Bella-Coola-Indianer.
begrüsst, ebenso von Wald- und Berggeistern, die
ihrem mächtigen Herrscher Tribut bringen, der in
Lachs, der Lieblingsspeise des Gottes besteht und
in seinem Kanoe niedergelegt wird.
Nach Verlauf von weiteren vier Tagen setzt
er seine Reise fort und betritt die dritte Landspitze,
wo er von dem Waldgeist Deck-dokon-mem,
dem wachsamsten Geiste im Bella-Coola-Thale, ge¬
sehen wird, der nun alle übrigen Geister alarmiert,
die bis dahin in tiefem Schlafe lagen.
Sind weitere vier Tage um, so landet Noa-
kinem direkt beim Dorfe Bella-Coola, was natürlich
nur von den Kosiyuts gesehen wird. Alsbald er¬
scheinen zwei dienende Waldgeister, von denen zu¬
erst Amsta-glis vortritt, um das Kanoe des Gottes
am Lande zu befestigen. Lässt Noa-kinem dies
zu, so sieht man darin ein schlimmes Zeichen, da
dann im nächsten Jahre keine Lachse in den Fluss
kommen.
Nach dem Glauben der Indianer hängt das Vor¬
handensein der Lachse an diesen Küsten mit dem
Eintreffen Noa-kinems zusammen; kommt der Gott
nicht, so bleiben auch die Lachse fort.
Weist dagegen der Gott die Dienstleistung des
Amsta-glis zurück, so befestigt der andere Geist,
Ab-sulla-kai, das Kanoe, und die Lachse treffen
in grosser Menge in allen Flüssen ein. Ist Noa-
kinem nun gelandet, so befiehlt er den Dorfbe¬
wohnern, Pfähle zur Herstellung eines Wehres an
den Fluss zu bringen und sich in Sonnenstrahlen
zu kleiden*). Der Kolibri kommt und erbaut Dämme
zum Schutze der Kanoes des Gottes und seines Ge¬
folges.
Von Anu-li-kutsai (das lachende Gesicht),
der zum Tanz verlockenden Gottheit, geführt, er¬
scheinen die Geister des Waldes, und in Gegenwart
Noa-kinems beginnt nun der Kosiyut-Tanz der
Novizen. Sind die vier Festtage vorüber, so rüstet
sich der Gott zur Fortsetzung seiner Reise zu Al-
kon-dam, wobei alle Geister behilflich sind und
ihren Tribut darbringen. Doch selbst der mächtige
Noa-kinem ist nicht gegen Widerwärtigkeiten ge¬
feit, denn ein Geist in Gestalt einer Ratte entwendet
einen grossen Teil der Geschenke.
In den letzten Tagen des Dezember verlässt
Noa-kinem mit den Geistern das Dorf und kommt,
gefolgt von allen Tieren, vom grössten bis zum
kleinsten, zu Al-kon-dam. Das Fest kann hier
jedoch nicht eher beginnen, als bis Sinek, die
Sonne, der vornehmste der Gäste, eingetroffen ist.
Ihm räumt man am Tisch der Götter den Ehren¬
platz ein und setzt ihm Lachs vor, da sonst die
Lachse im nächsten Jahre der Küste fernbleiben
würden. Sinek ist der letzte der bei Al-kon-dam
eintreffenden Gäste und der erste der fortgeht.
Mit Bezug hierauf sagen die Indianer, wenn
die Sonne Ende Dezember und Anfang Januar wenig
Soll wahrscheinlich heissen: nackt zu gehen.
sichtbar ist, sie sei bei Al-kon-dam. Sie hüten
sich jedoch, darüber Unliebsames zu äussern; denn
lose Reden werden bestraft. Eine Sage berichtet,
dass zwei Indianer, die sich einst in tadelnden Reden
über das lange Zögern der Sonne aufhielten, für
diesen Frevel durch die strafende Macht der Sonne
in Wahnsinn verfielen. Auch die Seelen der Tiere
weilen nach ihrer Vorstellung bei Al-kon-dam,
weshalb sie diese Zeit zur Jagd ausnutzen, weil dann
die Tiere ohne Seele und leicht zu erlegen sein
sollen.
Ein anderer Sohn Al-kon-dams führt nun zu
Ehren der Gäste einen Tanz auf; er gilt für den
geschicktesten Tänzer unter den Göttern, und die
jungen Kosiyuts beten zu ihm, dass er ihnen die
Gabe des Tanzens verleihe. Im Hause Al-kon-
dams befindet sich hinter dem Ehrenplatz der Sonne
ein grosses Gemach, bewohnt von dem obersten
dienenden Geiste Dam-dam-klimsta, dessen Auf¬
gabe es ist, die Seelen der gestorbenen Menschen in
Empfang zu nehmen. Er bringt sie später zur Erde,
wo sie durch das erste weibliche Glied ihrer Ver¬
wandtschaft in einem neuen Körper wiedergeboren
w T erden. Der Glaube an diese Wiedergeburt der
Seele ist ein allgemein verbreiteter, jedoch denken
sich die Indianer diese Wiedergeburt auf hervor¬
ragende Medizinmänner und einige wenige berühmte
Leute beschränkt. Einen solchen Wiedergebornen
nennen sie Ailt-kwakem-dam-dam-klimsta, d. i.
»der gute, durch Dam-dam-klimsta wiederge¬
gebene Indianer«.
Im weiteren Verlauf des Festes tanzt die Sonne,
und dann folgt der Sinakomek, der ein Tanz der
Wolken ist und zum Unterschiede vom Kosiyut-
Tanz Di-kleuck-di-nachom genannt wird. So¬
dann tanzen alle Tiere, ein jedes in seiner Gestalt,
und den Beschluss macht Anu-li-kutsai,das lachende
Gesicht.
Beim Kosiyut-Fest geraten die Tänzer in eine
Art Verzückung und glauben sich beim eigentlichen
Götterfeste im Hause Al-kon-dams selbst zu be¬
finden.
Wie fest der von den Vätern überkommene
Glaube mit seinen Gebräuchen bei diesen Indianern
wurzelt, kann man so recht an der Genauigkeit und
dem Eifer erkennen, mit dem der Lehrer die Kosiyut-
Kandidaten unterrichtet, die ihrerseits die eifrigsten
Schüler und bestrebt sind, die Lehren unverkürzt
in sich aufzunehmen. Allerdings ist die Abgeschieden¬
heit der Dörfer, sowie die ausserordentlich gross¬
artige Natur ihrer Umgebung ganz dazu angethan,
die mysteriösen Lehren zu fördern. Es ist daher
auch erklärlich, dass die beharrliche Missionsarbeit
unter diesen Indianern nur so geringe Erfolge zu
verzeichnen hat. Sowohl katholische wie auch pro¬
testantische Missionare haben trotz 2ojähriger Be¬
mühungen unter den Stämmen, z. B. bei den Quak-
jutl, wenig ausrichten können. Der alte Glaube ist
eben zu fest mit ihrem Leben und Treiben ver-
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Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
44 1
wachsen; er bleibt auch da lebendig, wo sich die
Stämme schon lange zum Christentum bekennen.
Im Sommer 1886 befand ich mich in einem
Quakjutldorfe und hatte Gelegenheit, ein Beispiel
davon zu erleben.
Bei dem Dorfe legte nämlich eines Tages ein
grosses Kanoe an, dessen Insassen, Männer und
Weiber, nach Victoria wollten. Sie gehörten dem
Stamme der Tschimpsian-Indianer an und waren
aus einem Dorfe, dessen Bewohner sich schon seit
20 Jahren zum Christentum bekannten. Kaum hatte
das Kanoe den Strand berührt, so färbten sich die
christlichen Tschimpsians ihre Gesichter rot, ganz
nach echt indianischer Manier, und der Quakjutl-
Häuptling begab sich mit seinem Volk an den
Strand, um die Fremden zu begrüssen. In dem sich
nun entspinnenden Gespräch, bei dem ich Ohren¬
zeuge war, äusserte eine Häuptlingsfrau der Tschim¬
psians: »Als wir heute das Dorf Fort Rupert passier¬
ten, hörten wir die alten lieben Laute der Trommeln;
wir wurden davon so hingerissen, dass ich und
meine Begleiter unwillkürlich zu tanzen anfingen«.
Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
Von C. Ballod (Jena).
(Fortsetzung.)
Lehmiger Kampboden oder ein Boden, wo
nach dem Entwalden auch die später gewachsene
Capoeira (Buschwald) wiederholt niedergeschlagen
ist, dürfte kaum einen Unterschied von Laterit
aufweisen. Wenn Wohltmann 1 ) weiter die Eisen¬
konkretionen der Laterite als Unterscheidungsmerk¬
male derselben von den Gelb- und Roterden an¬
führt, so gibt er (S. 159) selbst zu, Braunstein¬
konkretionen in Santa Catharina gefunden zu haben,
die er aber nicht für »echte« Lateritkonkretionen
hält und nach Posewitz 2 ) bildet Granit stets einen
quarzhaltigen, plastischen roten Lehm ohne Eisen¬
konkretionen. Ueberhaupt fehlt es wohl noch an
hinreichenden Forschungen, um zwischen Laterit und
Roterde eine Grenze zu ziehen, der Name Laterit
ist ja übrigens kaum 1V* Jahrzehnte alt, die Be¬
zeichnung Roterde viel älter.
Im allgemeinen gilt für Urwaldboden die Regel:
je dunkler, desto fruchtbarer, je heller, desto un¬
fruchtbarer, was damit zusammenhängt, dass die
hellen gelben Lehme zumeist aus einem thonigen
Sandstein, paläozoischen und archäischen Bildungen
hervorgegangen sind, wobei die Bodenkrume schon
ursprünglich arm war, oder doch durch die langen
Zeiträume, in denen die Atmosphärilien auf sie ein¬
wirken konnten, verarmte. Die roten Lehme sind
dagegen meist aus Urgesteinen und eruptiven Bil¬
dungen hervorgegangen, die ausserdem von Natur
eisenreicher waren, wie denn Prof. Orville und
1 ) Wohltmann, Tropische Agrikultur, S. 148.
2 ) Lateritvorkommen auf Bangka, Peterm. Mitteil. 1887,
S. 21 f.
A. Derby die eigentliche terra roxa in Säo Paulo, das
Kaffeeland par excellence nur aus Diorit, Diabas und
Melaphyr entstanden sein lassen. Die Gelb- und
Roterden der Kolonie Donna Francisca, die meist
aus paläozoischen und archäischen Bildungen ent¬
standen sind, weisen nach Wohltmann (Trop.
Agrik. S. 226) im Durchschnitt von 12 Bodenproben
bloss einen Gehalt von 0,073 °/° CaO, 0,292 MgO,
0,072 P2O5 (im Maximum 0,140, im Minimum 0,015)
und 0,073 °/o K2O auf, dabei aber circa 0,25 °/o Stick¬
stoff, enthalten also hinreichende Mengen Stickstoff',
leiden dagegen an einer ausgesprochenen Kalk-, Kali-
und Phosphorsäurearmut, die Erträge der Kultur¬
pflanzen sind entsprechend dieser Nährstoffarmut ge¬
ring. Leider liegen uns keine Bodenanalysen aus
den Alluvialgebieten der grösseren Flüsse, des Itajahy
Tubaräo und Ararangua, die erfahrungsmässig sehr
fruchtbar sind, vor; ebensowenig Analysen von vul¬
kanischen Roterden. In Säo Paulo weisen nach
Draenert 1 ) die besten Roterden (bei Casa Branca)
einen Phosphorsäuregehalt von 0,24—0,53 °/o auf,
dabei 0,17—0,14 °/o Kali und 0,77—0,84 °/o Stick¬
stoff, sind also sehr nährstoft- und humusreich.
Ausser den Gelb- und Roterden findet sich auf den
Bergen auch vielfach Kiesboden. Es ist das wohl
ein aus der Zersetzung von grobkörnigen, quarz¬
reichen Graniten und Gneissen entstandener Grus,
der gewöhnlich von Humusbestandteilen schwarz
gefärbt ist und Knollengewächsen sehr zusagt. Im
allgemeinen tritt aber der fruchtbare Boden, als
welcher nur der rote Lehm, soweit er aus vulkani¬
schen Gesteinen entstanden und der Alluvialboden
der Flussthäler zu betrachten ist, sehr zurück gegen¬
über den mittelmässigen und geringwertigen Böden,
so dass wohl kaum — */* des Küstengebietes von
Santa Catharina guten Boden enthält.
Was das Hochland anlangt, so findet sich da¬
selbst besonders in den Vertiefungen ein tiefschwarzer
Boden in einer Mächtigkeit von */* — 1 m, auch darüber.
Dieser schwarze Boden ist nicht Humus, sondern
eine Art Moorboden, unterWasser gebildet 2 ) und nicht,
wie Wohltmann annimmt, auf äolischem Wege, ähn¬
lich wie Löss und Regur, entstanden oder gar iden¬
tisch mit Tschernosjom 3 ), denn dann müsste seine
Verbreitung gleichmässiger sein, während doch auf
den Bergen und Hügeln zumeist ein gelber Lehm
zu Tage tritt, in den Flussauen ein dunkler Schwemm¬
boden sich findet, vor allem aber müsste dann die
Fruchtbarkeit weit grösser sein. Die Bodenproben
aus Säo Bento, die Wohltmann analysiert hat
(Trop. Agrik. S. 183), weisen kaum einen Durch¬
schnittsgehalt von 0,045 °/o PsO 5 * 0,045 °/° K2O,
0,082°/o CaO, dagegen 0,27 °/o Stickstoff auf, also
wiederum genügende Mengen Stickstoff bei ausge-
') Die Landwirtschaft Säo Paulos,^ Landwirtschaftl. Jahr¬
bücher von Thiel 1890, S. 222.
2 ) Cf. Kärger, Brasil. Wirtschaftsbilder, Berlin 1889,
S. 216 und S. 260.
8 ) Wohltmann, Tropische Agrikultur, S. 178.
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442
Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
sprochener Armut an mineralischen Pflanzennähr¬
stoffen, welche dabei noch in diesem Moorboden
äusserst schwer löslich sind, eine Kultivierung ohne
Düngung wäre daher selbst in den ersten Jahren
völlig aussichtslos. Bodenproben eines Kampbodens
aus Rio Grande do Sul die von Prof. A. Maercker
analysiert wurden, wiesen kaum einen Kaligehalt
von 0,035 °/o, 0,02 —0,03 °/o Phosphorsäure, Spuren
von Kalk, aber 0,15 —0,16 °/o Stickstoff auf 1 ). Den¬
noch beruft sich Herr Oberamtmann Spielberg auf
diese Bodenanalysen, indem er für Kultivation der
Campos eintritt und bemerkt, dass ja der Stickstoff¬
gehalt dieser Kampböden den der besten deutschen
Rübenböden übertreffe 2 ). Hier ist entgegenzuhalten,
dass schon Prof. A. Mayer, der auf Bodenanalysen
nicht viel gibt, dennoch für Rübenboden ein Nähr¬
stoffminimum von 0,07 °/o Phosphorsäure, 0,02°/o
Kali und 0,1 °/o Stickstoff verlangt 3 ), dass also keine
von allen Bodenproben den Minimalgehalt an Phos¬
phorsäure besitzt, der Minimalgehalt an Kali und
Stickstoff wird nur um ein Geringes übertroffen.
Colomb-Pradel und Risler verlangen aber von
einem tauglichen Ackerboden einen Minimalgehalt von
0,1 °/o an Stickstoff, Kali und Phosphorsäure, also
etwa die dreifache Menge an beiden letzteren Stoffen,
wie sie in den angeführten Proben enthalten war.
Es stehen daher der auch von den Herren Dr.
H. v. Ihering und A. W. Sellin warm befür¬
worteten Kampkolonisation 4 ) schwere Bedenken ent¬
gegen. Solange mineralische Düngstoffe schwer
erhältlich und teuer sind, ist daran kaum zu denken;
Phosphorsäure wäre allerdings in dem Knochenmehl,
das bereits von Rio Grande do Sul ausgeführt wird,
verhältnismässig leicht erhältlich, woher aber die
nötigen Massen von Kalidünger nehmen? Diese
müssten doch wohl von Europa resp. Deutschland
eingeführt werden, also hohe Transportkosten und
Spesen tragen, wodurch der Preis mindestens ver¬
doppelt würde. Stalldünger allein ist völlig unzu¬
reichend, um auf einem solchen Boden genügende
Ernten zu erzielen, wie man es in Säo Bento und
bei Curityba sieht. Will man aber durchaus einen
derartigen unfruchtbaren Boden meliorieren und be¬
bauen, so kann man auch in Europa inmitten der
ältesten Kulturländer genug davon erhalten und braucht
nicht erst Brasilien aufzusuchen, wo seine Kultur
der schwierigeren Absatzverhältnisse wegen weit
weniger lohnt.
Wer denkt aber auch in Brasilien daran, mittel-
mässigen oder gar unfruchtbaren Boden der Kultur
zu gewinnen; bebaut doch der Brasilianer und ihm
nachmachend auch der deutsche Kolonist selbst den
fruchtbarsten, in günstigster Lage gelegenen Boden
bis zur völligen Erschöpfung ohne je an Düngung
zu denken, gerade so wie es der russische Bauer
*) Export 1884, S. 89.
2 ) Deutsche Kolonialzeitung 1885, S. 222.
3 ) A. Mayer, Lehrbuch der Agrikulturchemie, II, S. 71.
4 ) Cf. Export 1885, Nr. 6 und 7.
auf seinem Tschernosjom macht, der ja auch häufig
das ausgebaute Land verlässt, um noch jungfräuliche
fruchtbare Strecken in Angriff zu nehmen (vgl. Nr. 6
und 7 dieser Zeitschrift).
Ein fruchtbarer Boden findet sich auch auf dem
Hochlande wiederum nur in den Thahsohlen der
grösseren Flüsse und auf den von Urwald bedeckten
jungvulkanischen Verwitterungen, namentlich am
oberen Uruguay; der Kampboden ist sowohl da wo
er aus der schwarzen Moorerde besteht, wie da wo
er eine lehmige Beschaffenheit hat, als Kulturboden
von sehr fraglichem Wert.
Was die Abgrenzung vom Kamp und Wald
betrifft, so hält Dr. H. v. Ihering dafür geologische
Eigentümlichkeiten, für das Camacuamland (in Rio
Grande) z. B. die Verteilung von Wasser und Land
in der Tertiärzeit für maassgebend, insofern als er
daselbst den Kamp auf Diluvial-, Wald auf Alluvial¬
boden gefunden hat 1 ); Prof. Keller-Leuzinger
meint 2 ), dass Klima und Boden dafür in gleicher
Weise maassgebend seien. Dies mag für Argen¬
tinien Gültigkeit haben, auf dem Hochlande von
Südbrasilien mit seinem ziemlich gleichmässig ver¬
teilten Regenfall dürfte nur die Bodenbeschaffenheit
maassgebend sein, insofern als die lehmigen und
kiesigen Boden enthaltenden Berge auch in den
Kampgegenden meist waldbedeckt sind, ebenso die
fetten Flussauen; Kamp findet sich fast nur auf
dem schlechtesten, unfruchtbarsten Boden (in Parana
wird allgemein nur der Waldboden als kulturwürdig
betrachtet). Es ist hier zu berücksichtigen, dass die
Campos seit ihrer Besiedelung resp. Besetzung mit
Viehherden von den Herdenbesitzern beträchtlich
vergrössert sind dadurch, dass man bei Trocken¬
perioden, soweit es möglich war, den Wald weg¬
brannte, um mehr Weide zu gewinnen. Ursprüng¬
lich wird sich Kamp wohl nur auf dem schwarzen
Moorboden befunden haben.
Die Hydrographie.
Die Flüsse an der Ostseite der Serra Geral sind,
da das Küstenland nicht sehr breit ist, naturgemäss
nur kurze Küstenflüsse, der Reichtum an atmosphä¬
rischen Niederschlägen bewirkt jedoch eine ziem¬
liche Wasserfülle derselben. Der Itajahy, der
grösste von ihnen hat eine Länge von 350 km; die
Serra Geral zieht sich in der Gegend seiner Quellen
am weitesten (150 km) von der See zurück. Er
hat in der Nähe seiner Mündung eine Breite von
400 m, in der Kolonie Blumenau 100—150 m;
sein Entwässerungsgebiet dürfte 200—300 geogra¬
phische Quadratmeilen umfassen. Die Mündung oder
»Barre« hat jedoch nur 3—4 m Tiefe, das Einlaufen
der Schiffe kann dabei, wenn der Fluss anschwillt
und reissend wird, gefährlich werden. Der Itajahy
entsteht aus drei Quellflüssen, dem Itajahy Assü,
*) Petermanns Mitteil. 1887, S. 297.
2 ) Deutsche Kolonialzeitung 1886, S. 211.
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Der Staat Santa Cathanna in Sudbrasilien.
443
dem Süd- und dem Nordarm. Der Itajahy Assü
entspringt nach Lange (Südbrasilien S. 121), der
den Messungen von Odebrecht folgt, unter 27°^
südl. Br. und ji 0 ^' w. L. Gr. Als ersten Neben¬
fluss empfängt er auf seiner rechten Seite den an
seiner Mündung 30 m breiten und 2 m tiefen Rio
Tayo, weitere bedeutende Nebenflüsse auf dem rechten
Ufer sind der an seiner Mündung 16 m breite Rio
Pombas und der 22 m breite Rio Trombudo. Da¬
rauf fliesst der bereits 40—60 m breite Itajahy durch
ein einige Kilometer breites fruchtbares Thal, das
in ein von Araukarienwald bedecktes Sandstein¬
plateau eingeschnitten ist, und vereinigt sich mit dem
ebenso mächtigen Südarm (Itajahy do Sul), der
ebenfalls auf der untersten Strecke von 10 km ruhig
und tief durch ein fruchtbares Thal dahinfliesst.
Wenige Kilometer weiter nach unten engen Berge
den Fluss ein, er wird reissend und wild, darauf er¬
weitert sich wieder das Thal, und es werden einige zer¬
streute, vorgeschobene Ansiedelungen sichtbar (sonst
ist ja alles waldbedeckte Wildnis, höchstens von
einigen hundert wilden Indianern bevölkert). Dar¬
auf verengt sich jedoch wieder das Thal, der Fluss
bildet den Salto do Piläo (Mörserfall), der 14 m
Höhe hat und noch in 215 m Seehöhe sich befindet,
etwas unterhalb dieses Falles mündet der noch fast
gänzlich unerforschte Nordarm (Itajahy do Norte),
und es folgt nun eine ununterbrochene Reihe von
Wasserfällen und Stromschnellen, indem der Fluss
die Serra do Mar, die Küstenserra durchbricht, wo¬
bei er die sedimentären Formationen durchnagt und
sein Bett in Urgestein eingeschnitten hat; überall
treten an den Flussrändern Granite, Syenite, Por¬
phyre zu Tage. Der Fluss stürzt hier auf 18 km
Flusslänge um 150 m. Hier tritt der etwa 1000 m
hohe Subidaberg unmittelbar an den Fluss. An diesem
Berge ist der Weg ins obere Itajahythal sehr geschickt
angelegt, so dass es kaum über 6 °/o Steigung zu
überwinden gibt. Unterhalb dieses Berges erweitert
sich wieder das Thal eine kurze Strecke bis auf
- 2 km, und es beginnt nun eine ununterbrochene
Reihe von Ansiedelungen, die sich nun etwa 100 km
weit nach unten (bis Gaspar, 16 km unterhalb
Blumenau) erstrecken. Die mittlere Thalweite beträgt
im Durchschnitt nur ^2 — 3 /4 km, selten 1—1 x /s km;
der Itajahy selbst nähert sich bald dem einen, bald
dem anderen Bergabfall, die gewöhnlich mindestens
100—200 und mehr Meter ziemlich steil aufragen,
jedoch sehr stark ausgezackt und zerklüftet sind.
Der Fluss ist durch die Kolonie noch reich an Strom¬
schnellen, der letzte einige Meter hohe Wasserfall
befindet sich nur 6 km oberhalb Blumenau. Auf
dieser Strecke münden rechts die ziemlich gering¬
fügigen Nebenflüsse Neisse, Bode, Ilse, der Encano,
Velha, Garcia, die hauptsächlich Sandsteinschichten
durchbrechen und deren Entwässerungsgebiet keinen
guten Boden aufweist; links münden weit bedeuten¬
dere Nebenflüsse: der Beneditto, der ein sehr frucht¬
bares Thal hat und weit hinauf besiedelt ist, ebenso
wie die folgenden Nebenflüsse Testo, Itoupava und
Belchior und zuletzt der Luiz Alves. An diesen
linksseitigen Zuflüssen herrschen Urgesteine und erup¬
tive Bildungen (z. B. der bereits erwähnte Morro
do Bahü, dann der Morro do Itoupava) vor und
die Ländereien sind bedeutend besser als an den
rechtsseitigen Nebenflüssen. Bei der »Villa« Blu¬
menau beginnt der schiffbare Unterlauf des Itajahy,
indessen können Seeschiffe von 2—3 m Tiefgang
doch nur bis Gaspar (16 km unterhalb Blumenau)
hinauf kommen, da weiterhin bei der Mündung des
Belchior ein Felsenriff das Flussbett kreuzt, so dass
nur Fahrzeuge von unter 1 m Tiefgang höher hinauf¬
kommen können. Bis Gaspar (60 km oberhalb der
Mündung) reicht auch noch die Flut. Einige Kilo¬
meter vor der Mündung ergiesst sich noch der kleine
Itajahy (Itajahy Mirim) in den Hauptfluss. Der
Itajahy Mirim durchfliesst die Kolonie Brusque und
ist für flachgehende Kanoes etwa 50 km hinauf fahr¬
bar, transportiert wird jedoch auf ihm nichts. In die See
mündet der Itajahy unter 26° 52' südl. Br. und
48° 55' w. L. Gr. Der Unterlauf des Itajahy ent¬
hält an seinen Rändern die fruchtbarsten, weil Ueber-
schwemmungen ausgesetzten Auengelände des ganzen
Gebietes, dieselben sind noch zum grössten Teil
unbesiedelt, weil im Privatbesitz und weil die Be¬
sitzer warten wollen, bis die Preise der Ländereien
recht hoch gestiegen sein werden.
Von den im Norden von Santa Catharina mün¬
denden Küstenflüssen ist zunächst der Rio Cubatao
an der Nordgrenze der Kolonie Donna Franciska
erwähnenswert, derselbe durchfliesst ein ziemlich
fruchtbares, namentlich für Zuckerrohrbau geeignetes
und auch angebautes Thal, welches die besten Län¬
dereien von Donna Francisca enthält. Dann folgt
der ziemlich unbedeutende Rio Caxoeira, an dem
das Städtchen Joinville liegt, bis zu welchem kleine
Fahrzeuge bis zu 15 Tons Gehalt hinaufkommen
können. Weiter folgt der ziemlich bedeutende Ita-
pocu, der eine Länge von vielleicht 150—200 km
hat und mehrere Nebenflüsse, darunter den Pirahy,
den Itapocusinho, den Humboldt auf der linken, den
Jaragua, der an dem Gebirgsstock gleichen Namens
einmündet auf der rechten Seite empfängt. Der
Itapocu entspringt in der Kolonie Säo Bento an der
Serra S. Miguel, durch sein Thal lässt sich die be¬
quemste Verbindung mit dem Hochlande hersteilen.
Sein Thalgelände wird zwar ebenfalls als sehr frucht¬
bar und deshalb sehr besiedelungsfähig gerühmt, in¬
dessen liegen über die Fruchtbarkeit noch nicht
längere praktische Erfahrungen vor, da abgesehen
von den am Unterlauf an der rechten Seite ansäs¬
sigen Brasilianern das ganze Gebiet erst seit wenigen
Jahren der Besiedelung erschlossen ist; die Boden¬
proben aus dem Itapocuthal, deren Analysen Wo hit¬
mann (Trop. Agrik. S. 226) anführt, weisen durch¬
aus keinen fruchtbaren, sondern nur einen mittel-
mässigen Boden auf, da der Phosphorsäuregehalt
kaum 0,06 — 0,08 °/o, der Kaligehalt 0,05—0,06°/»
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444
Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
beträgt. Die ersten Jahre nach der Urbarmachung
mag ja dieser Boden noch gute Ernten geben, je¬
doch ziemlich bald erschöpft werden. Kaerger,
der zwei Jahre am Itapocu ansässig gewesen, be¬
richtet, dass selbst frischer Urwaldboden für Düngung
sehr empfänglich gewesen (Brasil. Wirtschaftsbilder,
S. 123), und gedüngt alle Pflanzen weit besser ge¬
diehen als ungedüngt, was auf keinen sehr frucht¬
baren Boden schliessen lässt. Die Mündung des
Itapocu ist fast vollständig verstopft.
Von den südlich vom Itajahy einmündenden
Flüssen ist der Rio Tejucas zu erwähnen, der eine
über eine Quadratmeile grosse Mündungsebene ge¬
bildet hat; er ist mehrere Meilen weit für Küsten¬
fahrzeuge fahrbar, und sein ziemlich fruchtbares Thal
ist weit hinauf von Brasilianern besiedelt. Er ent¬
springt an der Serra da Boa Vista unter 27 0 30' südl.
Br. Der Rio Biguassü entspringt weiter südlich an
der Ostseite der Campos da Boa Vista, sein Thal
ist ebenfalls fruchtbar und von Brasilianern besetzt,
er ist circa 25 km weit für Kanoes fahrbar. An
seinem Oberlauf befindet sich die seit 1829 ange¬
legte deutsche Kolonie Sao Pedro d’Alcantara. Der
Mitte der Insel Santa Catharina gegenüber münden
der Maruhy und der bedeutendere Cubatäo, die eine
ein paar Quadratmeilen grosse Mündungsebene ein-
schliessen, die jedoch nach der See zu sehr niedrig
liegt und zum Teil versumpft ist. Soweit sich frucht¬
barer Boden findet, ist alles dicht von Brasilianern
besiedelt. Der Cubatäo ist einige Meilen hinauf bis
S. Amaro für Kanoes fahrbar, an seinem Oberlauf
und an seinen Nebenflüssen, dem Cedro, Rio S.
Miguel u. s. w., liegt die 1860 angelegte deutsche
Kolonie Theresiopolis mit dem Stadtplatz in 200 m
Höhe, derselbe ist von steilen Bergen eingefasst, wie
denn die ganze Kolonie die steilste und zerrissenste
Bodenbeschaffenheit in Santa Catharina aufweist, die
Thäler sind vielfach nicht breiter als das Flussbett
selbst.
Die besten Ländereien in Santa Catharina, was
natürliche Fruchtbarkeit betrifft, durchfliessen die
südlicheren Flüsse, der Tubaräo und der Araranguä.
Allerdings darf auch hier nur das jüngere Alluvial¬
land, das die Flüsse selbst abgesetzt haben, als frucht¬
bar gelten, nicht aber die älteren sedimentären Bil¬
dungen, auch wo sie wie in der Nähe des Araranguä
ausgedehnte ebene, oder sanft gewellte, waldbedeckte
Flächen vorstellen, noch weniger die an der See
sich hinziehenden, sandigen oder sumpfigen, eben¬
falls ziemlich ausgedehnten Kampflächen, die an der
Küste in reinen, vegetationslosen Dünensand über¬
gehen, der oft einen mehrere Kilometer breiten
Streifen bedeckt. An den beiden letztgenannten
Flüssen findet sich die Eigentümlichkeit der Ufer¬
leisten besonders stark ausgeprägt; die unmittelbar
an den Uferrändern anliegenden Teile der Thalsohle
sind nämlich durch die bei den Ueberschwemmungen
mitgeführten Sinkstoffe erhöht worden, da die üppige,
mit Unterholz, Schlinggewächsen versetzte Vege¬
tation sie verhindert hat, sich überall gleichmässig
auszubreiten; die hinten liegenden Teile der Thal¬
sohle sind gewöhnlich durch das von den Bergen
herabfliessende Wasser, wo es die Ränder nicht
durchbrechen konnte, versumpft; häufig, namentlich
am unteren Araranguä, liegen die Sümpfe im Hinter¬
gründe kaum höher als der Flusspiegel, so dass sie
also nur schwer entwässert werden können. Der
untere Araranguä und zum Teil auch der untere
Tubaräo besitzen im Mittel */ 4 — V 2 km breite, frucht¬
bare Uferleisten, stellenweise ragt am Araranguä der
Uferrand nur 10—20 m breit wallartig auf zwischen
dem Fluss und den Sümpfen, was wohl darauf zu¬
rückzuführen ist, dass der Fluss das betreffende Ufer¬
stück unterwaschen hat.
Der Tubaräo bildet sich aus zwei Quellflüssen,
die an der Serra do Mar entspringen, nämlich dem
Rio Bonito und dem Passa Dois, die sich bei Minas,
Endstation der Tubaräobahn, in 200 m Seehöhe
vereinigen. Diese Flüsschen durchbrechen ein 250
bis 400 m hoch gelegenes Sandsteinplateau, das die
bereits erwähnten Kohlenlager enthält. 7 km unter¬
halb Minas fliesst dem Tubaräo der etwa 30 km
lange Oratorio zu, der in seinem durchschnittlich
*/*—*/ 2 km breiten Thale einen ziemlich guten
Schwemmboden enthält; 1891 ist das Thal von
Kolonisten besiedelt worden. Am Oratorio führt
auch ein ziemlich beschwerlicher, den Fluss circa
28mal kreuzender Maultierpfad nach der daselbst
1313 m hohen Serra hinauf.
Weitere 4 km unterhalb mündet der bedeutend
mächtigere Quellarm, der Laranjeiras in den Tubaräo.
Am Laranjeiras führt ebenfalls ein Maultierpfad der
an den Fluss herantretenden Berge wegen bald auf
dem einen, bald auf dem anderen Ufer nach dem
Pass von Imaruhy, wo die Serra verhältnismässig am
leichtesten zu ersteigen ist. Der Pass von Oratorio
steigt auf der letzten Strecke von 2000 m circa
700 m an, hat also eine Steigung von 1:3; zum
Passieren dieser schlimmen Strecke braucht ein be¬
ladenes Maultier hinauf zwei, herunter eine Stunde; ^
der Imaruhypass hat eine Steigung von 1:5 bis
1 : 6. Auch das Thal des Laranjeiras und seines
Nebenflusses Hippolyto ist im Mittel 1 /-i — x /2, stellen¬
weise nach oben hin bis zu 1 km breit und ziem¬
lich fruchtbar, jedoch bei Anschwellungen des Flusses
zuweilen Ueberschwemmungen ausgesetzt, es ist noch
sehr schwach besiedelt. Das Thal des Oratorio ist,
wie das des Laranjeiras, in Sandsteinschichten ein¬
geschnitten , deren Oberfläche nur mittelmässigen
Wald trägt, offenbar infolge geringer Fruchtbarkeit.
15 km unterhalb Minas liegt die Eisenbahnstation
Orleans (100 m) am Tubaräo, der hier auf einer 50 m
langen Brücke überschritten w T ird. Die in der Nähe
dieser Station einmündenden Flüsschen, der Rio Novo
und der Rio Bello, durchbrechen 150—300 m hoch
gelegene Sandsteinschichten, welche an einigen Stellen
von 3—500 m aufragenden, wahrscheinlich vulka¬
nischen Gesteinen durchbrochen werden, die an der
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Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
445
Oberfläche einen fruchtbaren roten Lehm zeigen,
sonst enthalten die Thäler dieser Flüsschen des
starken Falles wegen kein fruchtbares Schwemmland,
sind aber dennoch überall besiedelt. Unterhalb von Or¬
leans hat der Tubaräo Thalerweiterungen, die 2—3 km
Breite haben und äusserst fruchtbar sind, nament¬
lich bei Raposa, wo der Rio Palmeiras einmündet.
15 km unterhalb Orleans überschreitet die Eisen¬
bahn wiederum den Tubaräo auf einer 100 m langen
Brücke, 3 km weiter nach unten liegt die Station
Pedras Grandes (40 m), an der der 12 m breite
gleichnamige Fluss mündet, an welchem letzteren
eine Fahrstrasse nach den italienischen Kolonien
Azambuja (10 km entfernt in 145 m Seehöhe) und
über den 400 m hohen Rancho dos Bugres nach Urus-
sanga (28 km in 40 m Seehöhe) hinaufführt. Das
Thal verengt sich nun durch die herantretenden
Berge von vorherrschend krystallinischer Struktur.
5 km unterhalb der Station mündet der Nordarm
des Tubaräo, der Bra$o do Norte, der die doppelte
bis dreifache Menge Wasser heranführt wie der eigent¬
liche Tubaräo. Der Nordarm durchfliesst in seinem
unteren Laufe auf 30—40 km die 1870 begründete,
von 120—150 Familien besiedelte deutsche Kolonie
gleichen Namens. Diese Kolonie ist infolge ihres
fruchtbaren Bodens, der stellenweise ziemlich aus¬
gedehnten Auengelände, namentlich aber auch infolge
der zur Zeit des Baues der Tubaräobahn und der
Anlage der Kolonien Azambuja (seit 1877) und
Gräo Para (seit 1883) sehr günstigen Absatzverhält¬
nisse die wohlhabendste Kolonie in Santa Catharina
geworden; freilich sind die Kolonisten (Westfalen,
zum Teil Rheinländer) durchweg arbeitsam, auch
jetzt erzielen sie eine Durchschnittseinnahme von etwa
1 Conto jährlich pro Familie. In geistiger Beziehung
sind die Leute jedoch sehr verwahrlost. Der unterste
Nebenfluss des Nordarmes ist der auf seiner rechten
Seite mündende Rio Pinheiros, der 30—40 km lang
ist und ein sehr tiefes und schmales, schluchten¬
artiges Thal durchfliesst, durch welches ebenfalls
eine Strasse nach dem Imaruhypass hinaufführt; im
Unterlauf ist das Thal von deutschen, höher hinauf
von italienischen Kolonisten dicht besiedelt. Höher
hinauf fliesst dem Nordarm der ziemlich bedeutende
Rio Pequeno zu, der bei dem Stadtplatz von Gräo
Para 15 km oberhalb seiner Mündung, aus zwei
Quellarmen, dem Bra^o Esquierdo und dem Bra^o
direito zusammenfliesst, welche noch auf 15 — 20 km
von polnischen und italienischen Kolonisten besiedelt
sind; das Land an ihnen gehört, ebenso wie das am
Rio Pinheiros, zur bereits erwähnten, circa 24 Leguas
— 100000 ha grossen Privatkolonie Gräo Para.
Die Thäler sind weniger umfangreich und frucht¬
bar wie unten am Nordarm und dem ebenfalls noch
von deutschen Kolonisten besiedelten Rio Pequeno.
Der obere Lauf des eigentlichen Bra^o do Norte und
seiner Nebenflüsse des Rio Fortuna, Rio Bravo, ist
zum Teil von deutschen Kolonisten besiedelt und
gehört zur Kolonie Gräo Para, auch haben die älteren
Bra^o do Norter Kolonisten daselbst Land für ihre
Söhne hinzugekauft. Das Land ist, abgesehen von
den Thalsohlen, sehr steil und zerrissen, zu beiden
Seiten des Flusses steigen aus Urgesteinen bestehende
Berge von 2—300, ja 5—600 m Höhe an; die Berge
sind meist mit einer humosen Kiesschicht bedeckt,
in der die Mandiocawurzel, das Hauptviehfutter der
Kolonisten, trefflich gedeiht. Im Oberlauf der Flüsse
flachen sich die Berge mehr ab, und es treten aus¬
gedehnte Sandsteinbildungen auf. Die Auengelände
des Brago do Norte sind nicht so fruchtbar wie die
des eigentlichen Tubaräo bis auf 2 km unterhalb
Orleans, sie ähneln mehr den weiter nach oben ober¬
halb Orleans liegenden Thalgeländen des Tubaräo
und Laranjeiras; daraus erklärt sich auch, dass der
eigentliche Tubaräo schon frühzeitig bis nach Raposa
und höher hinauf von vereinzelten brasilianischen
Niederlassungen besetzt war, während die an dem
Nordarm gelegenen Ländereien bis 1870 völlige
Wildnis waren.
13 km unterhalb der Mündung des Nordarmes,
bei Pinheiros wird der Tubaräo für Kanoes und
selbst grössere Segelfahrzeuge schiffbar; bis dahin
ist sein Bett von grossen Steinen erfüllt und reich
an Stromschnellen (der Nordarm ist ebenfalls nicht
schiffbar, nicht einmal gut flossbar, wegen der vielen
Steine). Das Tubaräothal erweitert sich nun auf
1 — 1 2 /a etwas niedriger auf 2 — 3 km, es folgt nun
eine 12 km lange Strecke, die äusserst fruchtbar,
überall angebaut (stellenweise unausgesetzt seit 40
bis 60 Jahren) und von Brasilianern dicht besiedelt
ist. Die Bewohner bauen fast nur Mais und schwarze
Bohnen, auf den in der Nähe befindlichen Bergen
auch etwas Zuckerrohr. Die einzelnen Besitzungen
sind von Dornhecken oder von Orangenbaumreihen
eingefasst, was mit den Bergen im Hintergründe
dem Ganzen einen ungemein reizenden Anblick ver¬
leiht. Inmitten dieser Kulturebene liegt das Städt¬
chen Tubaräo, 25 km von Pedras Grandes. 3 km
unterhalb Tubaräo mündet der Capivary, der auf
40 km bis Gravatä für Kanoes fahrbar und dessen
fruchtbares Thal ebenfalls von Brasilianern dicht be¬
siedelt ist. Gravata ist auch der Stapelplatz für die
Produkte der Kolonisten am Bra<;o do Norte, da es
nur 10 km von der Mitte der Kolonie, auf verhält¬
nismässig gutem fahrbaren Wege, entfernt ist. Der
Oberlauf des Capivary, der durch ein schmales, von
steilen Bergen eingefasstes Thal fliesst, ist von deut¬
schen Kolonisten besetzt, die ihre Erzeugnisse auf
Maultieren nach Desterro bringen und trotz der
5—7tägigen Hin- und Rückreise, wegen der daselbst
erzielten höheren Preise, sich sehr gut stehen. Am
rechten Ufer des Capivary, kurz vor der Einmün¬
dung in den Tubaräo, erstrecken sich die Campos
von Pirituba; sie gehören der Regierung, und die
Bewohner der Umgegend lassen daselbst ihr Vieh
weiden. Sie sind häufigen Ueberschwemmungen
ausgesetzt. Unterhalb der Mündung des Capivary
fliesst der Tubaräo noch eine Meile zwischen niedrig
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446
Geographische Mitteilungen.
gelegenen, ausgebauten Landstrecken, die zum Teil
mit schwächlicher Capoeira bedeckt sind, zum Teil
als Viehweide benutzt werden; darauf geht das Ter¬
rain völlig in Sumpf über, der sich nun bis kurz
vor der Stadt Laguna, wo der Tubaräo in die Küsten¬
lagune einmündet, etwa 2—3 Meilen hinzieht. Diese
Lagune, zugleich der Hafen von Laguna, hat eine
Länge von 30—40 km, jedoch nur einige Kilometer
Breite, an der schmälsten Stelle, wo die Eisenbahn
nach Tubaräo sie auf einer eisernen Brücke über¬
schreitet,* nur 1V* km. Die Tiefe beträgt jedoch
nur einen, selten mehrere Meter, es findet sich nur
eine tiefere, 6 —8 m tiefe Rinne von einigen Kilo¬
metern Länge und ein paar hundert Metern Breite
vor der Stadt Laguna. Die Hafeneinfahrt, zugleich
Mündung des Tubaräo, hat wegen einer vorgela¬
gerten Sandbank nur 2—2,5 m Tiefe; früher mag
sie wohl tiefer gewesen sein, da Laguna die älteste
Stadt von Santa Catharina ist und der Hafen
früher als gut galt, freilich gingen die Segelschiffe
der früheren Zeit nicht tief. Die Lagune ver¬
schlammt jetzt durch die vom Tubaräo mitge¬
führten Sinkstoffe immer mehr und wird wohl mit
der Zeit ganz ausgefüllt werden; von der See wird
sie durch eine 1—3 km breite Nehrung von
Dünensand getrennt. Etwa 40 km südlich von Laguna
mündet der ziemlich unbedeutende Urussanga in die
See; im Oberlauf durchfliesst er die italienische
Kolonie gleichen Namens, der untere Lauf fliesst
durch Wald oder Sumpf. 65 km südlich von Laguna
mündet der Araranguä. Die anprallende Brandung
hat vom Morro Conventos, einem Granith ügel, wo
der Fluss früher einmündete, an eine 7 km lange,
100—300 m breite, sandige Nehrung geschaffen,
hinter der der Fluss jetzt dahinfliesst; nur mit Mühe
hält er seine Mündung von den durch die anpral-
lcnden Wogen angetriebenen Sandmassen offen, doch
können nur Fahrzeuge von 3 /4 —1 m Tiefgang ein-
laufen, um aber hinauskommen zukönnen, müssen selbst
solche flachen Segelfahrzeuge oft monatelang warten.
Der Fluss selbst hat bis zur Mündung des Mailuzia,
in einer Ausdehnung von etwa 25 km, eine Breite
von 120—240 m, dabei zehn und mehr Meter Tiefe.
Der Boden ist auf dieser unteren Strecke ein von
Humusbestandteilen schwarz gefärbter Sand, im
Hintergründe Sumpf oder Dünensand, weiter nach
oben wird der Boden mehr thonig.
(Fortsetzung folgt.)
Geographische Mitteilungen.
(Pechuel-Loesches Studien zur Morphologie
der Wüsteulandschaft.) In zwei Heften des gegen¬
wärtigen Jahrganges dieser Zeitschrift ist den verdienst¬
lichen, auf gründlicher Autopsie beruhenden Forschungen
Joh. Walthers über die charakteristischen Eigentüm¬
lichkeiten der Wüstenlandschaft, sowie über deren Ur¬
sachen, Rechnung getragen worden (in Nr. 13 und in
Nr. 24). Es handelte sich dabei wesentlich um Vor¬
kommnisse im nördlichen Afrika und im centralen Nord¬
amerika. Gerade das »Ausland« darf jedoch darauf auf¬
merksam machen, dass in seinen Spalten schon früher
über verwandte Fragen gehandelt worden ist, und dass
sich dabei Thatsachen ergeben haben, welche mit den
neuerdings ermittelten in Parallele zu stellen der Heraus¬
geber dieser Zeitschrift für einen Akt der Gerechtigkeit
hält. Er hat dabei im Auge den anscheinend nicht so,
wie es sein innerer Wert wünschenswert erscheinen
Hesse, bekannt gewordenen Aufsatz von Prof. Pechuel-
Loesch e (Jena) »Zur Kenntnis des Herero-Landes«.
Wie man sieht, hat man es da allerdings wieder mit
einer ganz anderen Erdgegend zu thun, aber gerade die
namhafte Entfernung der in Rede stehenden Erdstellen
ist von Gewicht, weil durch den Vergleich ein neuer
Beleg für den von Walther hervorgehobenen Umstand
beigebracht wird, dass die Wüstenbildung nicht als ein
örtlicher oder regionaler, sondern als ein allge-
mein-tellurischer, stets nach wesentlich den gleichen
Gesetzen sich vollziehender Vorgang zu betrachten sei.
Jene »Zeugenberge« oder »Neulingea, welche den
Wüstenterritorien ein typisches Gepräge erteilen, hat
der genannte Afrikareisende auch in Südafrika aufge¬
funden. Die »Kopjes«, wie der holländische Ansiedler
die aus dem Denudationsschutte hervorragenden Spitzen
nennt, sind in hohem Maasse zerklüftet und »bilden ein
wüstes Haufwerk von Blöcken und Schollen«. Anders
die aus festem Granit bestehenden »Plattklippen«, wxlche
sich über die horizontalen Flächen erheben und eine
sehr steile Böschung, sowie auch »eine koncentrisch-
schalige Plattenabsonderung« erkennen lassen. Die Zer¬
störung des anstehenden Gesteines schreibt Pechuel-
Loesche zum Teile dem Gegensätze zwischen starker
Tagesinsolation und ebenso energischer Nachtausstrah¬
lung, zum Teile auch der Flugsanderosion zu, für welche
neuerdings der recht bezeichnende Name »Deflation«
üblich geworden ist. »In ganz ausserordentlicher Weise
tragen auch die von heftigen Winden mitgeführten Sande
zu der Zerstörung und Ausgestaltung der Felsen bei. In
manche günstig gelegene Partien, besonders von fein¬
körnigem Lagergranit, haben sie kleine Löcher und Ein¬
drücke gebohrt, als ob harte Gewehrkugeln eingeschlagen
oder Bohrmuscheln gearbeitet hätten. Diese sind zu
grösseren, etw r a einen Menschen fassenden Höhlungen
erweitert, die galerieähnlich in Felswänden liegen und,
durch dünne Zwischenwände und Säulchen geteilt, zu¬
weilen metertief ausgeblasen sind«. Wir haben da
offenbar ein Analogon jener merkwürdigen Säulengängc
(s. in Ankels Referat, S. 380 d. Jahrg.) vor uns, welche
Walther in Arizona beobachten konnte. Der Heraus-
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Geographische Mitteilungen.
447
geber hat sich seiner Zeit die von Pechuel-Loesche
anlässlich des Frankfurter Geographentages (1883) zur
Ausstellung gebrachten Aquarellbilder genau angesehen
und einzelnes daraus kopiert; unsere vorstehende,
nach jener Vorlage angefertigte Figur kann dazu dienen,
die allmähliche Entstehung eines solchen Säulenganges
zu verdeutlichen. Auch die nicht häufigen SchlifFlächen
bespricht unser Gewährsmann; die Temperatureinflüsse
machen die Aussenseite früher rauh, als durch die De¬
flation eine Glättung eintreten könnte; dabei wird auch,
wie nebenbei bemerkt sei, auf die von Penck näher
erörterten »Kuhschliffe« hingewiesen. Wir erfahren
ferner, wie die Vegetation bei der Bildung der Sand¬
anhäufungen mitwirkt, wie die Salsolapflanze sogar den
Ansatzkern zur Aufschüttung förmlicher »Neulinge« ab¬
gibt, ja wie über den Rankenzweigen von Tamarix
articulata sich Sandhügel von grossem Umfange und
einer Höhe von 2—4 m auftürmen können.
Dieser kurze, nur einzelne wichtigere Punkte be¬
rücksichtigende Auszug möge hier genügen. Dem Heraus¬
geber wolle man die Reminiscenzen zu gute halten, denn
es ist ja nur natürlich, dass es ihm zur Genugthuung
gereicht, in einem älteren Bande des von ihm geleiteten
Blattes einen so beachtenswerten Beitrag zu einem ge¬
rade jetzt in den Vordergrund des Interesses gerückten
Probleme der physikalischen Geographie — man möchte
fast sagen — wiederentdeckt zu haben. (Ausland, 1886.
S. 822—823; S. 890—891.)
(Erdumdrehung und Körperbeschaffenheit
nochmals; s. S. 367 1 ).) Die »Geographischen Mit¬
teilungen« der Nr. 23 des »Ausland« machen unter
»Erdumdrehung und Körperbeschaffenheit« auf
eine den »Berichten des Freien Deutschen Hochstifts«
zu Frankfurt a. M. entnommene Hypothese Dr. F. Rosen¬
bergers aufmerksam, welche — ausgehend von der
Ansicht, dass weder aus der leiblichen Organisation des
Menschen, noch aus einem Akt des Bewusstseins sich
die fragliche Erscheinung genügend erklären lasse; die
Ursache vielmehr in den Wechselbeziehungen des mensch¬
lichen Körpers und der Aussenwelt, speciell gewissen
Bewegungserscheinungen zu suchen sei — den Prin¬
zipat des rechten Armes in Zusammenhang bringt
mit der scheinbaren Bewegung von Sonne, Mond und
Sternen (in letzter Linie also mit der Achsendrehung
der Erde), dem (unbewussten?) Orientierungsbedürfnis
des Menschen im Raume und der daraus sich ergeben¬
den Notwendigkeit der Scheidung des Körpers in zwei
asymmetrische Hälften, eine linke, negative, und eine
rechte, positive; ferner mit dem Umstand, dass der nach
vorn (wozu?) ausgestreckte rechte Arm des (zwecks
Orientierung nach der Sonne schauenden) Bewohners
höherer Breiten der nördlichen Halbkugel besser in der
Lage ist (?), Rotationsbewegungen (zu welchem Zweck?)
im Sinne des Sonnenganges auszuführen, als der linke.
So bestechend diese Vermutung im ersten Augenblick
erscheinen mag, so halte ich dieselbe, ganz abge¬
sehen von anderen Unwahrscheinlichkeiten, schon aus
dem einfachen Grunde für verfehlt, weil für die der
nordhemisphärischen Rechtshändigkeit entsprechende
*) Der Herausgeber, welcher aus eigenster Erfahrung weiss,
dass die Präponderanz der rechten Hand kein durchgreifendes
Naturgesetz ist, stimmt mit den Ansichten des Herrn Verfassers
nicht durchweg überein, erblickt aber in dessen Behandlung der
Frage einen dankenswerten Beitrag zu deren weiterer Aufklärung.
Linksablenkung auf der südlichen Halbkugel auch nicht
die geringsten Beweise vorliegen. Man betrachte nur
einmal Photographien von Repräsentanten räumlich weit-
getrennter Völker der südlichen Hemisphäre: durchweg
ruhen Speer und Lanze in der rechten, der Schild in
der linken Hand. Auch in der Litteratur bin ich bisher
keinem Hinweise begegnet.
Wenn, was kaum einem Zweifel unterliegt, der
Prinzipat der rechten Hand eine allgemein-anthropolo¬
gische, gesetzliche Erscheinung ist, so muss für dieselbe
eine im Wesen des Menschen resp. in seiner leib¬
lich-geistigen Entwickelung begründete generelle Ursache
sich finden lassen.
Nicht ganz ohne Belang dürfte vielleicht der Um¬
stand sein, dass die nach der rechten Körperseite führende
Arteria anonyma sich früher von der Aorta abzweigt
als die Arteria carotis sin. und die Arteria subclavia sin.,
daher wohl von der dem Herzen entsteigenden Blut¬
welle etwas reichlicher bedacht wird. Auch ein Er¬
klärungsversuch, den vor einiger Zeit »La Nature«
brachte, lässt sich nicht so einfach von der Hand weisen.
Danach soll der Säugling häufiger an die stärker ent¬
wickelte rechte Brust der Mutter gelegt werden, somit
der rechte Arm, weil weniger beengt, in der Lage sein,
öfter spontane Bewegungen auszuführen und so früher
zu erstarken, als der linke.
Doch damit wird, wie mir scheint, der Kern der
Sache nicht getroffen. Die Präponderanz der rechten
Hand ist nichts uranfänglich Gegebenes, sondern eine
Errungenschaft der Kultur, ein Resultat der fort¬
schreitenden Differenzierung und Arbeitstei¬
lung. Als der Mensch zum Menschen ward, als der
Bau seines Körpers ihn befähigte und zwang, aufrecht
zu gehen, hat die rechte Hand wohl für kurze Zeit die¬
selbe Bedeutung gehabt wie die linke. Während den
Beinen und Füssen, als den Organen der Fortbewegung,
gleiche Rechte und Pflichten bis heute zukommen, schied
sich die zu reicherer Entfaltung bestimmte Thätigkeit
der Arme und Hände also, dass der linken Hand mehr
die passive, haltende, schützende, der rechten die
aktive, zufassende, angreifende Rolle zufiel. Meines
Erachtens ist die Präponderanz des rechten Armes von
Hause aus sogar eine sekundäre Erscheinung: die
Notwendigkeit, im Kampfe gegen Mensch und Tier den
edelsten Teil des Körpers, das Herz, durch die — be¬
wehrte oder unbewehrte — Linke zu schützen, wurde
auf allerniedrigster Kulturstufe (Kampf war damals die
Losung; für die Orientierung sorgte der Instinkt besser,
als das Anschauen der Gestirne!) die Veranlassung,
Keule und Beil, Messer und Spiess in die Rechte zu
nehmen. Dies übertrug sich auch auf friedliche Be¬
schäftigungen. Seit jenen Tagen beginnenden Menschen¬
tums hat sich, auch nachdem die primäre Ursache zum
Teile weggefallen, das Uebergewicht der rechten Hand
durch Vererbung und Erziehung unter den Kulturvölkern
immer mehr herausgebildet und befestigt. Bei Natur¬
völkern dagegen tritt diese Differenzierung zuweilen
noch heute weniger deutlich hervor, wie denn auch
zum Teil bei denselben die Scheidung der vorderen von
den hinteren Gliedmaassen minder scharf durchgeführt
ist (Greiffuss!). In ähnlicher Lage befinden sich unsere
Kinder, die zum Gebrauche und zur konventionellen
Höherwertung der Rechten — leider oft in recht läp¬
pischer Weise: das »schöne Händchena! — geradezu
erzogen werden müssen. In letzter Linie bildet also die
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Litteratur.
448
Organisation des menschlichen Körpers — die Lage
des Herzens, vielleicht auch die Beschaffenheit der
Aorta — die primäre Veranlassung zur kräftigeren Ent¬
wickelung des rechten Armes, zur grösseren Geschick¬
lichkeit der rechten Hand; kulturelle Faktoren kamen
hinzu.
Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Unter¬
suchungen auf der südlichen Halbkugel im Sinne der
Roscnbergerschen Hypothese werden lediglich zu
einem negativen Resultate führen. Von einer Präpon-
deranz der Linken kann dort keineswegs die Rede
sein; es könnte sich günstigsten Falles — wir haben es
auf der südlichen Hemisphäre fast ausschliesslich mit
Völkern mässiger Breiten und niederer Kulturstufen zu
thun — eine grössere Gleichmässigkeit zwischen
der Leistungsfähigkeit des linken und des rechten Armes
herausstellen. (Mitteilung von Dr. Ankel in Frank¬
furt a. M.) _
Litteratur.
Missernte und Notstand (Neuroshaj i narodnoje
bedstwije). 270 S. St. Petersburg 1892.
Verfasser dieser iin April d. J. anonym erschienenen Schrift
ist nach Petersburger Zeitungsberichten der Geheime Rat Jermo-
loff, Chef einer Abteilung im Finanzministerium. Diese Schrift
ist insofern von Bedeutung, als darin der Ernst der Lage in
Russland voll gewürdigt wird und Mittel zur Bekämpfung der
Not vorgeschlagen werden. Bekanntlich hat sich die russische
Regierung, durch die unaufhörlichen Klagen aus den Notstands¬
gebieten und die trotz Censur vielfach scharfe Sprache der
Presse gedrängt, veranlasst gesehen, seit Januar d. J. in um¬
fassenderer Weise für die Bekämpfung des Notstandes einzutreten
und mehr Energie zu entfalten. Es ist denn auch erreicht
worden, dass wenigstens ein Massensterben in grösserem Um¬
fange verhindert ist, freilich ist die Lage noch lange nicht glän¬
zend. Da die staatliche Unterstützung bis zum Januar sehr
mangelhaft war, so waren die meisten Bauern gezwungen, ihr
Vieh zu opfern; nach einigen privaten Erhebungen sollen gegen¬
wärtig in den Notstandsgebieten kaum 30—4070 von allen
Bauern Vieh besitzen, und dasselbe Vieh ist sehr geschwächt,
besonders die dem Bauern so notwendigen Pferde. Seit Januar
ist die staatliche Unterstützung stark ausgedehnt worden — wie
viele Menschen unterstützt werden, darüber gibt es indessen keine
Daten: in manchen schwer betroffenen Gegenden sollen fast
sämtliche Bauern unterstützt werden. Freilich ist die Unter¬
stützung nicht gerade »grossartig*, wie Jermoloff meint; die
Unterstützten bekommen 12 —16 kg Getreide pro Kopf monat¬
lich; dass das bei fast gänzlichem Mangel sonstiger Nahrung
nicht ausreicht, bedarf wohl kaum des Nachweises; es ist schon
vielfach von russischen Blättern darauf hingewiesen, dass dieses
Quantum nur für die halbe Zeit ausreiche und jedenfalls nur
eine notdürftige Fristung des Lebens ermögliche. Ilungerseuchen,
Typhus u. s. w. raffen auch jetzt noch ungezählte Scharen weg;
nach manchen Berichten soll die Sterblichkeit in den Notstands¬
gebieten das 3—5fachc der normalen Sterblichkeit betragen;
wenn also diese Gebiete von 30—40 Millionen Menschen be¬
völkert sind, somit in normalen Jahren etwa I Million Todes¬
fälle aufweisen dürften, so ergäbe sich daraus, dass ein paar
Millionen Menschen der Not zum Opfer fallen dürften. Dass
man keine Getreideeinfuhr braucht und vielleicht sogar die Aus¬
fuhr wieder gestattet wird, ist noch kein Beweis dafür, dass es
nun keine Not mehr gibt, sondern nur dafür, dass die Bauern
nicht die Mittel haben, sich ein genügendes Getreidequantum
zu verschaffen, und mit der Unterstützung auskommen, resp. sich
durchhungern müssen — bei genügender oder reichlicher Unter¬
stützung würde sich wohl ein Mangel an Getreide ergeben.
»Entkräftet und ermattet«, sagt auch Jermoloff, »wird das
Volk dieses schwere Jahr überstehen ; es besitzt nicht mehr das
dürftige Erbteil früherer Jahre; schrecklich angeschwollen ist
die Zahl der Bauernhöfe, die kein Spannvieh mehr besitzen,
deren Wirtschaft völlig zu Grunde gerichtet ist. Selbst eine
gute Ernte im gegenwärtigen Jahre, sogar eine ganze Reihe
guter Jahre werden noch nicht sobald normale Verhältnisse
wiederherzustellen im stände sein; lange Zeit noch wird die Be¬
völkerung sich keine Ersparnisse, keine Getreidevorräte anlegen
können. Alle Kräfte müssen angespannt werden, damit die
gegenwärtige Not nicht zu einem chronischen Notstände wird
und den russischen Volksorganismus in seinen tiefsten Wurzeln
zerstört.«
An Maassregeln zur künftigen Neugestaltung der Verhält¬
nisse schlägt der Verfasser vor : zunächst planmässige Wieder¬
aufforstung der südrussischen Steppen, besonders des Südrandes
der russischen Schwarzerde. Zunächst seien ausgedehnte Reihen-
pflanzungen anzulegen, um den ausdörrenden centralasiatischen
Wüstenwinden zu wehren; in der Schwarzerdezone selbst an¬
gelegte Reihenpflanzungen würden dann auch die kalten Nord¬
winde abhalten, die jetzt im Sommer häufige Temperaturumschläge
veranlassen. In den letzten paar Jahrzehnten sind öfters sogar
im Juni und Juli Nachtfröste vorgekommen, die naturgemäss das
Getreide furchtbar schädigen mussten; früher, als die Schwarz¬
erde noch stärker bewaldet war, soll das nie vorgekommen sein.
Auch empfiehlt Jermoloff staatlicherseits Versuche mit künst¬
licher Bewässerung und artesischer Brunnenbohrung. Weiter be¬
fürwortet er die Einführung des landwirtschaftlichen Unterrichtes
in den geistlichen und Lehrerseminarien, damit deren Zöglinge
späterhin das Volk darin unterrichten könnten; bis zur vollen
Wirkung einer solchen Maassregel würden jedoch viele Jahre
vergehen. Da die Bauern, um ihre Steuern zu bezahlen, öfters
genötigt sind, das Getreide zu Schleuderpreisen zu verkaufen,
so proponiert Jermoloff, die fakultative Entrichtung der Steuern
in natura, in Getreide zum Marktpreise, einzuführen; das an¬
gesammelte Getreide soll dann bis zum Frühjahr oder Sommer
aufgespeichert und alsdann verkauft werden; der eventuelle Mehr¬
erlös könnte den Bauern zurückerstattet, respektive zur Bildung
eines Reservefonds für Notjahre verwandt werden. Jermoloff
ist Gegner der sonst auch von russischen Beamten, namentlich
aber den Slawophilen, als national-russische Eigenart verteidigten
russischen Gemeindeverfassung, der er die landwirtschaftliche
Stagnation und Unlust des russischen Bauern zu Verbesserungen
zuschreibt; er führt aus, dass der tüchtige Bauer, der sein Land
düngt und gut bearbeitet, nie sicher ist, dass es ihm nicht bei
der nächsten Gelegenheit genommen und ein ausgesogenes Land¬
stück gegeben wird. Jermoloff wünscht festen Erbbesitz, bei
herrschaftlichen Ländereien langjährige Pachtkontrakte anstatt
der jetzt üblichen Verpachtung auf I—2 Jahre, welche eine
ordentliche Bodenbearbeitung hindert. Da die russischen Dörfer
vorherrschend hölzerne Baulichkeiten mit Strohdächern enthalten,
so kommen sehr häufig verheerende Schadenfeuer vor; es sollen
durchschnittlich Werte von 60 Millionen Rubeln jährlich in
Russland durch Feuer vernichtet werden. Jermoloff empfiehlt
deshalb Ansiedelung der Bauern in Einzelgehöften oder doch
wenigstens Trennung der Häuser durch Baumpflanzungen. Auch
von Belebung der Hausindustrie bei den Bauern erwartet er viel
Gutes; auch die Zahl der vielen (etwa 120!) Feiertage iin Jahre,
die zum guten Teile in die beste Arbeitszeit, den Juni und
Juli, fallen, wünscht er beschränkt zu wissen — nun, dagegen
wird die Geistlichkeit schon Opposition machen. Sonst ist
Jermoloff, wie es bei einem höheren russischen Beamten
natürlich ist, hochkonservativ; er hält grosse Stücke auf die In¬
stitution der adeligen Landeshauptleute, die einen segensreichen
Einfluss auf die Bauern ausüben sollen (von liberaler Seite wird
gerade diese Institution sehr heftig angegriffen); überhaupt will er
den Einfluss des Adels uud der Geistlichkeit möglichst gesteigert
wissen. Wie viele von diesen Vorschlägen eingeführt werden,
bleibt dahingestellt; erfreulich ist es jedenfalls, dass die Ueber-
zeugung von der Notwendigkeit einschneidender wirtschaftlicher
Reformen sich auch in russischen Regierungskreisen Bahn bricht.
* *
*
Verlag der J. G. Cotta’sehen Buchhandlung Nachfolger
in Stuttgart.
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft ebendaselbst.
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DAS AUSLAND
Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde
herausgegeben von
SIEGMUND GÜNTHER.
Jahrgang 65, Nr. 29. Stuttgart, 16. Juli 1892.
Jährlich 5a Nummern ä x6 Seiten in Quart. Preis pro Manuskripte und Rezensionsexemplare von Werken der
Quartal M. 7. — Zu beziehen durch die Buchhandlungen des einschlägigen Litteratur sind direkt an Professor Dr.SIEGMUND
In- und Auslandes und die Postämter. GÜNTHER in München, Akademiestrasse 5, zu senden.
Preis des Inserats auf dem Umschlag ao Pf. für die gespaltene Zeile in Petit.
Inhalt: i. Die Strömungen in den Meeresstrassen. Ein Beitrag zur Geschichte der Erdkunde. Von Emil Wisotzki
(Stettin). S. 449. — 2. Winterkurorte an der Riviera. Von Elise Emmel (Rom). S. 452. — 3. Die ersten Quellen brenn¬
baren Gases im deutschen Sprachgebiete. Von F. v. Oefele (Neuenahr). S. 455. — 4. Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
Von C. Ballod (Jena). (Fortsetzung.) S. 458. — 5. Geographische Mitteilungen. (Venus als Abend- und Morgenstern; Eine
Forschungsreise im centralen Asien.) S. 462. — 6. Litteratur. (Sievers; Träger; Bilfinger.) S. 463.
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
Hin Beitrag zur Geschichte der Erdkunde.
Von Emil Wisotzki (Stettin).
Es erscheint ganz selbstverständlich, dass von
den Meeresstrassen den Griechen besonders der Helles-
pont und der Bosporus bekannt waren, schon weniger
die Strassen von Kertsch und Gibraltar, weit weniger
die von Bab el Mandeb, gar nicht die dänischen
Sunde.
Seit dem 7. Jahrhundert brach die glänzende
Entwickelung der griechischen Seefahrt und Kolo¬
nisation an; die kleinasiatischen Griechen thaten es
hierin allen anderen zuvor. Unter ihnen waren wie¬
der die Phokäer die unternehmendsten Seefahrer,
welche die Säulen des Herkules erreichten, ja über
sie hinausgingen und hier Verbindungen anknüpften.
Aber besser wurde man mit dem Norden und Osten
des Mittelmeeres bekannt. Nach dem Pontus lenkten
die Milesier ihre Schritte, an den Küsten desselben
wuchsen bald ihre Pflanzstädte empor. Seefahrer
und Kaufleute lernten hier bald die Strömungen in
dem Kimmerischen und Thrakischen Bosporus und
im Hellespont kennen. Sicherlich haben die joni¬
schen Geographen Anaximander, Hecatäus u. a.
Kenntnis von ihnen gehabt. Aber erst Herodot,
»der wichtigste Zeuge für den Verlauf der ersten
Periode der wissenschaftlichen Erdkunde der Grie¬
chen« *), ist es, welcher, wohl auch noch auf eigene
Erfahrungen gestützt, in der zweiten Hälfte des 5. Jahr¬
hunderts uns früheste Kunde von denselben gibt.
Im vierten Buche seines Geschichtswerkes er¬
zählt Herodot den Feldzug desDarius gegen die
Skythen. Wie überall flicht er auch hier in seine
geschichtliche Darstellung die Beschreibung der be-
*) Berger, Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde
der Griechen, I, Leipzig 1887, S. 145.
Ausland 1892, Nr. 29.
treffenden Länderräume ein und beschreibt den Pon¬
tus. Die Mutter desselben, sagt er, ist die Mäotis,
»ein See, der sich in ihn ergiesst und nicht viel
kleiner ist als er selber«. Der Bosporus wird die
»Mündung« des Pontus genannt. »Der Hellespont
endlich fällt in den weiten Schlund des Aegäischen
Meeres*).« Derselbe wird denn auch geradezu
»TtoTajiöc« genannt 2 ). Eine Strömung in der Strasse
von Gibraltar kennt Herodot noch nicht. Gründe
der Erscheinung werden nirgends beigebracht.
Die Kenntnis der genannten Strömungen im
Kimmerischen und Thrakischen Bosporus und im
Hellespont hat sich dauernd erhalten, und schon
Aristoteles schritt dazu, die Ursachen derselben
zu finden. Ihm war die Mäotis als das seichteste
aller Meere bekannt, er wusste, dass der Pontus
flacher sei, als das Aegäische Meer, dass die west¬
wärts gelegenen Becken des Mittelmeeres, das Jonische
und Tyrrhenische, noch tiefer seien. Die Ursache
hierfür sah er in der unablässigen Ablagerung von
Sinkstoffen, welche durch die zahlreichen grossen
Ströme in den Pontus und in die Mäotis hinein¬
geführt würden. Diese Sedimente erhöhten allmäh¬
lich den Boden, verdrängten das Wasser und ver-
anlassten so die fortwährende Ausströmung der
genannten Meere durch Bosporus und Hellespont 3 ).
Derselben Ansicht huldigte seine Schule, ich
nenne vor allen Theophrast und Strato von
Lampsacus. Nach Strabo, unserer leider oft trüben
Hauptquelle hierfür, ging ihre Auffassung ebenfalls
dahin, »der Pontus sei am seichtesten, das Kretische,
Sicilische und Sardinische Meer dagegen sehr tief; denn
durch die sehr zahlreichen und grossen, von Norden
und Osten einströmenden Flüsse werde jener mit
J ) IV, 85, 86.
2 ) vii, 35.
s ) Meteorol. I, 14, 30; II, i, 12. Vgl. Berger a. a. O.,
II, 112—123; III, 63.
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45 °
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
Schlamm angefüllt, die übrigen aber blieben tief.
Daher sei auch der Pontus das süsseste Meer, und
die Abflüsse fänden nach solchen Gegenden hin statt,
wohin sich der Boden abdache 1 ).« »Strato meint,
was den Flüssen begegne, das finde auch beim
Meere statt, nämlich ein Herabfliessen von höher
gelegenen Punkten. Denn sonst würde er nicht die
Ursache der Strömung bei Byzantium im Boden
suchen, indem er sagt, der Boden des Euxinus sei
höher als der der Propontis und des äusseren Meeres,
und zugleich die Ursache hinzufügt; durch den
von den Flüssen hineingeführten Schlamm nämlich
werde die Meerestiefe ausgefüllt und seicht, und des¬
halb fliesse auch das Wasser nach aussen. Dieselbe
Ansicht aber trägt er auch auf unser ganzes Meer
im Verhältnis zum äusseren über, als ob auch dieses
einen höheren Boden bilde, als der sei, der sich unter
dem Atlantischen Meere befinde. Denn auch dieses
wird von mehreren Strömen angefüllt und empfängt
einen entsprechenden Bodensatz von Schlamm. Folg¬
lich müsse auch bei den Säulen und bei Kalpe eine
ähnliche Ausströmung erfolgen, wie bei Byzantium.«
»Doch lassen wir dies,« fügt Strabo hinzu, »denn
man wird sagen, sie finde auch wirklich dort statt,
werde aber durch die Ebbe und Flut verzogen und
unbemerkbar gemacht 2 ).«
Auch Eratosthenes (Vorsteher der Bibliothek
zu Alexandria, 276—195 v.Chr.) wird wohl im ganzen
sich diesen Auffassungen angeschlossen haben. Er
scheint aber auch ausserdem noch hingewiesen zu
haben darauf, dass »das innere Meer, obgleich es,«
wie er selbst sagt, »nur eins ist, keine gleiche Ober¬
fläche habe, nicht einmal an einer der nahen Stellen.
Deswegen wären auch die Meerengen stark flutend.«
Die Ursache der Strömung des Bosporus sei, »dass
das Meer an beiden Seiten eine verschiedene Ober¬
fläche habe 3 )«. Etwa 50 Jahre nach dem Tode des
Eratosthenes beschäftigte sich auch nebenbei mit
unserer Frage Hipparch von Nicäa in Bithynien
(165—125 zu Rhodos lehrend), der grösste Astronom
des Altertums. Derselbe wies gelegentlich darauf
hin, dass der Bosporus nicht immer gleichmässig
ströme, ja »bisweilen sogar Stillstände machte 4 )«.
Klar und deutlich lässt Polybius, ein Zeit¬
genosse des Hipparch, sich über die Strömungen
im Bosporus vernehmen. »Dass aber sowohl die
Mäotis, als auch der Pontus ununterbrochen nach
aussen strömen, hat einen doppelten Grund. Der
erste, welcher allen von selbst einleuchtend ist, ist
folgender. Wenn viele Ströme in den Umkreis von
einem scharf umgrenzten Becken fallen, so wird die
J ) Strabo, C. 49, 50. Hierbei wurde vielfach und bis
in die modernste Zeit hinein die Frage erörtert, ob die Strasse
von Gibraltar entstanden sei durch einen Einbruch des Atlanti¬
schen Oceans ins Mittelmeer, oder umgekehrt; also ob der Pontus
oder der Ocean die Mutter des Mittelmeeres sei.
*) Strabo, C. 51.
*) Strabo, C. 54, 55.
4 ) Strabo, C. 55.
Flüssigkeit darin immer grösser und grösser; wenn
diese nun keinen Abfluss hätte, so würde es not¬
wendig sein, dass sie beim Steigen einen immer
grösseren und weiteren Raum der Vertiefung ein¬
nehmen; wenn aber Abflüsse da sind, so muss not¬
gedrungen die hinzukommende und höher steigende
Flüssigkeit, sobald sie die vorhandenen Mündungen
überragt, durch dieselben unausgesetzt abfliessen und
dahinströmen. Der zweite Grund ist der, dass, da
die Flüsse zur Zeit der anhaltenden Regengüsse viel
und mancherlei Geröll in die vorerwähnten Becken
hinabführen, die Flüssigkeit also, durch den aufge¬
häuften Schutt von ihrer Stelle verdrängt, immer
höher steigt und aus demselben Grunde durch die
vorhandenen Oeffhungen hinausströmt. Da nun aber
das Hineinführen des Gerölles und das Zuströmen
des Wassers unaufhörlich und ununterbrochen statt¬
findet, so muss notwendig auch der Abfluss durch
jene Mündungen ein unaufhörlicher und ununter¬
brochener sein *).« Wie unzweifelbar diese Gründe
Polybius erschienen, geht wohl am besten daraus
hervor, dass er hinzufügt: »ihre Glaubwürdigkeit
finden dieselben nicht in Erzählungen von Kauf¬
leuten, sondern in Gesetzen der Natur«. Als weitere
Erscheinung führt er an die allmählich vor sich
gehende Aussüssung des Pontus: »Während die
Mäotis früher, wie die Alten einstimmig sagen, ein
mit dem Pontus in Verbindung stehendes Meer war,
so ist es jetzt ein Süsswassersee, da das Meer durch
den aufgehäuften Schutt hinausgedrängt ist und das
einströmende Wasser der Flüsse den Sieg davon¬
getragen hat. Aehnlich wird es auch mit dem Pon¬
tus geschehen, ja es geschieht jetzt schon; aber es
ist nur wegen der Grösse der Vertiefung für die
Menge nicht recht deutlich zu erkennen, für den¬
jenigen jedoch, der nur ein wenig darauf achtet,
ist dieser Prozess schon jetzt offenbar. Um wie
viel jetzt die Mäotis süsser ist, als der Pontus, um
so viel ist der Pontus von dem Meere bei uns ver¬
schieden u. s. w. 2 ).« Polybius berichtet übrigens
auch, dass die Strömung im Bosporus mehrfach von
einem Ufer zum anderen sich hinüberschlängle.
Was Strabo betrifft, zu dem wir uns nun
wenden, so lässt derselbe seine eigene Meinung über
die Ursache der ihm wohlbekannten Strömungen
im Bosporus und im Hellespont nicht deutlich er¬
kennen.
Bei der immer regen Lust zu kritischen An¬
griffen gegen viel bedeutendere Vorläufer, wie Era¬
tosthenes, Strato u. a., geht die Thatsache an
sich oft in die Brüche. Nur so viel steht fest, dass
Strabo den behaupteten Einfluss eines vom Pontus
zum Mittelmeer geneigten Bodens auf die Strömung
geleugnet; auch erfolge die Anschlämmung nur an
den Mündungen der Flüsse selbst, die eigentliche
Meerestiefe selbst werde dadurch nicht weiter be-
') Polybius, Geschichte, IV, 39.
2 ) A. a. O., IV, 40, 42, 43.
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
451
rührt. Die Annahme des Eratosthenes, dass das
Mittelmeer »keine gleiche Oberfläche, nicht einmal
an einander nahen Stellen« habe, erklärt Strabo
für eine »unverständliche Behauptung«, auch könne
dieser Umstand, selbst wenn er vorhanden, die
Strömung nicht erklären. Er macht zwar die richtige
Bemerkung, dass »die Art, wie die Meerengen, und
zwar jede ihrer Gattung nach, strömen, keineswegs
ein und dieselbe ist«, aber seine eigene Auffassung
tritt, wie gesagt, wegen allzu grosser kritischer
Spitzfindigkeit gegen seine Vorgänger nirgends
hervor*).
Man könnte sich wundern, dass Aristoteles,
Strato, Eratosthenes, Polybius u. s. w. in
der anschwemmenden Thätigkeit der Flüsse die, oder
doch wenigstens eine Ursache jener Strömung ge¬
sehen; aber w r enn wir uns erinnern, dass die alten
Geographen über die Alluvionskräfte der Flüsse über¬
haupt höchst übertriebene Vorstellungen hatten, so
werden w’ir auch jene Auffassung derselben ver¬
stehen.
Von der aus dem Atlantischen Ocean ins Mittel¬
meer gerichteten Strömung scheinen alle die genannten
Autoren keine Kenntnis gehabt zu haben, ja bei
Strabo findet sich, wie schon oben angedeutet, die
Möglichkeit der Annahme einer in entgegengesetzter,
also in westlicher Richtung stattfindenden Strömung.
Uebrigens wäre es wohl möglich, dass Pytheas
von Massilia bei dem geographischen Scharf¬
blick, der ihm eigen gewesen sein muss 1 2 ), auf
seiner Nordlandsfahrt die Gibraltarströmung kennen
gelernt hätte.
Auch bei anderen von uns befragten Schrift¬
stellern des Altertums findet sich nichts weiter über
die Strömungen im Bosporus, als was wir schon
kennen gelernt, so bei Dionysius von Byzanz,
der um das Jahr 200 n. Chr. ein eigenes Werkchen
über denselben schrieb 3 ). Doch schildert er genauer,
wie nicht an allen Stellen der Strasse die Strömung
eine gleich schnelle sei, sondern, je nachdem die
Ufer sich einander nähern oder sich von einander
entfernen, bald schneller, bald langsamer erfolge.
Epoche aber geradezu macht in der Lehre von
den Strömungen in den Meeresstrassen Prokop
von Cäsarea, der Geschichtschreiber der Regie¬
rung Justinians des Grossen. Derselbe ist näm¬
lich, soweit ich wenigstens die Litteratur überschaue,
der erste, welcher von einer Unterströmung im Bos¬
porus spricht, die der Oberströmung entgegengesetzt
aus der Propontis in den Pontus fliesst. Auf diesen
Gegenstand kommt Prokop bei der Darstellung der
Einteilung der Oekumene in die drei Kontinente
und bei der Frage nach den Grenzen derselben. Er
sagt: »Gewiss verhält sich solches nicht völlig auf
diese Weise. Denn diejenigen, welche in diesen
1 ) Strabo, C. 49“ 5 ^, 3 2 °» 59 *-
2 ) Vgl. Berger a. a. O., III, 33.
8 ) De Bospori navigatione quae supersunt, edidit Carolus
Wescher, Parisiis 1874, cap. I—V.
Gegenden mit der Angel fischen, behaupten, dass
nicht der ganze Strom gerade auf Byzanz zugehe,
sondern die obere uns sichtbare Wasserfläche auf
solche Weise dahin fliesse, der Teil des Wassers
aber etwas weiter unten, wo die Tiefe ist und so
genannt wird, offenbar einen dem oberen Wasser
entgegengesetzten Weg nehme und beständig um¬
gekehrt, als wie es den Augenschein habe, ströme.
Wenn daher diejenigen, welche auf den Fang von
Fischen ausgehen, ihr Angelgarn auswerfen, so treibt
dies, von der Strömung beständig überwältigt, in
der Richtung nach Hieron fort. Bei Lazike aber
stösst von allen Seiten das Land den Fortgang des
Meeres ab, schiebt seinen Lauf zurück und bewirkt,
dass es hier zuerst und allein sein Ende nimmt,
weil nämlich der Weltschöpfer ihm hier die Grenzen
gesetzt hat. Denn wenn hier das Meer das Gestade
berührt, geht es nicht weiter fort, steigt auch nicht
zu einer grösseren Höhe, ob es gleich von allen
Seiten durch die Mündungen unzähliger und ausser¬
ordentlich grosser Ströme ringsum Zufluss erhält,
sondern zieht sich durch entgegengesetzte Bewegung
zurück, sein eigentümliches Maass berechnend, und
bewahrt seine Grenze, die es wie ein Gesetz mit
Ehrfurcht achtet, durch die hieraus entspringende
Notwendigkeit sich sorgfältig zusammendrängend
und sich hütend, dass es nichts von der bestehenden
Einrichtung zu übertreten scheine*).« Es dürfte für
sehr wahrscheinlich gehalten werden, dass nicht erst
zurZeit Prokops von Cäsarea Fischer bei Aus¬
übung ihres Gewerbes die Unterströmung bemerkt
haben, sondern dass dies sicher schon früher ge¬
schehen ist, wenn uns auch kein Bericht hierüber
überliefert sein sollte, worauf bereits Tournefort
im Jahre 1717 hin wies. Hierfür spricht noch weiter
der Umstand, dass auch später die Berichterstatter,
zum Teil gerade bei entscheidenden Wendepunkten
der Entwickelung unserer Kenntnis, an ihnen von
Fischern gewordene Mitteilungen anknüpfen. Bei
letzteren hat sich diese Kenntnis sicherlich dauernd
im Gewerbe fortgeerbt.
An der Schwelle der Neuzeit hat kein Geringerer
als der geniale Lionardo da Vinci unserer Frage
seine Aufmerksamkeit zugewendet. Derselbe sah in
dem Mittelländischen Meer den grössten Strom der
Erde, welcher sich von den Quellen des Nil bis
zum Atlantischen Ocean bewege. Durch die Strasse
von Gibraltar ströme das Mittelmeer in den Ocean.
Lionardo hatte also eine der Wirklichkeit
gerade entgegengesetzte Auffassung. Dagegen war
ihm der Abfluss des Pontus durch den Bosporus
zur Propontis bekannt; die Ursache fand er in
dem höheren Wasserstande des Pontus, der seiner¬
seits wieder veranlasst würde durch die Wasser¬
massen von Don und Donau und unterirdischen
Zufluss vom Kaspischen Meer her. Die Unter-
*) Geschichte seiner Zeit. Gotische Denkwürdigkeiten.
Deutsch von Kanngiesser, Greifswald 1831, lib. IV, cap. VI.
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452
Winterkurorte an der Riviera.
Strömung im Bosporus war ihm gänzlich unbekannt:
»The Black Sea flows always into the Egean sea,
and the Egean sea never flows into it. For the higher
always fall towards the lower, and never the lower
towards the higher 1 ).«
Eingehender dagegen beschäftigte sich mit dem
Bosporus der Franzose Petrus Gyllius, ein Zeit¬
genosse von König Franz I. und auch durch diesen
in seinen Bestrebungen unterstützt.
Gyllius nun war selbstverständlich, schon als
Herausgeber des Dionysius von Byzanz, mit
der aus dem Schwarzen Meer zum Marmara-Meere
erfolgenden Oberströmung bekannt. Aber er wusste
auch von der Unterströmung. Er erzählt nämlich,
dass die Fischer, »nostrae aetatis piscari in Bosporo
soliti«, bezeugten: »neque omnino totum Bospori
fluxum abire Byzantium, sed ejus quandam partem
superam, et summam hominum oculis perspicuam
ex Ponto deferri Byzantium versus; alteram vero
partem inferam attingentem vadum, contra decur-
sum superi et summi fluctus procedere«. Dies schlössen
die Fischer daraus, »quod postquam retia dejecerunt
in profundam altitudinem, semper ab imo fluxu
asportata feruntur sursum ad fanum versus«. Es
scheint, als ob Gyllius auch an die Ursache der
Unterströmung gedacht. Dieselben Fischer hätten
ihm nämlich erzählt, im Bosporus befänden sich ge¬
waltige »gurgites et voragines«. Und er selbst fügt
hinzu: »Vidi tempestatibus navigia demersa nusquam
exstitisse, neque eorum vectores, quod argumento est
fretum hoc quosdam abyssos et voragines habere:
in quarum altitudinem contrariis fluctibus praecipitia
agantur, eaque demergantur*).« Gyllius weist
dann die mehrfach ausgesprochene Behauptung zu¬
rück, dass das Schwarze Meer sich in einen Sumpf
verwandeln würde; das verhindere der beständige
Zufluss und Abfluss. Auch ist ihm der ausserordent¬
lich geringe Salzgehalt des Pontus im Gegensatz zum
Aegäischen Meere wohlbekannt. Bewiesen würde
dies durch den Umstand, dass der Bosporus im Jahre
756 n. Chr. zugefroren war.
Uebrigens will ich nicht unterlassen, darauf hin¬
zuweisen, dass Gyllius vielleicht jene oben von
uns mitgeteilte Stelle aus Prokop von Cäsarea
Vorgelegen, wenn er diesen auch nicht nennt. Denn
abgesehen von stellenweise fast wörtlicher Ueberein-
stimmung, schliessen beide mit der Erklärung, ihre
Meinung über die Unterströmung keinem aufdrängen
zu wollen, jeder möge darüber denken wie er wolle!
Aber noch über ein ganzes Jahrhundert sollte
vergehen, bis die Kenntnis der Unterströmung im
Bosporus allgemein zu werden begann und auch
1 ) Lionardo da Vinci, the literary works compiled and
edited from the original inanuscripts by Jean Paul Richter,
vol. II, London 1883, § 1091, 1092, 1107, 1108.
2 ) Petri Gyllii de Bosporo Tracio libri III, abgedruckt
in Jacob Gronovius, Thesaurus Graecarum antiquitatum, VI,
Lugduni Batavorum 1699, lib. I, cap. 4, fol. 3114. Das Original
erschien 1561.
über die anderen Meeresstrassen geläuterte Auffas¬
sungen sich zu zeigen beginnen. Fürs erste kannte
man allgemein nur die Oberflächenströmung im Bos¬
porus und Hellespont. So lässt Shakespeare Othello
schwören:
»So wie des Pontus Meer,
Des cis’ger Strom und fortgewälzte Flut
Nie rückwärts ebben mag, nein, unaufhaltsam
In den Propontis rollt und Hellespont;
So soll u. s. w. *).«
Auch Giovanni Botero kennt den Abfluss
der Mäotis und des Schwarzen Meeres durch den
Bosporus und Hellespont, veranlasst durch den starken
Zufluss aus den umliegenden Gebieten 2 ). Ueber
die Ostsee heisst es: »Quando la corrente, spinta
da i venti, viene da settentrione, l’acqua ha tanto
del dolce, che li marinari l’usano per cucinare. II
che procede dalla moltitudine de i fiume che vi
sboccano. II contrario avviene quando la corrente
procede da ponente 3 ).«
Paulus Bertius bespricht zwar Meeresströ¬
mungen an verschiedenen Stellen der Erdoberfläche,
auch nennt er die Bosporus-Strömung, aber den
Gibraltar-Strom finden wir nirgends erwähnt. Nur
seien »circa hoc fretum propter oceani viciniam
aestus majores quam in reliquo mari Mediterraneo 4 )«.
(Fortsetzung folgt.)
Winterkurorte an der Riviera.
Von Elise Emmel (Rom).
I. Route de la Corniche 5 ).
Es gibt nicht viele Landstrassen in Europa, die
dem alten Wege von Nizza nach Mentone, der
eigentlichen Route de la Corniche, an Grossartig¬
keit und Schönheit gleichkommen. Deshalb ist auch
>) Othello, III, 3.
*) Le Relationi del mare etc., in Venetia 1599, p. 253, 255.
3 ) Relationi universali d’Europa, Venetia 1599, I, I, p. m.
4 ) Bertius, Tabularum geographicarum contractarum libri
quinque, edit. III, Amstel. 1605, p. 15, 91.
5 ) Die gegenwärtige Route de la Corniche wurde erst im
Jahre 1828 vollendet und hat folgendem Umstande, wie ich ge¬
hört habe, ihre Entstehung zu verdanken. Der König von
Sardinien, Karl Felix (1821—1831), hatte eine grosse Vorliebe
für Nizza, wo er sich oft aufhielt. Sein Weg von Turin führte
über den Col di Tenda, die Grenzscheide zwischen den Seealpen
(westlich) und den Apenninen (östlich). Einmal während seines
Aufenthaltes in Nizza fiel so bedeutender Schnee, dass es un¬
möglich wurde, diesen 1873 m hohen Pass zu überschreiten.
Dem König blieb daher nichts übrig, als zu Wasser nach Genua
zu reisen, von wo aus er seine Residenz leicht erreichen konnte.
Aber gleich nachdem er sich eingeschifft hatte, erhob sich ein
gewaltiger Sturm, und die See ging so hoch, dass der hohe
Herr sich gezwungen sah, umzukehren. Die Bewohner der Riviera,
welche sich schon lange um die Erlaubnis beworben hatten, eine
Strasse an der Küste entlang zu bauen, erneuerten, die günstige
Gelegenheit benutzend, ihr Gesuch und erlangten die Einwilligung
des Königs. In unglaublich kurzer Zeit wurden Schluchten aus¬
gefüllt, Felsen gesprengt und beiseite geschafft und die Strasse
fertig gestellt.
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Winterkurorte an der Riviera.
453
den Reisenden, welche zum erstenmal an die Riviera
gehen, anzuraten, auf dieser Strecke nicht die Eisen¬
bahn zu benutzen, sondern die herrliche Fahrstrasse
zu wählen (30 km, die man zu Fuss in sechs Stun¬
den zurücklegt). Im Norden erheben sich die (im
Winter schneebedeckten) Seealpen wie ein riesen¬
haftes Bollwerk; nach Süden hin erstreckt sich das
Mittelländische Meer, in dessen blauen Wellen sich
unzählige Städte und Dörfer wiederspiegeln, teilweise
an der Küste anmutig hingelagert, während andere
zerstreut, inmitten üppigster Vegetation an den Ab¬
hängen der Hügel oder auf den Gipfeln der Berge
liegen. Hier ragt ein spitzer Kirchturm hervor, dort
zeigt sich ein altersgraues, halb im Gebüsch ver¬
stecktes Kloster. Weisse, mit Fresken geschmückte
Villen, umgeben von zauberischen Gärten, kleine
Landhäuser, in Orangen- und Citronenhaine gebettet,
erfreuen das Auge, wohin es auch blickt. Auf den
Hügeln, deren felsiger Boden jetzt in Terrassen um¬
gestaltet und bis an die höchsten Punkte hinauf mit
Oelbäumen bepflanzt ist, sieht man unzählige weisse
Gartenhäuschen mit grünen Fensterläden. In grossen,
unregelmässigen Windungen zieht sich die Route de
la Comiche hoch oben am Meeresgestade hin. Manch¬
mal führt dieselbe durch Oliven-, Orangen- und
Tamarindenhaine, dann wieder klimmt sie an einem
steilen Berge empor, so dass man, von der Höhe
herabblickend, vor dem unten gähnenden Abgrund
entsetzt zurückschaudert. Oefters bahnt sie sich ihren
Weg durch dunkle, in den Felsen gebrochene Ga¬
lerien, und tritt der Reisende aus diesen heraus, so
schweift sein entzückter Blick über den tiefblauen
Himmel, das weite Meer und die malerische Land¬
schaft. Dann erreicht die Strasse bergauf und bergab,
an überhängenden Felsblöcken (Halbgalerien) vor¬
überführend, »La Turbia«, mit kolossalem Römer¬
turm, die Ruinen der »Tropaea Augusti«, welche
zur Erinnerung an die Unterwerfung der ligurischen
Völker (12 n. Chr.) errichtet w T orden waren. Von
hier umfassende Aussicht auf Monaco, Monte Carlo
und die Küste bis Bordighera. Oft senkt sich
die Strasse, in der entgegengesetzten Richtung jäh
zum Meere hinabführend. Der Wechsel dieser herr¬
lichen Scenerien ist ebenso mannigfaltig, wie die
Bilder eines Kaleidoskops. Die reichen Tinten, die
Durchsichtigkeit der Luft, den tiefblauen Himmel,
die Schönheit des Mittelländischen Meeres zu schil¬
dern, ist meine Feder nicht im stände. Beim Pont
St. Louis erreicht die Strasse die italienische Grenze;
ganz in der Nähe derselben befindet sich die Dogana.
Diese Brücke ist höchst malerisch über eine tiefe
Felsschlucht gespannt. Von hier aus prachtvolle Aus¬
sicht auf das Meer und die Küste von Bordighera
bis zu dem grossen, rötlich schimmernden Vor¬
gebirge »La Tete du chien«; darunter an einem
Felsenabhang der alte Palast Orengo. Der Eintritt
in Italien gleicht hier der Pforte des Paradieses.
Man wird mit einemmale in das gelobte Land der
Citronen und Orangen versetzt.
Ausland 1899, Nr. 99.
II. Mentone (frz. Menton).
Mentone soll sich seit etwa vier Jahrzehnten
ungemein verändert haben. Der jetzt so bekannte
und namentlich von Deutschen viel besuchte Kurort
war um die Mitte dieses Jahrhunderts eine kleine,
stille, fast nur von Italienern bewohnte Stadt und
zählte nur etwa zwei bis drei Gasthäuser. Nach
und nach hat er sich mehr und mehr ausgedehnt,
verschönert und im ganzen einen eleganten, ja so¬
gar koketten Anstrich gewonnen. Grosse, palast¬
ähnliche Gebäude, Hotels, Pensionen und über 300
reizend gelegene, zum Teil sehr elegante Villen sind
wie Pilze emporgeschossen und bieten dem Kurgast
ein behagliches Heim für den Winter. Hotel du
Louvre liegt in einem schönen, sehr geschützten
Garten und wird viel von Deutschen frequentiert.
Hotel des lies Britanniques und Hotel National liegen
auf einer Anhöhe mit prachtvoller Aussicht aufs
Meer und die Seealpen. Auch für mittellose Per¬
sonen ist aufs beste gesorgt. Schon vor Jahren
ist ein Krankenheim mit Namen »Helvetia« ge¬
gründet worden, welches Leidenden der verschieden¬
sten Nationen und Stände Unterkommen für den
Winter (1. November bis 1. Mai) bietet. Dieses
Heim befindet sich in schönster Lage im östlichen
Stadtteile Gare ä vent. Die Behandlung der Kranken
ist einem französischen Arzte überwiesen. Die Auf¬
sicht über das Haus führen Mr. Delapierre (fran¬
zösischer protestantischer Geistlicher) und seine Frau.
Da die Ausgaben sehr bedeutend sind, so werden
Beiträge und Geschenke mit bestem Dank ange¬
nommen. Auch wird alljährlich ein Bazar zum
Besten dieser wahrhaft christlichen Gründung ab¬
gehalten. Es wird geraten, Aufnahmegesuche schon
im Sommer einzureichen, da der Andrang zu diesem
Heim natürlich ein ziemlich grosser ist. Dem Ge¬
suche müssen zwei Atteste beigefügt w r erden, eines
von einem Geistlichen, welcher bestätigt, dass der
oder die um Aufnahme Bittende nicht die Mittel
besitzt, die Ausgaben in einem Hotel in Mentone
zu bestreiten; das andere von einem Arzte, welcher
bezeugt, dass der sich Bewerbende leidend sei, sein
Zustand aber die Hoffnung auf Genesung nicht aus-
schliesse und mindestens entschiedene Besserung er¬
warten lasse.
Mentone zählt gegen 11000 Einwohner, aber
während des Winters steigt diese Zahl durch das
Herbeiströmen der Fremden aus allen Weltgegenden
auf 15—16000 Seelen. Die Stadt gehörte früher
zum Fürstentum Monaco, wurde 1849 für kurze
Zeit unabhängig, kam dann unter sardinische Ver¬
waltung und wurde 1860 Frankreich einverleibt.
Der Bezirk von Mentone erstreckt sich 1 l jz Meilen
an der Küste entlang vom Kap Martin im Westen
bis zum Kap Mortola im Osten. Der schöne Golf
wird durch den Felsvorsprung, an dessen Abhange
der alte Stadtteil sich hinzieht, in zwei fast gleich
grosse Buchten geteilt, »la Baie de PEst« und »la
Baie de TOuest«. Mehrere unbedeutende, nur in
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Winterkurorte an der Riviera.
der Regenzeit stark anschwellende Bäche ergicsscn i
sich in die Westbucht. Im Osten und Westen er¬
heben sich sanft gewölbte, scheinbar über einander
getürmte Hügel, welche sich allmählich zum Meere
hinabsenken. Ausser mehreren katholischen Kirchen
besitzt die Stadt ein deutsch-protestantisches, ein fran-
zösisch-reformiertes, ein schottisches und ein eng¬
lisches Gotteshaus. Die kleine deutsche Kirche liegt
reizend, umgeben von Orangen- und Citronenbäumen,
inmitten eines schönen Gartens. Viel Abwechselung
und Zerstreuung bietet Mentone dem Kurgast nicht,
wohl aber lohnende Spaziergänge und Ausflüge. In
den Leihbibliotheken findet man Bücher in fast allen
europäischen Sprachen, zwar fast nur Romane und
Novellen, doch entspricht das ja dem Geschmack
der grossen Menge. Es ist nicht leicht, Französisch
oder Italienisch an der Riviera zu lernen, da die
Bevölkerung einen Dialekt spricht und man reines
Französisch oder Italienisch nur selten hört. Im
»Cercle philharmonique« finden einige Konzerte und
Bälle während des Winters statt. So vergeht der
Winter den meisten Kurgästen ganz angenehm; nur
wird ihre Stimmung manchmal durch die Nachricht
getrübt, dass ein hoffnungslos Leidender das Zeit¬
liche gesegnet habe. Monte Carlo, durch die Eisen¬
bahn mit Mentone verbunden, übt leider durch seine
Spielhölle grosse Anziehung auf die Fremden aus
und fordert alljährlich viele Opfer. Das Winterklima
von Mentone ist bedeutend milder, als dasjenige von
Nizza und den anderen an der Riviera gelegenen
Kurorten, da die Stadt gegen Süden am Meere ge¬
legen, vor den Nordost- und Nordwinden aber durch
die Seealpen vollständig geschützt ist. An der Ost¬
bucht ist es noch ein wenig wärmer, als an der
Westbucht, weil dort die Sonnenstrahlen von den
nackten Kalkfelsen zurückgeworfen werden, welche
unweit des Meeres amphitheatralisch aufsteigen. Dass
die durchschnittliche Wärme bei Mentone eine ver¬
hältnismässig bedeutende ist, beweist die Vegetation.
Nur in Palermo, 5—6 Grad südlicher, findet man,
wie hier, ausgedehnte Anpflanzungen von Citronen¬
bäumen, welche gleich den Obstbäumen unseres
Nordens im Freien wachsen. Nahe dem Pont St.
Louis, dem geschütztesten und wärmsten Teile des
Ortes, sind die Berge bis zur halben Höhe hinauf
mit Citronenbäumen beflanzt. Das ganze Jahr hin¬
durch blühen und durchwürzen sie die Luft mit
ihrem Wohlgeruch. Auf diesen vor allen kalten
Winden geschützten und der Sonne vom Morgen
bis zum Abend ausgesetzten Terrassen kennt man
den Winter nicht. An der Küste, und zwar gegen
Mittag, weht auch in Mentone oft ein kühler, em¬
pfindlicher Wind, »Mistral« genannt, doch in den
nahen, von einem Halbkreis mächtiger Felsgruppen
umgebenen Thälern spürt man nichts davon. Die
Umgebung der Stadt gleicht schon im Februar einem
Blumengarten. Die Mandel- und Pfirsichbäume stehen
alsdann in vollster Blüte; die Flora ist überaus reich,
eine grosse Anzahl Frühlingsblumen, welche im
Norden mühsam in Gärten gezogen werden, wachsen
hier wild. Aber nicht bloss für den Botaniker ist
die Gegend interessant, sondern auch für den Geo¬
logen, welcher hier ein dankbares Feld für seine
Studien findet. In den ausgewaschenen Höhlen der
roten Kalkfelsen (Rochers rouges), die an der Grenze
der Ostbucht emporsteigen, sind Knochen vorsint¬
flutlicher Tiere, Steinäxte und vor langer Zeit auch
ein menschliches Gerippe gefunden worden. Die
meisten der hier weilenden Wintergäste sind brust-
oder nervenleidend; doch sucht auch eine grosse
Anzahl den sonnigen Kurort nur deshalb auf, um
den Tücken des nordischen Winters zu entgehen,
oder um einige Zeit, auf der Reise nach Italien, in
der herrlichen Natur auszuruhen. Die »Promenade
du Midi«, von Osten nach Westen am Strande ent¬
lang führend, ist bei den Fremden am beliebtesten;
von 11 Uhr morgens an bis 3 Uhr nachmittags ist
sie meist sehr belebt. An der Westbucht befindet
sich an dieser Promenade der sog. »Jardin public«,
der leider nicht ganz der Bedeutung des Kurortes
entspricht, da er zu klein ist und zu nahe am Meere
liegt; Pflanzen und Bäume gedeihen nicht besonders,
weil sie dem scharfen Nordostwinde zu sehr aus¬
gesetzt sind. Ein grosser Uebelstand ist auch, dass
die Wäscherinnen in der Nähe dieses Gartens ihre
Arbeit verrichten. Der Seifengeruch verpestet die
Luft, und das laute Geschwätz dieser Frauen ist oft
sehr störend. Aloen und niedrige Sträucher werden
nicht verschont, sondern mit Wäschestücken aller
Art behängen. — Der Blick von diesem Garten aus
auf die Ostbucht »Gare ä vent« ist sehr schön. Die
Ausläufer der hohen Berge treten nahe an das Meer
heran, und am Abhang eines Felsens liegt malerisch
der alte Stadtteil, gekrönt von der stattlichen Kathe¬
drale. Leider führt die Promenade du Midi nicht
durch die ganze Stadt; ein grosser Nachteil für die
Fremden, welche an der Ostbucht wohnen, da sie
genötigt sind, eine der engen, zugigen Gassen zu
passieren, um in den öffentlichen Garten und in die
Rue St. Michel zu gelangen. In letzterer befinden
sich die grössten und bedeutendsten Läden. Jahr¬
hundertelang bildete eine enge Gasse, »Rue longue«,
die einzige Verbindung zwischen Ost- und West¬
bucht. Erst Napoleon I. Hess eine, jetzt unter
dem Namen »Quai Bonaparte« bekannte, gute Fahr¬
strasse bauen, welche unmittelbar am Fusse des alten
Stadtteiles beginnt und sich am Ufer der Ostbucht
fortsetzt. Mentone war vor 1811 gleich vielen an¬
deren Orten an der Riviera für Fuhrwerke unzu¬
gänglich und konnte nur zu Fuss, zu Pferde oder
auf dem Seewege erreicht werden.
Von den Leidenden begnügen sich die schwäch¬
sten, wenn sie vorsichtig sind, mit Spaziergängen
und Fahrten am sonnigen Meeresufer; diejenigen,
welche sich kräftiger fühlen, bedienen sich der sicher
gehenden Esel, um Ausflüge in die umliegenden
reizenden Thäler zu machen, während die Gesunden
unter den Gästen als Bergsteiger ihre Kräfte prüfen.
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Die ersten Quellen brennbaren Gases im deutschen Sprachgebiete.
455
Eine Menge der schönsten Spaziergänge und Touren
in der Nähe der Stadt gewährt sicherlich auch den¬
jenigen hohen Genuss, die nicht zum erstenmal dem
reizenden Kurorte einen Besuch abstatten. Hoffent¬
lich gibt es nur wenige, die unempfindlich gegen
diese herrliche Natur, die unbeschreiblich schönen
Farbeneffekte sind. Längere Ausfahrten kann man
nach allen Richtungen hin unternehmen. Von der
Westbucht aus führt eine schöne Fahrstrasse nach
Roccabruna, im Osten eine ebenso gute nach Ven-
timiglia und Bordighera. Ein ganz entzückender
Weg zieht sich an der Meeresküste entlang nach
Monaco. Sehr lohnend ist auch ein Spaziergang
nach Kap Martin, zu den Ruinen des alten Klosters
und dem Telegraphenturme. Ferner ist die Berg¬
strasse nach Sospello und Turin zu empfehlen,
welche am rechten Ufer des in die Westbucht ein¬
mündenden Torrente Carrei hinläuft und dann in
starken Kehren den Col di Guardia hinansteigt,
dessen letzte Höhe ein 80 m langer Tunnel durch¬
bohrt. Ausflüge nach dem 765 m hoch auf zacki¬
gem Felsgrat gelegenen St. Agnese und nach dem
1100 m hohen Berceau sind ebenso interessant wie
lohnend, der umfassenden Aussicht wegen, die man
von beiden Punkten aus geniesst.
Die Arten der Bäume, welche der Riviera einen
besonderen Stempel aufdrücken, sind nicht sehr zahl¬
reich. Unter diesen sind der Oelbaum, der Citronen-
baum, der Eucalyptus, der Johannisbeerbaum (Ca-
roubier) und die Korkeiche wohl diejenigen, welche
die Aufmerksamkeit der Reisenden am meisten auf
sich ziehen. Das Kap Martin zeichnet sich durch
einen schönen Pinienwald aus. In den Gärten ge¬
deiht der japanische Mispelbaum, die Dattelpalme,
deren Früchte jedoch nicht reifen, und der Feigen¬
baum. Letzterer macht im Winter mit seinen kahlen,
wunderbar geformten Aesten einen unangenehmen
Eindruck, wogegen im Sommer seine grossen, frisch¬
grünen, saftigen Blätter den besten Schutz gegen
die heissen Sonnenstrahlen gewähren. In Mentone
ist der Citronenbaum vorherrschend; während meines
langen Aufenthaltes daselbst hatte ich Gelegenheit,
von Fachmännern einiges über die Kultur der Ci-
tronen- und Orangenbäume zu hören. Die haupt¬
sächlichsten Arten des Citrus sind: die Citrone, die
süsse Citrone, die Apfelsine und die Pomeranze.
Diese vier Gattungen sollen jedoch nicht zu gleicher
Zeit nach Europa gebracht worden sein. Im 3. Jahr¬
hundert n. Chr. wurde der Citronenbaum zuerst in
Süditalien eingeführt und wahrscheinlich erst einige
Jahrhunderte später in Oberitalien, in Salö, an den
Ufern des Gardasees. Hinsichtlich des Orangen¬
baumes wird angenommen, dass er von Kreuzfahrern
aus dem heiligen Lande gebracht und zuerst in der
Provence angepflanzt worden sei. Citronen- und
Orangenbäume erreichen bisweilen ein Alter von
hundert und mehr Jahren. Der Citronenbaum ist
viel zarter als der Orangenbaum; ein bis zwei Grad
Frost schaden dem ersteren, während letzterer einige
Grad Kälte gut vertragen kann und nach 50 Jahren
oft noch, ohne Schaden zu nehmen, verpflanzt wird.
Daher kommt es auch, dass man an der Riviera
viel mehr Orangen- als Citronenpflanzungen sieht;
nur Mentone macht davon eine Ausnahme, wodurch
es den Beweis liefert, dass es eine geschütztere Lage
als die anderen Orte an der Riviera hat und strengen
Nachtfrösten nicht ausgesetzt ist. Orangen- und
Citronenbäume bedürfen ziemlich derselben Pflege
und Behandlung. Die gepfropften Bäume tragen
früher und sind dauerhafter, als die nur durch Kerne
gezogenen. Der Orangenbaum ist schöner, eleganter,
als der Citronenbaum, seine Blätter zeichnen sich
durch dunkleres Grün aus, und seine Früchte heben
sich gleich Goldäpfeln mehr vom Laube ab. Der
Citronenbaum, von unregelmässigem Wüchse, hat
dünneres, helleres Laub. Die ersten Citronen be¬
ginnen im November zu reifen und werden in
mehreren auf einander folgenden Ernten bis zum
März gepflückt, von wo an die Bäume zu gleicher
Zeit Blüten und Früchte in jedem Stadium der Reife
tragen. Die Citronen aus Mentone und dessen Um¬
gebung gelten als die besten im Handel und werden
besonders nach den Vereinigten Staaten exportiert.
Es werden jährlich etwa 30 Millionen geerntet. Die
»c£drat« genannte Frucht ist von der Citrone völlig
verschieden; sie wird oft grösser als ein Kinderkopf
und nur zum Einmachen verwandt. Was die Apfel¬
sinen betrifft, so scheint man an der Riviera bis jetzt
leider nicht darauf gesehen zu haben, nur gute Sorten
von ihnen zu ziehen. Die Früchte, welche hier
reifen, sind säuerlich und daher nicht besonders zu
empfehlen. Uebrigens wird der Orangenbaum nicht
nur seiner Früchte halber kultiviert, sondern haupt¬
sächlich seiner Blüten wegen, aus denen Orangen¬
blüten-Wasser, -Oel und -Elixir destilliert wird. Im
Mai sind Männer und Frauen beschäftigt, die Orangen¬
blüten zu pflücken, da ein gesunder Baum dreimal
so viel Blüten hervorbringt, als für die Ernte er¬
forderlich sind; seine Früchte reifen vom Dezember
an bis zum Frühling. Die Blüten werden an die
Parfümeriefabriken und an die Konditoreien abge¬
geben; das Oel, welches sie enthalten, verflüchtigt
sich leicht, darum müssen sie ganz frisch verarbeitet
werden. Bei einer mittelmässigen Ernte werden,
wie mir erzählt wurde, aus dem Bezirk Mentone
etwa 35000 Kisten, je 400 — 500 Citronen enthaltend,
nach Amerika ausgeführt; nach Europa gewöhnlich
20000 Kisten mehr. Diese Zahlen geben einen un¬
gefähren Begriff davon, welche Bedeutung der Handel
mit Citronen für diesen Teil der Riviera hat.
(Schluss folgt.)
Die ersten Quellen brennbaren Gases
im deutschen Sprachgebiete.
Von F. v. Oe feie (Neuenahr).
Im Anschlüsse an meine geologischen Erfolge
mit Wasser spendenden artesischen Brunnen, darge-
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Die ersten Quellen brennbaren Gases im deutschen Sprachgebiete.
456
legt im »Feuilleton« des »Fränkischen Kurier«
Nr. 25 kann ich nun über einen interessanten Gas¬
fund berichten.
In den jungen Ablagerungen der Donauhoch¬
ebene, über die wir seit einiger Zeit von Oberberg¬
direktor v. Gümbel eine ausführliche Arbeit be¬
sitzen, finden sich mehrfach Braunkohlenflöze. Am
südlichen Rande, den Alpen zugekehrt sind dieselben
mehrfach so mächtig, dass sie den Abbau verlohnen.
Ich erinnere hier auf bayerischem Boden nur an
Penzberg, Eurasburg, Hausham und Miesbach. Am
nördlichen Rande ist die Kohle spärlicher. So wurde
in meinem bisherigen Wohnsitze Hengersberg auf
dem Boden eines Pumpbrunnen dem Urgebirge auf¬
lagernd ein dünnes Flözehen schönster Braunkohle
entdeckt überlagert von ganz neogenen Schichten.
Aber auch in der Mitte des Gebietes, z. B. bei Sim-
bach am Inn, durchsetzt ein dünnes Braunkohlen¬
band die mioeänen Schichten der Oncophora socialis,
und schon hier steigen aus den tieferen artesischen
Brunnen alle Minuten mehrere grosse brennbare
Gasblasen auf als Zeugnis für ein untermioeänes Flöz.
Ganz neu für Centraleuropa ist aber das vor
einigen Monaten erhaltene Resultat von Quellen
brennbaren Gases bei Wels, einer Kreishauptstadt
des Erzherzogtums Oberösterreich. Im allgemeinen
sind die Schichtungsverhältnisse hier noch die gleichen
wie im niederbayerischen Gebiete des unteren Rott-
thales, nur dass die Wellung des Terrains etwas
weniger stark sich zeigt, und dass gleichzeitig am
rechten Traunufer im Uferhang wir eine Kopie des
Mangfallhanges mit den Münchener Quellen vor uns
haben. Doch nicht die anschliessenden Höhen mit
ihren Schottermassen, ihren natürlichen Quellen und
ihren Tuffbildungen sind, was uns interessiert, nein
die westlich der Traun gelegene Ebene, die Reste
eines früheren Stauungssees oder eines Gletscher¬
endes.
Hier liegt am Flussufer die Stadt Wels und
etwas mehr westlich der Bahnhof; aber noch über
diesen hinaus nach Westen, nach Norden und vor
allem nach Süden ruhen unsere Blicke einige Kilo¬
meter weit auf Flachland. Der Schreiber dies, im
Namen der drei Entdecker, hat bei den zuständigen
Ministerien schon die nötigen Schritte gethan, um
sich für dieses Gebiet das Privilegium zu Bohrungen
zu sichern. Hier ist, wie bei Pöcking an der Rott,
das unebene Terrain der tieferen Schichten so mit
Schottermassen überdeckt, dass die Unebenheiten zu
einer Ebene ausgeglichen werden. Auch die Volks¬
bezeichnung Heide für diesen nicht gerade schlechten
Getreideboden bestätigt die Gleichheit beider Ge¬
biete. In sehr trockenen Jahren ist es allerdings
eine trostlose, dürre Wüste, weil das Wasser die
erwähnte Kiesschicht schnell durchläuft. Nur in
ihren tiefsten Teilen birgt letztere stets genügendes
Wasser, das nicht unschwer durch Abessynierschlag-
brunnen zu erhalten ist. Gewöhnliche Pumpbrunnen
sind schwieriger anzulegen, da bei der Beweglich¬
keit des Kieses das Graben, Ausmauern und Spreizen
des Schachtes mit grossem Aufwande an Zeit und
Geld verbunden sind. Was das Wasser selbst an¬
langt, so ist dasselbe hart und angenehm zu trinken.
Wenn nun auch durch Bohfungen gerade keine
Aussicht auf weicheres oder sonst anderes Wasser
erweckt werden konnte, so war doch der Gedanke
an Wasser, das selbstthätig dem Boden entquillt,
ein so verlockender, dass selbst unter der etwas
phlegmatischen Bevölkerung von Wels der Wunsch
nach artesischen Brunnen wach wurde. Während
aber die übrigen Einwohner immer noch nach einem
Deus ex machina umsahen, welcher ihnen bei der
Erfüllung ihrer Wünsche behilflich sein sollte, ent¬
schloss sich ein Gärtner, der Joseph Ammer hiess,
dazu, auf seinem Grunde die erste Bohrung vornehmen
zu lassen. Dem österreichischen Altertumsforscher
dürfte vielleicht zufällig dieser Mann bekannt sein;
denn es ist noch nicht lange, dass auf seinem Grunde
neben vielen antiken Scherben ein grösserer steinerner
Löwe aus der Römerzeit ausgegraben wurde, der
einst wahrscheinlich zu einer architektonischen Ver¬
zierung gehörte. Gleiche Löwen, aber in kleinerem
Maasstabe, wurden auch anderwärts ausgegraben.
Keine zehn Schritte von dieser Fundstelle und
kaum dreihundert vom Bahnhofe in einem freien
Garten von beiläufig 100 m im Geviert und in
dem Terrain zwischen Stadt und Bahnhof, das in
letzter Zeit durch Neubauten immer mehr eingeengt
wurde, steht der »feuerspeiende Brunnen«, der bis
jetzt (mit Ausnahme einiger Gasquellen der Pyre¬
näen) seinen nächsten Nachbarn in höchster Ver¬
ehrung in Baku besitzt. Es wurde hier bis 250 m
Tiefe gebohrt. Die gefundenen Schichten bestanden
aus Lehm und Mergel oder Schlier. Letzterer von 70 m
an, in welcher Tiefe eine wasserliefernde Schicht
liegt, ist wiederholt von porösen Zwischenschichten
durchzogen. Je tiefer nun die Bohrung fortschritt,
mit um so grösserer Gewalt strömte ein Gas aus,
das bei der Enge des Bohrloches von nur zwei Zoll
von der Wasserschicht etwas zurückgehalten, circa
alle Viertelminuten einen Schwall Wasser heraus¬
schleudert.
Hier will ich eine Erklärung für diese Erschei¬
nung geben, die sich durch Einsetzen engerer Rohre
hat kontrollieren lassen. Während der Ausströmung
des Gases aus der Tiefe sinkt von der überliegen¬
den Wasserschicht Wasser unter 70 m ein, anfäng¬
lich an den äusseren Partien sich trichter- oder röhren¬
förmig anlegend. Dabei findet eine fortschreitende
Verengerung der centralen Oeffnung statt, die das
Gas ausströmen lässt, bis sich eine massive Wasser¬
säule gebildet hat. Gleichzeitig hat sich aber die¬
selbe Säule verlängert und schliesst mit einem ge¬
wissen Drucke die Gasausströmung ab. Durch die
nachsinkende Wasserlast von oben und das Nach¬
strömen von Gas von unten wird ein Moment des
Gleichgewichtes im Druck erreicht. Im nächsten
Moment hebt und durchbricht das nachströmende
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Die ersten Quellen brennbaren Gases iin deutschen Sprachgebiete.
457
Gas nun die Wassersäule und indem sich der Druck
noch verstärkt, schleudert das Gas das Wasser heraus.
Aber schon beginnt sich die röhrenförmige Wasser¬
säule wieder zu schliessen, um das Spiel von neuem
zu beginnen.
Diese Beobachtung ist um so interessanter, als
sie sich mit geringen Abänderungen auf das stoss-
weise Arbeiten im Krater thätiger Vulkane und für
die periodischen Ausbrüche der Geiser in Island an¬
wenden lässt, wo ja freilich die einzelnen Faktoren
nicht so leicht kontrollierbar sind. Für das brennbare
Gas brauchen wir nur in beiden Fällen überhitzten
Wasserdampf zu lesen. Im Krater sinkt flüssige Lava
nach und in Island auch Wasser wie in Wels. Nur dass
dort das nachfliessende Wasser die unterhalb ansteigen¬
den, überhitzten Wasserdämpfe kondensiert, bis sich
das Wasser auf den gleichen Wärmegrad erhitzt hat,
macht die lange Verzögerung für die einzelne Erup¬
tion aus. Es kann in diesem Falle ein Herausschleu¬
dern erst erfolgen, wenn durch Kondensation selbst
das Wasser sich so erhitzt hat, dass die weitere
Möglichkeit einer Kondensation genommen ist und
daraufhin die Spannkraft des Wasserdampfes wie¬
der so hoch gestiegen ist, um die darauf lastende
Wassersäule heben zu können.
Doch zu unserem Welser Brunnen zurück. Das
Wasser, das heraufgeschleudeit wird, schmeckt an¬
genehm trotz seiner Wärme von circa io°, da es sehr
viel absorbierte Kohlensäure enthält, die sich beim
Stehen im Glase als Perlen ansetzt. Ausserdem ent¬
hält es Kalk, ist also ein hartes Wasser, aber nicht
in dem Grade, dass es durch seine Kohlensäure¬
abgabe an die umgebende Luft gezwungen würde,
im Brunnentroge Kalkschlamm abzusetzen, wie das
bei den meisten artesischen Brunnen des Rottthaies
mit kohlensaurem Kalke und Eisenoxyd in so reichem
Maasse geschieht. Das Wasser dürfte mehr eine
Parallele mit dem oben erwähnten Wasser in Sim-
bach am Inn abgeben. Dieses setzt bei seiner Ver¬
wendung im Dampfkessel grosse Massen feinsten Pul¬
vers im Dampfraume und in den Dampfrohren ab,
ohne, soweit das Eisen des Kessels mit Wasser in
Berührung ist, Kesselstein oder Schlamm zu bilden.
Das Pulver braust bei Zusatz von Mineralsäuren auf,
ist weiter noch nicht chemisch untersucht, kann
aber nicht kohlensaurer Kalk sein, da ja dieser doch
nicht sublimierbar wäre.
Dass das Welser Wasser keinen spezifischen
Geschmack von den Kohlenwasserstoffgasen annimmt,
ist natürlich, da das Erdgas selbst geruch- und ge¬
schmacklos ist. Obwohl es unbezweifelbar ist, dass
das Gas, wie bereits erwähnt, aus Braunkohlenlagern
stammt und nicht mit eventuellen Petroleumlagern
in Verbindung gebracht werden kann, so wurde doch
nicht bis zu den bei vielleicht 300 m vermuteten Kohlen
gebohrt. Die Kohle wäre unter dieser hohen Wasser¬
säule und bei den grossen Gaslagern doch nicht
bergmännisch zu erreichen. Auf der anderen Seite
bestünde aber Gefahr, den Geruch des Gases und
damit den Geschmack des Wassers bei Tieferbohrung,
zu verderben. Es ist ja eine alte Erfahrung, dass
bei Bruch im Röhrennetze einer Gasfabrik das Gas
in die Keller und Parterrelokalitäten der nächsten
Häuser vollständig geruchlos eindringt und hier Ex¬
plosionen und Erstickungen verursacht. Also schon
ein paar Meter durchströmtes Erdreich genügen, um
das übelriechende Fabrikgas zu desodorisieren. Wir
können darum aus der vollständigen Geruch- und
Geschmacklosigkeit dieses Gases, das jedenfalls an
seiner Ursprungsstelle diese Eigenschaften noch nicht
besitzt, leider nicht auf die grössere oder geringere
Dicke der durchströmten Schichten schliessen, nur
die Vehemenz der Ausströmung lässt sich kaum mit
einer grossen Mächtigkeit vereinbaren. Während aber
diese mehr ästhetischen Verunreinigungen durch die
Erhaltung von Schichten zwischen dem vermuteten
Kohlenflöze und der Bohrlochsohle beseitigt wer¬
den, bleibt eine technisch wichtige, die bei ratio¬
neller Verwertung ausgeschaltet werden müsste, näm¬
lich freie Kohlensäure. Die Reinigung mit Kalk¬
wasser ist nicht schwer.
Der Nutzeffekt würde dadurch gross; denn schon
ohne Beseitigung der Kohlensäure ist die Leucht¬
kraft mindestens die von gutem Petroleum und der
Heizwert ein entsprechend grosser. Die brennbaren
Bestandteile bestehen aus Sumpfgas und höheren
Kohlenwasserstoffen. Für diese Stoffe sind genaue
chemische Analysen schwierig und in unserem Falle
noch nicht ausgeführt. Denn sollte es auch ver¬
sucht worden sein, so konnte eine kleinere Quan¬
tität Gas, die ein Linzer Ingenieur mitnahm, doch
nicht für die einfachsten Gasuntersuchungen für hin¬
länglich erachtet werden.
Ein kleiner Bruchteil des gewonnenen Natur¬
gases wird bis jetzt im Haushalte des Joseph Ammer
zur Beheizung und zum Kochen verwandt. In letz¬
terem Falle macht sich aber jetzt schon die grosse
Wärmeentwickelung geltend. Und wenn das Früh¬
jahr einzieht oder gar die Julihitze, wird das Oeffnen
der Fenster und der angebrachte Wärmeabzug in
den Kamin nicht mehr genügen, um den Aufent¬
halt im Kochraume erträglich zu machen. Für Be¬
leuchtung ist das Gas so lange nicht zu verwenden,
bis ein Gasometer aufgestellt ist, da bei kleineren
Flammen auch die bisherigen Regulierungen noch
nicht ein zu häufiges, plötzliches Erlöschen durch
das stossweise Ausströmen und die mechanisch sich
vollziehende Absonderung der Kohlensäure hintan
halten können. Zum Kochen eignet sich aber das
Gas vorzüglich, da bei der angebrachten grösseren
runden Oeffnung ein spontanes Erlöschen nie er¬
folgt, beim Eintauchen der Kochgeschirre in das
Flammenmeer kein Ansatz von Russ erfolgt und in
gewöhnlichen Kochgeschirren in zehn Minuten Wasser
zum Sieden gebracht werden kann. Nach der Rei¬
nigung von Kohlensäure wäre natürlich mit der
Leuchtkraft auch dieser Heizeffekt ein gesteigerter.
Zu erwähnen ist noch, dass auch während des Kochens,
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45 8
Der Staat Santa Catharina in Sitdbrasilien.
trotz einiger zwischengeschalteter, teilweise geschlos¬
sener Hähne am Bohrloch durch eine Oeffnung Gas
und Wasser und durch eine zweite die Hauptmasse
des Gases frei austreten muss, da sonst der Ueber-
druck des Gases durch alle Fugen der Hähne u. s. w.
in der Wohnung herauspfeift. Ohne diese Ventile
wären die Bewohner in steter Gefahr der Erstickung
oder der Explosion, abgesehen von der Unmöglich¬
keit, die Flamme im Herd zu regulieren.
Trotzdem das Bohrloch nur zweizöllig ist und
dadurch die Wasserschicht noch eine verhältnis¬
mässig hohe Widerstandskraft dem Durchbruch des
Gases entgegensetzen kann, gehen jetzt täglich bei¬
läufig dreihundert Kubikmeter Brenngas ungenutzt
verloren. Dabei hat aber seit bald einem halben
Jahre die Menge des ausströmenden Gases in keiner
Weise nachgelassen. Bei rationeller Anlage und
Verteilung liesse sich natürlich, ähnlich wie beim
Wasser artesischer Brunnen, ein grosses Vielfaches
des jetzigen Quantums gewinnen. Die Verwendung
als Wärmequelle zu Anlagen für Ziegelbrennen, für
Metallgiessereien, für Glasschmelzen, als Kraftquelle
für Gasmotoren und elektrische Anlagen, oder zur
Herstellung komprimierten Leuchtgases für Eisen¬
bahnbeleuchtung, dürfte für die Hebung der Industrie
von Wels, ja von ganz Oberösterreich, noch von
eminenter Wichtigkeit werden.
Nachdem ich nun das Thema, wie ich glaube,
erschöpft habe, dürfte nur noch eine Frage auf den
Lippen der Leser schweben: Wie entsteht aus der
Braunkohle brennbares Gas? Zur Beantwortung müs¬
sen wir uns vor allem den Verkohlungsprozess ver¬
gegenwärtigen. Wir haben als Ausgangspunkt Holz
oder anderes Pflanzenmaterial, z. B. Torfmoore. Der
Mensch erzeugt im Kohlenmeiler reine Kohle, in¬
dem als Nebenprodukt brennbare Gase verloren gehen.
Auch die Natur hat reine, aber komprimierte Kohle
erzeugt: das sind unsere ältesten und besten Stein¬
kohlen. Aber die wenigsten vorweltlichen Brenn¬
materialienlager haben diese ideale Stufe erreicht;
die meisten, wenn nicht alle, sind noch in Umbil¬
dung begriffen, die einen schneller, die anderen lang¬
samer. Und so sehen wir schon am Anfänge dieser
Bildung in unseren Moossümpfen aus dem Gemische
von Kohlenstoff, Wasserstoff* und Sauerstoff, das wir
als Pflanzenleichen vor uns haben (Stickstoff* und
die mineralischen Bestandteile kommen hier nicht
in Betracht), Gasblasen aufsteigen. Procentualiter ist
in diesem Gase mehr Wasserstoff und Sauerstoff* ent¬
halten als Kohlenstoff*. Im Rückstände wird dadurch
dem Prozentsätze nach eine Anreicherung an Kohlen¬
stoff erfolgen. Dies hat auch bei der Bildung der Braun¬
kohle stattgehabt, und derselbe Prozess geht weiter
beim Uebergang dieser in Steinkohle. Da aber dieser
Prozess ungeheure Zeiträume erfordert, so treten
in den meisten Kohlenlagern keine Anhäufungen
solcher Destillationsprodukte auf. An manchen Stellen,
wie in Wels, scheinen aber entweder die Kohlen¬
lager sehr gross zu sein oder, was wahrscheinlicher
ist, die Umwandlung in kohlenstoffreichere Kohle
stürmischer als an anderen Orten zu erfolgen. Ab¬
solut frei von brennbaren Destillationsgasen dürfte
wohl kein Kohlengebiet sein.
Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien,
Von C. Ballod (Jena).
(Fortsetzung.)
Der Mailuzia ist noch auf io km tief und schiff¬
bar, ebenso sein Nebenfluss Manoel Alves, weiterhin ist
er noch eine Strecke für flachgehende Kanoes fahrbar.
Der eigentliche Araranguä ist auch noch etwa io km
oberhalb der Mündung des nördlichen Armes, des
Mailuzia, schiffbar. Diese schiffbaren Strecken sind
schon seit vierzig und mehr Jahren von Brasilianern
occupiert, allerdings nicht so dicht besiedelt wie
am Tubaräo, auch ist lange nicht so viel Land in
Kultur, da des schwierigen Exportes wegen die Preise
aller Produkte ziemlich niedrig sind. Die besiedelten
Ländereien sind hier noch ziemlich billig; 1890 ver¬
langte man durchschnittlich 3—5 Milreis (6—10 Mark)
für die Brasse (= 2,2 m) Flussfront mit 500—1000
Brassen Tiefe, für eine mittlere Kolonie von 100
Brassen Front also 600—1000 M., während am
unteren Tubaräo für kultivierte Ländereien der 10- bis
2ofache Preis verlangt wurde; die Güte der Ländereien
ist so ziemlich die gleiche, hier wie dort sind manche
Grundstücke seit 40—50 Jahren unausgesetzt be¬
baut worden, ohne an Ertragsfähigkeit merklich ein-
gebüsst zu haben, während in den doch auch recht
fruchtbaren Flussauen des Itajahy, in der Kolonie
Blumenau, der Boden ungedüngt höchstens 20—30
Jahre gute Erträge gibt. Oberhalb der Grenze der
Schiffbarkeit treten die Sümpfe im Hintergründe
mehr zurück, und das fruchtbare Alluvialland wird
breiter, etwa 30 km oberhalb der Mündung des
Mailuzia treten auch schon einzelne Berge an den
Araranguä heran, dieselben sind jedoch ungleich wie
am Tubaräo, mehr sanft und abgerundet und von
einer braunroten, sehr fruchtbaren Erdschicht über¬
lagert, ihr Kern ist wahrscheinlich von krystallinischer
Struktur. Am Mailuzia scheint das fruchtbare Allu¬
vialland weniger ausgedehnt zu sein als am Ara¬
ranguä; das Gebiet der am oberen Mailuzia 1891
angelegten italienischen Privat-Kolonie Nova Venezia,
die Januar 1892 bereits 3500 Bewohner gehabt haben
soll, ist im ganzen nur von mittelmässiger Beschaffen¬
heit, was auch für das Gebiet der östlich vom Mai¬
luzia 1890 mit etwa 1000 Kolonisten angelegten
polnisch-deutschen Kolonie Cressiuma gilt, überall
lagert ein hellgelber Lehm auf Sandstein, zum Teil
auch Schiefergrundlage, die Terrainbeschaffenheit ist
günstig, flach wellig. Gegenwärtig (1892) werden
am mittleren Mailuzia und dessen Nebenflüssen,
Rio Sangäo, Manoel Alves, Cedro, 30000 ha Regie¬
rungsland zu Kolonisationszwecken vermessen; das
Land hat eine ähnliche Beschaffenheit, wie in den
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Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
459
vorher erwähnten Kolonien, 1 jio — l j:> mögen jedoch
fruchtbares Alluvialland sein. Die fruchtbarsten allu¬
vialen Striche am mittleren Ararangua und seinen
links mündenden Nebenflüssen Jundia, Turvo, sowie
auch am Manoel Alves und Cedro, nebst dem da¬
zwischen liegenden Lande, im ganzen etwa 50000 ha
noch unbesiedelter Ländereien (davon jedoch viel¬
leicht höchstens die Hälfte alluvial), sind in den
letzten zwei Jahrzehnten in den Besitz örtlicher ein¬
flussreicher Persönlichkeiten übergegangen, zum Teile
freilich mit zweifelhaften Besitztiteln. 1890 wurden
für diese Ländereien durchschnittlich 8—10 Milreis
(16—20 Mark) pro ha verlangt. Der Ararangua
entspringt in einer 800 m hohen, 20 — 30 km breiten
Kampzone, oberhalb der Serra, die aus von »Trapp«
gehobenen Sandsteinen besteht. Nach der See zu
breiten sich südlich vom Ararangua sandige oder
sumpfige Kampflächen aus, dazwischen sind vielfach
Strandseen eingelagert, darunter die 20 km lange
und 4—5 m breite Lagoa Sombrio, an deren Ostrand
der ziemlich ausgedehnte, abgerundete Morro (Berg)
Sombrio aufragt; derselbe ist von einem dunkel¬
roten, fruchtbaren Lehm bedeckt und stark bebaut
und besiedelt. Dieser Strandsee (der Sombrio) sendet
einen für Kanoes fahrbaren Ausfluss zum Mampi-
tuba, dem auf 10 km schiffbaren Grenzfluss gegen
Rio Grande do Sul. Seine Mündung ist fast ver¬
stopft, in der Nähe, bei Torres, befinden sich jedoch
ein paar in die See vorspringende Basalthügel von
etwa 70 m Höhe, zwischen denen sich durch An¬
lage eines Wellenbrechers ein Kunsthafen hersteilen
Hesse. 1891 im Mai war für einen Hafenbau und
eine sich daran anschliessende, 160 km lange Eisen¬
bahn nach Porto-Alegre, Hauptstadt von Rio Grande,
staatliche Zinsengarantie bewilligt. Die Arbeiten
sind angeblich auch aufgenommen worden, jedoch
schwerlich weit vorgeschritten; ob sie fortschreiten
und zu Ende geführt werden, ist jetzt nach den seit
dem Sturze Fonsecas (November 1891) eingerisse¬
nen Wirren mehr als fraglich, da die Konzessionäre
Günstlinge Fonsecas waren und die zur Herr¬
schaft gelangte Gegenpartei ihnen Schwierigkeiten
in den Weg stellen könnte. Der Ararangua steht
durch einen natürlichen, für Kanoes fahrbaren Kanal
mit der Lagoa Sombrio und damit mit der Mampi-
tubamündung im Zusammenhang. Die Küste ist
von Laguna an südwärts überall flach-sandig, die
Dünen stellenweise ziemlich ausgedehnt, doch ragen
zwischen ihnen hier und da vereinzelte Granithügel auf.
Das Klima.
Das Klima ist sicher für die Gesundheit, auch des
Nordländers, im allgemeinen zuträglich, indessen sind
die Reize desselben von vielen Reisenden, nament¬
lich von Ts c hu di, doch in viel zu rosigen Farben
geschildert worden; es soll namentlich für Brust¬
kranke zu empfehlen sein, besonders auf der Insel
Santa Catharina, der »Insel des ewigen Frühlings«.
In Wirklichkeit fehlt es daselbst, besonders in der
Hauptstadt Desterro, durchaus nicht an Tuberkulösen;
da die Hitze, infolge der zwischen Bergen einge¬
schlossenen Lage der Stadt, im Sommer kaum weniger
hoch steigt als in Rio de Janeiro, auch keine über¬
grosse Reinlichkeit herrscht, vielmehr die Aasgeier,
die Urubus, die Rolle der Abdecker spielen müssen,
so gehört ein Sommeraufenthalt daselbst durchaus
nicht zu den Annehmlichkeiten; auch der Winter
mit seinen häufigen Nebeln und anhaltenden Land¬
regen dürfte Lungenleidenden nicht sehr Zusagen.
Das in einem tiefen Thal gelegene Blumenau zeigt
genau dieselbe Sommertemperatur wie Rio de Janeiro,
nur die Nächte sind kühler. Am gesündesten sind
die den Seewinden ausgesetzten Teile und die höher
gelegenen Landstriche, namentlich das Hochland, für
Brustkranke; indessen wird das Klima überall zu
feucht sein. Ueber den Grad der Luftfeuchtigkeit,
sowie die Häufigkeit von Nebeln liegen für Santa
Catharina leider keine ziffermässigen Berichte vor;
auf dem entschieden trockeneren Hochlande von Säo
Paulo kamen nach H. Lange 1 ) 1887: 173, 1888:
116 Nebel vor, fast ausnahmslos morgens. In Santa
Catharina ist die Häufigkeit der Nebel am geringsten
an der Küste, nimmt landeinwärts bis zum Serra-
absturz zu, wo die Nebel zugleich intensiver sind
und oft erst gegen Mittag verschwinden. Besonders
feucht und nebelreich ist die in den östlich abge¬
dachten Serraterrassen gelegene Kolonie Säo Bento
(800 m). Das nach Westen sich abdachende Hoch¬
land ist wieder trockener. H. Lange (Südbrasilien
S. 13) rechnet das brasilianische Küstengebiet von
24—28° südl. Br. zur Provinz der Winter- und
Sommerregen, allein nach den bei ihm selbst an¬
gegebenen Tabellen lässt sich eine solche Einteilung
kaum streng begründen, der Regenfall ist vielmehr
ziemlich gleichmässig auf alle Jahreszeiten verteilt,
im Sommer ist er sogar etwas geringer als sonst,
für Blumenau beträgt der Gesammtregenfall 1391 mm,
für Joinville 2245 mm (allerdings nach nur zwei¬
jährigen Beobachtungen). Wichtiger ist der Um¬
stand, dass im Sommer der Regen gewöhnlich in
einzelnen starken Güssen und Gewittern, die schnell
vorüberziehen, niederfällt, so dass heitere Tage vor¬
walten; die Sonne trocknet den Erdboden und auch
die Wege schnell auf, so dass sie fast immer passier¬
bar sind. Im Winter dagegen regnet es oft tage-,
ja wochenlang, wobei gewöhnlich ein feiner Land¬
regen niederrieselt, der den Erdboden und die Wege
furchtbar aufweicht und die Geduld des Reisenden
auf eine harte Probe stellt. Aus diesem Grunde ist
es auch nicht üblich, im Winter die halsbrecherischen
Pfade zum Küstenlande herabzusteigen, es sei denn
in den dringendsten Fällen (eine chausseeartige Strasse
nach dem Hochland giebt es nur in der Kolonie
Donna Francisca).
Landeinwärts, besonders an der Serra, ist der
Regenfall entschieden beträchtlicher als an der Küste,
*) Petermanns Mitteil. 1891, S. 15.
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460
Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
da die von der See aufsteigenden Wolken von den
vielen Bergen und Bergzügen, insbesondere von der
Serra, aufgehalten und zur Abgabe ihrer überschüs¬
sigen Feuchtigkeit gezwungen werden. Die Luft¬
feuchtigkeit ist ziemlich hoch; alles schimmelt leichter
als in Europa, sehr schnell rostet Eisen.
Die Mittelwärme beträgt in Donna Francisca
20,5 0 Cels. (Januar, 24,5; Juli 16,5); in Blumenau
2i,5° Cels. (Januar 26,5; Juli 16,2); an anderen
Orten sind keine längeren Beobachtungen angestellt.
An der Küste und auf den Inseln Santa Catharina
und Säo Francisco ist das Klima bedeutend gleich-
mässiger als im Inneren, namentlich ist es frostfrei,
wogegen schon einige Meilen landeinwärts fast all¬
winterlich Reif vorkommt. Dabei ist die bekannte
Eigentümlichkeit zu beachten, dass die Berghänge
des Nachts und im^ Winter wärmer sind . als die
Thalsohlen, so dass es in den Thälern öfters reift,
während die Hänge und Bergkuppen frostfrei bleiben.
Von Bedeutung ist dies für die Kultur von frost¬
empfindlichen Pflanzen, wie Kaffee und Zuckerrohr —
allerdings darf eine gewisse absolute Höhe, etwa
500 m im Maximum, im Süden von Santa Catharina
wohl noch weniger, nicht überschritten werden, auch
sind nur die nördlichen Hänge (die Sonnenseite)
frostsicher, nicht aber die nach Süden oder dem
Lande zu (nach Westen) geneigten Berghänge.
Was das Hochland anlangt, so ist daselbst die
Temperatur der Lage entsprechend, um einige Grad
niedriger, namentlich friert es fast jeden Winter bis
zu — 6° C., ja bis zu — 8 0 C.; zuweilen fällt selbst
Schnee, der aber selten längere Zeit liegen bleibt.
Die Differenz zwischen Sommer- und Wintertempe¬
ratur ist dabei geringer wie im Küstenlande, höch¬
stens 5—6° C., während sie im Küstenlande 9 —io°C.
beträgt. Diese geringen Schwankungen haben die
Unannehmlichkeit, dass 6—7 Monate im Jahre nicht
frostsicher sind; es ist also ein solches Klima bedeu¬
tend ungünstiger für Kulturpflanzen als ein gleich
warmes mit stärkeren Temperaturdifferenzen, z. B.
das von Montevideo oder Buenos-Aires. Die Inso¬
lationswärme freilich dürfte im Sommer auf dem
Hochlande nicht geringer sein als im Küstenlande,
wohl aber die Schattentemperatur.
Was die sanitären Verhältnisse anlangt, so soll
nach brasilianischen Berichten im ganzen Staate sich
die Sterblichkeit zur Geburtenziffer verhalten wie
1 : 3, also ein sehr günstiges Verhältnis. In Blumenau
soll das Verhältnis gegenwärtig sein wie 1 : 5 und
1 : 4, in den sechziger Jahren, aus denen genauere
Berichte vorliegen, wie 1 : 3 und 1:2 72. In Donna
Francisca überwog in den ersten Jahren nach der
Begründung die Sterblichkeit bedeutend: die 1717
Einwanderer, die bis 1856 eingeführt waren, waren
durch Dysenterie, Typhus, Malaria im genannten
Jahre bis auf 901 zusammengeschmolzen 1 ). Ueber-
*) Woldemar Schultz, Agrar, und physikal. Studien
über Südbrasilien, S. 148.
haupt waltet bei der Anlage von neuen Kolonien
die Sterblichkeit vor, namentlich wenn wie gewöhn¬
lich die Einwanderer durch eine strapaziöse Seereise
geschwächt ankommen und die Fürsorge seitens
der brasilianischen Behörden unzureichend und
nachlässig ist, Medizin und ärztliche Hilfe nicht zu
haben sind. Namentlich 1890 konnte man überall
in Santa Catharina und Rio Grande bei Kolonisten¬
ansiedelungen beobachten, dass besonders die Kinder
der Einwanderer massenhaft dahinstarben. Die Akkli¬
matisationsbeschwerden, die darin bestehen, dass sich
bei Neuankömmlingen Ausschläge und selbst Ge¬
schwüre an Händen und Füssen bilden, die zuweilen
monatelang andauern und den Einwanderer arbeits¬
unfähig machen, sind um so schlimmer, je schlechtere
Kost man geniessen muss, namentlich wenn man von
Maisbrot und Farinha da Mandioca vorzugsweise
leben muss; bei guter Kost, namentlich häufigem
Reisgenuss und Weizenbrot, anstatt Mandiocamehl
und Maisbrot, kommen Akklimatisationsbeschwerden
äusserst selten vor oder sind doch gänzlich ohne
Belang.
Was die Malaria anlangt, so kommt sie endemisch
vor in einigen sumpfigen Strecken der Kolonien
Donna Francisca und Brusque; in Blumenau, wo es
keine Sümpfe gibt, hat man kaum von ihr etwas
gehört, höchstens zuweilen bei Urbarmachung von
feuchten Urwaldstrecken. In den sumpfigen Um¬
gebungen des unteren Tubaräo und Araranguä kommt
Malaria äusserst selten vor; sie beschränkt sich meist
wiederum auf die Fälle, wo sumpfige Urwaldstrecken
urbar gemacht werden, so z. B. im Sommer 1890/91
in Cressiuma. Für die Besiedelung bildet sie er-
fahrungsmässig kein Hindernis, da sie entschieden
in milderer Form auftritt als z. B. in Italien; per-
niciöse Fälle kommen kaum vor. Leichte Fälle eines
biliösen Fiebers scheinen im Küstenlande zuweilen
vorzukommen. Das gelbe Fieber ist zuweilen durch
die Unachtsamkeit der brasilianischen Behörden in
die Hafenstädte Desterro und Sao Francisco einge¬
schleppt worden, hat sich jedoch weniger bösartig
gezeigt als in Rio de Janeiro und Santos; bis in
die Kolonien ist es nie gelangt. Dass der Rheu¬
matismus besonders auf dem Hochlande häufig vor¬
kommt, hat seinen Grund in den mangelhaften
Wohnungs- und Kleidungsverhältnissen, namentlich
der brasilianischen Bevölkerung. Lähmungen und
Schlagflüsse sollen bedeutend ungefährlicher sein, als
in Mitteleuropa.
Die wilde Vegetation.
Hinsichtlich der Vegetation muss wiederum der
Unterschied zwischen dem Küstenlande und dem
Hochlande berücksichtigt werden. Das Hochland
enthält weite Grasflächen, die sog. Campos, die
jedoch durchaus nicht die ganze Fläche desselben,
nicht einmal den grösseren Teil einnehmen. Haupt¬
sächlich kommen sie auf dem schwarzen, moorigen
Boden vor, doch finden sie sich auch auf Lehm-
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Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
461
boden, wo sie durch Niederbrennen des Waldes an¬
gelegt sind und dann infolge der allwinterlichen
Grasbrände, die angelegt werden, um schneller frisches
Gras zu erhalten, an der Oberfläche von den Kohlen¬
teilchen geschwärzt erscheinen. Auf den Alluvionen
der Flüsse findet sich überall ein dicht verwachsener
Laubwald, auf den Bergen und Hügeln dagegen vor¬
wiegend Nadelholz, die Araukarien in Verbindung
mit dem Matebaum (Ilex paraguayensis). die ja mit
dem schlechtesten Boden fürlieb nehmen. Doch
gilt auch ein Boden, wo Araukarien stehen, gewöhn¬
lich immer noch für besser als reiner Kamp.
Das Küstengebiet ist, von den gerodeten Stellen,
sowie einigen sandigen oder sumpfigen Campos an
der Küste abgesehen, durchweg Waldgebiet; je nach
den geologischen Verhältnissen ist die Mächtigkeit
und Zusammensetzung des Waldes eine verschiedene.
Der Wald ist durchaus nicht so klar und leicht zu¬
gänglich wie der mitteleuropäische, sondern mit
Schmarotzer- und Schlinggewächsen, Philodendren
mit Luftwurzeln, Bromeliaceen, Cipos, Farnen, ver¬
schiedenen Rohrarten, Kakteen, Palmiten so dicht
verwachsen, dass man gewöhnlich nur mit dem Wald¬
messer (facäo) sich Bahn brechen kann. Am dich¬
testen verwachsen ist der Wald in den fetten Fluss¬
auen, in der Höhe von dreihundert und mehr Metern
lichtet sich das Unterholz bereits stark, so dass man
sich leichter bewegen kann, was übrigens zuweilen
auch in einem Walde, der auf einem tiefer gelegenen,
mittelmässigen Boden steht, der Fall ist. Frei von
Unterholz sind freilich nicht einmal die Araukarien-
und Matewaldungen des Hochlandes; es finden sich
daselbst hauptsächlich Rohrarten, Taquararohr, die
im Winter für das Kampvieh Futter darbieten, wenn
das Kampgras, das überhaupt sehr leicht verfriert,
nicht zu haben ist. Wenn behauptet ist, der nor¬
dische Wald, namentlich ein Eichen- und Buchen¬
wald sei schöner als der tropische oder subtropische,
so ist das Geschmackssache. Gewiss findet man
Waldstrecken, die unschön sind, verkrüppeltes graues
Holz enthalten, in den Flussauen dagegen findet man
ein ungemein saftiges, üppiges Grün, das im Verein
mit den Schlinggewächsen und Palmen dem Wald
eigentümliche Reize verleiht, die der nordische Wald
entbehrt. Ein saftiges dunkles Grün der Wald¬
vegetation, mächtige Schlinggewächse, viele mächtige
weiche Holzarten wie die Figueiras (Bombax pent-
andrum, Ceiba) sind Anzeichen eines guten Bodens;
viele graue Aeste, abgestorbenes oder verkrüppeltes
Holz weisen auf schlechten Boden. Mächtige harte
Holzarten dagegen gedeihen auch auf einem mittel¬
mässigen oder trockenen Boden, der Kulturgewächsen
nicht sehr zusagt. Wenn Kärger von Säo Paulo
berichtet, dass daselbst die Standorte von harten Holz¬
arten als mittelmässiger oder schlechter Boden gelten,
in Donna Francisca jedoch umgekehrt harte Holz¬
arten guten Boden anzeigen x ), so ist das wohl so
*) Kärger, Brasil. Wirtschaftsbilder, S. 287.
zu erklären, dass der Boden in Donna Francisca
überhaupt von einer so mittelmässigen Qualität ist,
dass darauf nur die mit dem schlechtesten Boden
fürlieb nehmenden untauglichen Baumarten Vor¬
kommen, so dass schon die Standorte von harten
Hölzern einen relativ guten Boden anzeigen. Im
Süden von Santa Catharina habe ich häufig beobachtet,
dass mächtige harte Holzarten, z. B. die Perobas,
auf einem mittelmässigen Boden vorkamen, der urbar
gemacht, sich durchaus nicht als sehr fruchtbar er¬
wies, also dieselbe Beobachtung wie in Säo Paulo.
Die gewöhnliche Regel »je höher der Wald, je mäch¬
tiger die Stämme, desto besser der Boden«, trifft also
für Südbrasilien bloss insoweit zu, als von weichen
Holzarten, Figueiras, Pao d’alho (Crataeva tapia L.)
(der gefällt einen unausstehlichen Zwiebelgeruch
verbreitet), Sapucassü und mächtigen Schlingge¬
wächsen die Rede ist, nicht ab£r in Bezug auf harte
Holzarten, was wohl daraus erklärlich sein dürfte,
dass in einem sehr guten Boden die Schling- und
Schmarotzergewächse ihr Optimum finden und lang¬
sam wachsende, edle und harte Holzarten erdrücken
oder aussaugen. Doch ist zu beachten, dass sehr
fruchtbarer Schwemmboden, wenn er häufigen Ueber-
schwemmungen ausgesetzt ist, öfters auch nur dünne,
schmächtige Baumstämme aufweist. Zu beachten
ist, dass nicht jedes harte Holz ein Nutzholz ist, das
in dem feuchten Klima von Südbrasilien Haltbarkeit
besitzt, manche Arten, z. B. die auf schlechtem,
sandigen Lehmboden häufig vorkommende, fast eisen¬
harte Pintabuna (bot. Name?), verfaulen der Witte¬
rung ausgesetzt in wenigen Jahren. Von harten
Nutzhölzern (dem madeira de lei = den gesetz¬
lichen Anforderungen entsprechend), die in dem
Wechsel der Witterung eine Reihe von Jahren Vor¬
halten, werden von manchen Autoren bis 150 Arten
angeführt, so dass man leicht geneigt ist, zu denken,
der Wald bestehe ganz oder doch zum grössten Teil
aus Nutzholz. Das ist nun nicht der Fall; ein Wald¬
stück, wo man pro ha 15—20 cbm vierkantig be¬
hauene Holzblöcke herausholen kann, gilt schon als
sehr reich an Nutzholz; auf ganz schlechtem, trocke¬
nem Boden und wiederum auf sehr gutem Alluvial¬
boden findet man auf weite Strecken kaum einen
brauchbaren Stamm. So viel brauchbares Holz, wie
in unseren nordischen, nord- und mitteleuropäischen
Laubwäldern, findet man in Südbrasilien, im Küsten¬
lande, fast nirgends; die Stämme haben dabei durch¬
schnittlich kaum über */* m Durchmesser, solche
von 1 — 1 V2 m Durchmesser sind schon selten. Die
Araukarien Waldungen des Hochlandes mögen es
allerdings mit den nordischen Nadelholzwäldern auf¬
nehmen.
Von den harten Nutzhölzern kommen am häufig¬
sten vor die verschiedenen (circa 12) Arten von
Canellas, die zur Familie der Laurineen gehören, die
wichtigsten sind darunter die Canella preta (Nect-
andra mollis Nees); C. parda (Nectandra spec.);
C. sassafras (Mespilodaphne Sassafras). Dann kommen
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462
Geographische Mitteilungen.
sehr häufig vor, namentlich im Süden von Santa
Catharina die Perobas (Aspidosperma peroba), die
zur Familie der Apocyneen gehören, ein rötliches
oder gelbliches Holz enthalten, das zum Schiffbau
das Eichenholz übertreffen soll, namentlich da¬
durch ausgezeichnet, dass Eisenbolzen und -Nägel
in ihm, ähnlich wie im indischen Teakholz, nicht
rosten. (Fortsetzung folgt.)
Geographische Mitteilungen.
(Venus als Abend- und Morgenstern.) Sicher¬
lich hat schon jeder Gebildete die Frage zu beantworten
gesucht, woher es kommt, dass man den Planeten
Venus bald als Morgen-, bald als Abendstern erblickt.
Aber ebenso sicher ist auch, dass viele in der Beant¬
wortung dieser Frage Schwierigkeiten gefunden haben,
die sich selbst durch Benutzung von astronomischen
Lehrbüchern nicht so leicht heben Hessen, weil eben
die Gelegenheit fehlte, die Angaben der Astronomen
mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Nun bot sich
um die Zeit des 9. Juli für jeden das interessante Schau¬
spiel des Uebergangs der Venus aus dem Hesperus zum
Lucifer. Jedermann weiss, dass, wenn Venus links von
der Sonne steht, sie nach der Sonne auf- und später
als die Sonne untergeht, also als Abendstern erscheint.
Ihr Aeusseres gleicht dann, durch ein Fernrohr an¬
gesehen, dem zunehmenden Mond. Steht dagegen Venus
rechts von der Sonne, so geht Venus vor der Sonne
auf und früher als die Sonne unter, erscheint demnach
als Morgenstern. Aus der beigegebenen Skizze ist nun
folgendes ersichtlich:
Am 4. Juli erscheint Venus (?), von der Erde (&)
aus gesehen, im Punkt Vk des Himmelsgewölbes, also
links von der Sonne, die, von der Erde aus gesehen,
in Sk erscheint. Am 9. Juli erscheint Venus, von der
Erde aus gesehen, in demselben Punkte V 9 des Himmels¬
gewölbes wie die Sonne, welche in S 9 erscheint. Diese
Stellung heisst man die untere Konjunktion der Venus.
An diesem Tage geht Venus zugleich mit der Sonne
auf und unter, ist daher unsichtbar. Am 14. Juli er¬
blickt man Venus imPunkte Vu des Himmelsgewölbes,
während die Sonne, von der Erde aus gesehen, in Sik
erscheint, also steht Venus rechts von der Sonne.
Stellt man sich nun vor, am 4. Juli befinde man
sich im Mittelpunkte des Himmelsgewölbes und das
Himmelsgewölbe drehe sich in der Richtung des grossen
Pfeiles, so ist sofort klar, dass Venus, wenn Punkt Sk
untergegangen ist, noch am Himmel steht und folglich
als Abendstern erscheint. Derselbe Gedanke zeigt je¬
doch, dass am 14. Juli Punkt Vu früher als 5 m über
dem Horizont erscheint, oder dass Venus früher als die
Sonne aufgeht und uns als Morgenstern leuchtet.
Um sich jedoch nicht durch die scheinbare Drehung
des Himmelsgewölbes, welches ja thatsächlich fest steht,
beirren zu lassen, stelle man sich vor, in den mit 4, 9,
14, 19, 24 bezeichneten Punkten der Erdbahn sei eine
kleine Kugel aufgestellt, welche die Erde vorstelle und
sich in der Richtung des kleinen Pfeiles bei $ herum¬
dreht; man wird dann, wenn man sich in möglichster
Verminderung seines Volumens auf einen Punkt dieser
kleinen Kugel gestellt denkt, ohne weiteres einsehen,
dass man bei der Stellung in Punkt 4, wenn sich die
Kugel dreht, die Sonne früher erblickt als den Planeten
Venus, und dass bei weiterer Drehung dieser kleinen
Kugel die Sonne früher verschwinden muss als Venus,
so dass Venus als Abendstern erscheint. Bei der Stellung
der Erde aber in Punkt 14 zeigt sich, dass, wenn die
Erdkugel sich herumdreht, zuerst Vu oder Venus über
dem Horizont erscheint und erst später Su oder die
Sonne, so dass Venus jetzt als Morgenstern auftritt.
Bewegt sich ein Planet in der Richtung des grossen
Pfeiles, so heisst seine Bewegung eine rückläufige; ist
dagegen seine Bewegung der Richtung dieses Pfeiles
entgegengesetzt, so heisst seine Bewegung eine recht¬
läufige.
Venus legt in 5 Tagen ungefähr 8°, die Erde in
5 Tagen ungefähr 5 0 zurück, was aus der grösseren
Abbildung besser ersichtlich ist.
Die Erscheinungen, weiche Venus in den nächsten zwei
Monaten darbietet, können aus der grösseren Abbildung
durch die mit entsprechenden Monatsdaten versehenen
Buchstaben wohl ohne Schwierigkeit erfasst werden.
An dem Projektionsglobus (s. Nr. 21) lässt sich die
Rückläufigkeit und Rechtläufigkeit der Venus, sowie
die Schleife, in der sich Venus während der Zeit vom
11. Juli bis 20. August bewegt, in grösster Einfachheit
dem physischen Auge vorführen; doch dürfte auch aus
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Litteratur.
der grösseren Zeichnung der Lauf der Venus verständlich
erscheinen. (Mitteilung von F. Adami in Bayreuth.)
(Eine Forschungsreise im centralen Asien.)
Kapitän Bo wer vom ostindischen Stabe unternahm im
vorigen Jahre in Begleitung des Dr. Thor old, eines
Feldmessers, einer Pathan-Ordonnanz, eines Hindustani-
Koches und anderer sechs Leute für Bedienung und
Führung von 47 Ponies und Mauleseln, eine Forschungs¬
reise über das Tafelland von Tibet. Man verliess am
14. Juni 1891 die östlich von der Hauptstadt Kaschmir
gelegene Stadt Leh und passierte am 3. Juli den La-
nakma-Pass. In östlicher Richtung dann stiess man auf
eine Kette von Salzseen, unter denen der sog. Hor-
Ba-Too, 17930 engl. Fuss (5465 m) über dem Meeres¬
spiegel, wohl der höchstgelegene See der Erde ist.
Weiter südöstlich entdeckte man nach Norden zu in
35 0 n. Br. und 83° ö. L. Gr. ein mächtiges Schnee¬
gebirge mit sehr hohem Pik. Nachdem man dann
wochenlang über Hochland von 15000 bis 17000 Fuss
(4572 bis 5182 m) Höhe, mit spärlichem Wasser und
anscheinend unbewohnt, gereist war, gelangte man am
3. September nach dem am nördlichen Ufer des Tengri
Nor Lake in 31 0 n. Br. und 91 0 ö. L. Gr. gelegenen
Orte Gya-Kin-Linchin, wenige Tagemärsche von Lhassa.
Hier fand man zwei Beamte des Gouverneurs Devi
Jong in Lhassa vor, welche die Gesellschaft zur Um¬
kehr zwingen wollten. Als sich jedoch Kapitän Bo wer
hartnäckig weigerte, gestattete man ihm, unter Stellung
von Führern und Ponies, einen nördlichen Umweg nach
der Grenze des westlichen China. Noch vor Beginn
des Winters gelang es, das hohe Tafelland zu über¬
schreiten, und man traf am 31. Dezember in der Stadt
Chiamda, mit sehr fruchtbarer und schön bewaldeter
Umgebung, ein. Hier zeigten 3000 Mönche, welche in
stattlichen Klöstern wohnten, grosse Lust, die Reisenden
anzugreifen, besannen sich aber eines Besseren, als sie
erfuhren, dass die Fremden mit »breechloaders« versehen
waren. Auf die Nachricht hin, dass sich in Tarchindo,
einem Aussenposten an der chinesischen Grenze, 200 Eu¬
ropäer befanden, änderte Kapitän Bower seinen Plan,
das nördliche Birma zu bereisen. Man erreichte am
10. Februar Tarchindo und fand bei zwei französischen
Missionaren gastfreundliche Aufnahme. Nach weiteren
acht Tagemärschen gelangte man an einen Nebenfluss
des Yang-tse-Kiang und drei Tage später an den letz¬
teren, von wo ab man per Dampfer am 29. März in
Shanghai an der Ostküste von China ankam. Von hier
aus erfolgte die Rückkehr nach Ostindien auf dem
Wasserwege, und man traf am 23. April 1892 wieder
in Simla ein.
Es gab auf der Reise sehr viel Schwierigkeiten zu
überwinden; Wasser war oft auf weiten Strecken nicht
vorhanden. Die Entfernung vom Lanakma-Pass bis
Tarchindo betrug über 2000 englische Meilen (3220 km)
und führte durch eine Gegend, welche grösstenteils von
Europäern zuvor noch nicht betreten war. Kapitän
Bower ist jetzt mit der Veröffentlichung seines Reise¬
journals beschäftigt. (Mitteilung von H. Greffrath in
Dessau.)
Litteratur.
Asien. Eine allgemeine Landeskunde von W. Sievers. Leip¬
zig und Wien. Bibliographisches Institut. 1892. 1. Heft.
Mit wahrhaft erstaunlicher Arbeitskraft lässt der Verfasser
463
seiner Landeskunde von Afrika diejenige von Asien auf dem
Fusse folgen.
Das uns allein vorliegende erste Heft gestattet einstweilen
weniger ein Urteil über das Können, als das Wollen des Werkes.
Es ist klar, dass uns hier als Vergleichsgegenstand zunächst
jenes Lebens werk eines der grössten Geographen aller Zeiten
ins Gedächtnis kommt, das trotz der ungeheuren Schaffenskraft
des Urhebers ein riesenhafter Torso geblieben ist. Ritters
»Asien« steht am Eingang der gegenwärtigen Epoche grosser
Entdeckungen auf der Erdoberfläche. Es zog das Facit aus
allem, was für diesen Kontinent bis dahin geographisch geleistet
war, es gründete das Fundament für die ganze neuere Asien¬
forschung. Nunmehr neigt sich dies neue, das letzte Entdeckungs¬
zeitalter allmählich seinem Ende zu; auch in Asien verengen sich
die Maschen des Forschungsnetzes zusehends, so dass bald nur
noch Kleinarbeit übrig sein wird; es kommt also der Zeitpunkt
in Sicht, wo ein neuer Ritter auftreten könnte.
Nun, das will der Verfasser nicht sein; zu diesem Unter¬
nehmen verhält sich das seine ungefähr wie ein Stielersches
Uebersichtsblatt zu Pencks projektierter Karte in 1:1000000.
Und das ist recht so. Wäre es für jene That doch noch zu
früh, so ist für eine Uebersicht der grössten Züge wohl gerade
Zeit; bis auf verhältnismässig wenige Strecken liegen diese heute
klar vor uns. So darf man denn der Sieversschen Arbeit mit
grossem Interesse entgegensehen.
Die erste Lieferung enthält eine gedrängte Erforschungs¬
geschichte von Asien, die in ihrem letzten Teile ganz eigene
Arbeit des Verfassers und, wie anzuerkennen, eine fleissige ist.
Dann beginnt eine »Allgemeine Uebersicht« der Lage, Grösse,
Grenzen u. s. w.
Uebereinstimmend mit der Gliederung der Landeskunde
von Afrika wird sich hieran künftig ein Abschnitt »Oberflächen¬
gestaltung« schliessen, darauf »Klima«, »Pflanzenwelt«, »Tier¬
welt«, »Bevölkerung«, »Staaten«, »Europäische Besitzungen« und
»Verkehr und Verkehrsmittel«.
Unter den angekündigten graphischen Beilagen findet sich
manches voraussichtlich sehr Interessante, so z. B. ein Bild der
östlichen Pamir, oder kartographisch: die tektonischen Linien
von Asien u. a. m. Das vorliegender Lieferung beigegebene
Farbenbild von Benares macht einen recht günstigen Eindruck.
Die zugehörigen Kartenbeilagen fehlen noch.
Sachliche Kritik uns bis zum Abschluss des Ganzen vor¬
behaltend, möchten wir hier nur die Aufmerksamkeit auf das
beachtenswerte Unternehmen lenken.
Berlin. Georg Wegener.
Die Halligen der Nordsee. Von Dr. Eugen Träger in
Dresden. Mit drei Karten und zehn Textillustrationen. Stutt¬
gart, Verlag von J. Engelhorn. 1892. 343 S. kl. 8°. (For¬
schungen zur deutschen Landes- und Volkskunde, im Aufträge
der Centralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von
Deutschland, 6. Band, 3. Heft.)
Die kleinen Inseln, welche sich der westholsteinischen und
nordfriesischen Küste vorlagern, sind zwar schon zum öfteren
beschrieben worden, aber stets mehr in belletristischer, als in
eigentlich wissenschaftlicher Weise; vgl. z. B. in G. Rasch’
Schrift »Vom verlassenen Bruderstamm« das vierte Kapitel des
zweiten Bändchens. Allein da diese eigenartige Inselwelt sowohl
dem Geophysiker, wie auch dem Anthropogeographen eine Reihe
von lohnenden Aufgaben stellt, so war es erwünscht, dass Herr
Träger, der zur Zeit allerdings in Nürnberg thätig ist, als
Schüler Krümmels aber zur Meereskunde von je in einem
näheren Verhältnisse stand, den Gegenstand einer monographi¬
schen Behandlung unterzog. Er geht von der Vorgeschichte der
Halligen aus, deren früheren Zustand er uns nach einer alten,
bei Homann reproducierten Karte vors Auge stellt, hierauf be¬
schreibt er im einzelnen die elf noch vorhandenen eigentlichen
Halligen — denn die grösseren Inseln werden von den Landes-
bewohnem nicht zu dieser Gruppe gezählt — und bringt für
dieselben die besten statistischen Angaben bei. Der Verfasser
hat sich in dem von ihm besuchten Gebiete gut umgesehen, und
es wohnt deshalb seiner durch hübsche landschaftliche Skizzen
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464
Litteratur.
unterstützten Darstellung der Vorzug der Anschaulichkeit inne.
Dies gilt auch für die Schilderungen, welche er vom Leben und
Treiben dieser weltabgeschiedenen Insulaner entwirft, in deren
Bereich drei oder, wenn man so will, vier Idiome inein-
andergreifen, denn das Friesische ist die Landes-, Hochdeutsch
die Kirchen- und Amtssprache, welche jeder versteht, wenn auch
gerade nicht meisterhaft spricht; das Plattdeutsche ist aus dem
benachbarten Dithmarsen schon vor unvordenklicher Zeit ein¬
gedrungen und dient wesentlich zur Vermittelung zwischen den
sprachlichen Gegensätzen des Dialektes und der Schriftsprache;
das Dänische endlich hat, wie wir hinzusetzen möchten, wenig¬
stens versucht, auch hier Eingang zu finden, wenn es auch jetzt
auf die Nordspitze von Sylt und auf Romö beschränkt erscheint
(s. die Sprachenkarte Hansens in Nr. 24 des »Globus«, aus
der u. a. auch, in Uebereinstimmung mit Herrn Trägers Nach¬
richten hervorgeht, dass sich auf den Eilanden das Friesische weit
zäher gegen das Niederdeutsche gewehrt hat, als auf dem gegenüber¬
liegenden Festlande). Die günstigen Urteile über den Charakter
der Halligleute macht sich auch der Verfasser zu eigen, und über
die den Ortsverhältnissen angepassten Modalitäten der Landbe¬
wirtschaftung, vorab der uralten Austeilung des spärlichen Ge¬
meindelandes unter die einzelnen Familien, weiss er sehr genaue
Mitteilungen zu machen, welche den Volkswirt allerdings noch
näher, als den Geographen angehen. Die physische Geographie
nimmt lebhaftes Interesse an dem von den Watten handelnden
Abschnitte, der auch den neuerdings etwas mehr in Fluss kom¬
menden Ingenieurarbeiten zum Schutze der Inselkerne und zur
Gewinnung von Neuland Rechnung trägt, vor allem aber auch
des Gezeitenphänomens und der gefürchteten Steigerung des¬
selben, der Sturmfluten, gedenkt. Um das, was vom Halligen¬
lande heute noch vorhanden ist, gegen die rastlose Zerstörungs-
arlieit zu sichern, hat sich Herr Träger mit den staatlichen und
technischen Instanzen ins Benehmen gesetzt, ist dabei aber in
manchen Kreisen, von denen man es nicht erwarten sollte, auf
eine ganz auffällige Abneigung gegen die Inangriffnahme um¬
fassender Schutzbauten gestossen. Er selbst ist vor allem für
Faschinenanlagen und hat in dieser Beziehung die Autorität des
berühmten Hydrotekten Franzius für sich.
Der Entstehungsgeschichte des heutigen Küstensaumes
möchten wir einmal eine noch mehr nach specialistischen Mo¬
tiven sich richtende Durcharbeitung wünschen, als sie ihr bis¬
lang, lind auch in der gegenwärtigen Schrift, zu teil geworden
ist, wozu ja die vorhandenen Arbeiten v. Hoffs, Eilkers u. a.
eine gute Grundlage liefern. Die annalistischen Angaben müssten
einmal kritischer als bisher geprüft werden, denn nachdem die
Behauptung, Helgoland habe dereinst einen sehr viel grösseren
Umfang besessen, sich als unhaltbar herausgestellt hat, darf
man auch den ähnlichen historischen Daten betreffs der nord-
albingischen Westküste kaum mehr das volle Vertrauen, wie
sonst, entgegenbringen, vielmehr wäre eine Uebcrprtifung der¬
selben wohl als Notwendigkeit zu bezeichnen. Eine solche
anzustellen, dünkt uns aber Herr Träger ganz der rechte Mann
zu sein.
Die Mittelalterlichen Horen und die Modernen
Stunden. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte von Gustav
Bilfinger. Stuttgart, Verlag von W. Kohlhammer. 1892.
X. 279 S. kl. 8°.
Die moderne Zeitrechnung, wie sie sich bei sämtlichen
Kulturvölkern seit langen Jahren eingelebt hat, lässt kaum mehr
den innigen Zusammenhang mit der mathematischen Geographie
wahrnehmen, aus welchem sie überhaupt erwachsen ist, und nur,
wenn es sich um die Beseitigung eines so eingewurzelten Be
griffes, wie es die Ortszeit ist, u. dgl. handelt, erinnert man sich
wieder des eigentlichen Sachverhaltes. Anders sah das Mittelalter
die Sache an, welches bei der Unvollkommenheit der Kunstuhren
auf ein weit innigeres Verhältnis zu den Erscheinungen am ge¬
stirnten Himmel angewiesen war. Zumal auch die Einteilung
des Tages und der Nacht war vom Laufe der Sonne und der
Gestirne abhängig, aber während das Altertum bei dieser Ein¬
teilung ziemlich konsequent vorgegangen war, entstand in späterer
Zeit eine förmliche Verwirrung, in welcher sich zurechtzufinden
für den Historiker notwendig, jedoch nicht immer ganz leicht
ist. Man wird deshalb der vorliegenden Schrift und ihrem in
den Irrgängen der Chronologie bestens bewanderten Verfasser
Dank wissen für die durch ihn gebotene Möglichkeit, sich auf
bequeme Weise in dem Chaos orientieren zu können.
Die Kirche, deren Vertreter so gut wie allein im Besitze
wissenschaftlicher Kenntnisse sich befanden, ging zwar von der
überkommenen Zeiteinteilung in ungleiche, d. h. von den
Jahreszeiten in ihrer Länge abhängige Stunden aus, führte aber
im Interesse der Laienwelt die Bekanntgebung wichtiger Zeit¬
momente durch Glockensignale ein, welch letztere dann allmäh¬
lich als die einzigen Mittel, die Zeit zu bestimmen, im Gebrauche
verblieben. Matutin, Prima, Tertia, Sexta, Nona, Vesper und
Completorium bildeten sich so als die einen Zeitraum von je
24 Stunden abteilenden Momente heraus. Allein nicht überall
entsprach das nämliche Wort auch dem gleichen Zeitpunkte,
vielmehr ward die Sitte, was auch geographisch sehr merkwürdig
zu verfolgen ist, in den verschiedenen Ländern auch eine ganz
verschiedene, und es bedurfte der staunenswerten Belesenheit,
welche dem Verfasser eignet, um über die einzelnen regionalen
Abweichungen volle Klarheit zu verbreiten. So war in Italien
die Nona mit dem Mittag gleichbedeutend, und auch für Frank¬
reich galt diese Identificierung, wenngleich nicht mit ganz der¬
selben Bestimmtheit, und das kulturell von letzterem Lande ganz
beeinflusste England hatte, einer ganz deutlichen Stelle bei
Chaucer zufolge, denselben Gebrauch. Das Wort Terz drückte
ungefähr die zehnte Vormittagsstunde aus. In Deutschland da¬
gegen war letztere überhaupt bis zur Mitte des Vormittages vor¬
gerückt, während die Non auch hier die Sext, die doch eigent¬
lich den Mittag hätte anzeigen sollen, verdrängt hatte. Ueber
diese an sich unverständliche Verschiebung werden vom Ver¬
fasser eingehende Erörterungen gepflogen, und er kommt zu dem
Schlüsse, dass die Beziehung, welche zumal die Ordensregel der
Mönche zwischen der Essenszeit und der »neunten« Stunde ge¬
knüpft hatte, maassgebend gewesen sei. Die Verlegung der
Horen vollzog sich nicht auf einmal, sondern war das Ergebnis
eines lange währenden Prozesses, und insbesondere der Wunsch,
eine passende Essensstunde zu erhalten, erwies sich mitbestimmend.
Die Einführung der jetzigen Stunden war bedingt durch die Fort¬
schritte der Uhrmacherkunst, über welche der Verfasser sich ein¬
gehend, und mit Beibringung mancher neuer Thatsachen, ver¬
breitet. Die nunmehr nötig werdende Zerfällung des Tages in
Stunden konnte aber auch noch auf verschiedene Weisen vor¬
genommen werden; die Italiener zählten von Abend zu Abend
durch, aber der Anfang ihrer Zählung, der Sonnenuntergang,
war beweglich, und das fanden deutsche Schriftsteller mit Recht
sehr unzweckmässig. Auch die Eigentümlichkeiten, welche die
Zeiteinteilung in der alten Reichsstadt Nürnberg darbot, werden
sehr gründlich beleuchtet, und den Schluss des Buches bildet
ein Essay über die Baseler Uhr, welche, wie dem Referenten
bereits aus verschiedenen Veröffentlichungen Rud. Wolfs bekannt
war, auffällige, erst durch Joh. Bernoulli beseitigte Sonder¬
barkeiten zur Schau trug.
Zu dem, was über die Nürnberger Uhr bemerkt wird,
tragen wir nach, dass dieselbe Tabelle der Stundenlängen, welche
das 15. Jahrhundert aufstellte, und wovon Herr Bilfinger mehrere,
unter sich nicht wesentlich variierende Proben mitteilt, heute
noch zu Recht besteht, indem sie, genau wie damals, das sog.
»Garausläuten« regelt. Das Bedürfnis, leicht aus der Nürnberger
»grossen Zeit« zur kosmopolitischen »kleinen Zeit« mit ihren
gleichen Stunden übergehen zu können, muss übrigens ein sehr
reges gewesen sein, denn eine Unzahl zu diesem Zwecke kon¬
struierter Verwandlungstafeln ist dem Unterzeichneten bereits
durch die Hände gegangen. Uebrigens kommt noch in Chr.
v. Wolfs »Anfangsgr. d. Chronologie« (Halle 1717) die Auf¬
gabe vor: »Die Jüdischen Stunden« — das ist eben die grosse
Zeit — »in Europäische und die Europäischen in Jüdische zu
verwandeln«. S. Günther.
Verlag der J. G. Cotta’sehen Buchhandlung Nachfolger
in Stuttgart.
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft ebendaselbst.
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von Dr. Ihne u. a. Doch betreffen sie erst einige
Blütengewächse, keineswegs die Landwirtschaft.
Diese muss sich mit Regeln der einfachen Erfah¬
rung behelfen, zu denen unter anderen auch solche
des tropischen Landbaues gehören:
dass die Theekultur starke Frühjahrsregen ge¬
wöhnlich nicht verträgt,
dass die Vanillekultur weder in besonders
trockenen, noch in besonders nassen Jahren ge¬
deiht u. a. m.
Auch die Theorie der Wärmesummen, mit
welcher De Candolle, Hardy, Fischer u. a. der
Dattelkultur nachzukommen suchen, erhebt sich
nicht wesentlich über diese Empirie höherer Bauern¬
regeln. (Doch wohl zu hart geurteilt. Die Red.)
Der Uebergang von dem Aufkeimen einer
meteorologischen Erkenntnis in der Landwirtschaft
zu einer klimatologischen der Weltwirtschaft, zu
welcher ich mit diesen Darlegungen beizutragen ver¬
suche, ist zu wenig vermittelt, um nicht einer be¬
sonderen Begründung zu bedürfen. Dieselbe liegt
darin, dass ich auf diesen Weg zuerst ohne Ge¬
danken an klimatologische Gesichtspunkte durch den
Eindruck gedrängt wurde, den die hamburgische
Handelsausstellung 1889 auf mich machte, durch
das Studium derselben, welches mir bis in die inner¬
sten Winkel der Kojen gestattet war, und durch das
Bestreben jenes Eindruckes und dieser Erkenntnisse
geographisch Herr zu werden.
Was in diesem wie in einer Camera obscura
koncentrierten Bilde der Weltwirtschaft vor allem
auffiel, war ein entschiedener Einfluss der geogra¬
phischen Breite auf das Verhältnis der Erzeugnisse
tierischen zu denjenigen pflanzlichen Ursprungs. Das
aufgefasste Bild wurde durch handelsstatistische Be¬
rechnungen bestätigt. Ihre Ergebnisse wurden be¬
nutzt, ein vereinfachtes Bild dieses Verhältnisses der
Produktionen nach Erdzonen von zehn zu zehn Grad
Ausland 1892, Nr. 30. 59
Klimatische Faktoren der Weltwirtschaft.
Mit speciellem
Hinblick auf Japan und Deutsch-Afrika.
(Vortrag, gehalten
vor der Abteilung Berlin der Deutschen Kolonialgesellschaft,
am 4. Januar 1892.)
Von Wilhelm Krebs (Berlin).
Gewiss niemandem unter Ihnen wird etwas
Neues mit der Behauptung gesagt, dass die wirt¬
schaftliche Produktion eines Landes von seinem
Klima abhängt. In erster Linie die landwirtschaft¬
lichen Betriebe, aber auch die Industrie, sogar der
Bergbau werden von Witterungsverhältnissen be¬
einflusst. So sehr diese Wahrheit im allgemeinen
anerkannt wird, so wenig sind ihre einzelnen Mo¬
mente festgestellt. Es fehlt von beiden Seiten, der
wirtschaftlichen und der meteorologischen.
Kein Landwirt Deutschlands wird mit Bestimmt¬
heit sagen können, welche Witterungsverhältnisse
des Jahrganges 1890/91 dessen Ernte beeinträchtigt
haben. Es werden viele Meinungen geäussert, die¬
selben widersprechen aber einander. Es fehlt die
genaue Untersuchung, welche erst durch umfassende,
auch die Termine der Saatenentwickelung und die
Hauptzüge der Witterung berücksichtigende Er¬
hebungen ermöglicht wird.
Aber auch wir Meteorologen haben keine Ur¬
sache, darüber die Achseln zu zucken. In dem Jahr¬
buch für 1888 einer ausländischen meteorologischen
Anstalt erschien eine Zusammenstellung, welche im
Auszug in den Jahrgang 1890 einer deutschen wissen¬
schaftlichen Zeitschrift von Ansehen überging, in
welcher Zusammenstellung glücklich errechnet war,
dass bestimmte Feldfrüchte sogleich nach oder sogar
vor ihrer Aussaat aufzugehen pflegen.
Phänologische Untersuchungen mit besserem
Erfolg sind von deutscher Seite angestellt worden,
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4 66
Klimatische Faktoren der Weltwirtschaft.
geographischer Breite zu schaffen. Es ist die Kurve A ,
entworfen über einen gerade gestreckten Meridian¬
bogen der Erde, welcher von 6o° n. Br. bis 40 0
s. Br. reicht. Sie gibt an, in welcher Weise das Ver¬
hältnis der tierischen zur pflanzlichen Produktion,
in Prozenten berechnet, von den niederen nach den
höheren Breiten des Nordens und Südens steigt
(Abb. I) i).
Erst dieses Bild führte dazu, als Erklärung
klimatologische Verhältnisse heranzuziehen. Zu der
Temperaturverteilung nach geographischer Breite
wurde eine erste wichtige Beziehung gewonnen.
Neben der Kurve A ist D , diejenige der Juli¬
temperaturen , angetragen, eine Linie, welche für
den Monat Juli die durchschnittliche Zunahme der
Abkühlung von niederen beiderseits nach höheren
Breiten versinnlicht. Jene Beziehung ergab sich nicht
so sehr in der Aehnlichkeit der beiden Kurven, als
] ) Kettlers Zeitschrift für wissenschaftliche Geographie,
Weimar, Jahrgang 1891, S. 80 ff.
Bemerkungen zu Abbildung I.
Ganze Erde,
Zehngradzonen 6o° n. Br. bis 40° s. Br.
Der Breitenmaasstab beträgt 0,3 mm per Grad.
Die Kurve A der arktoiden Prozente ist aus den in
der Zeitschrift für wissenschaftliche Geographie 1891, S. 80—86
berechneten und in der Meteorologischen Zeitschrift 1891, S. 308
mitgeteilten Zahlenwerten entworfen. Dieselben gelten für die
achtziger Jahre.
N. 60—50 50—40 40—30 30—20 20—10 io—o°
322 115 55 24 12 19
S. o—10 10—20 20—30 30—40 0
38 • 118 563 1042
Die Kurve B der klimatischen Faktoren ist aus
folgenden Zahlcnwerten konstruiert:
N. 60—50 50—40 40—30 30—20 20—10 io—o°
646 114 62 23 16 21
Jede derselben wurde aus dem Quotienten
der
Zehngrad-
t . n
berechnet, in welchem
w den mittleren Betrag der Bewölkung L in
Prozenten der Himmelsfläche,
t die mittlere Temperatur über dem Ge¬
frierpunkte, in Centigraden,
n die mittlere Niederschlagsmenge, in Milli¬
metern,
20000 einen konstanten Faktor bedeutet, welcher dazu dient,
die Zahlenwerte in den Bereich derjenigen der arktoiden
Prozente zu heben.
Die Zahlen w und n wurden aus den zu Tafel II
verwandten Fünfgradbeträgen gemittelt, die Zahlen t aus
den von Spitaler berechneten Werten. Für die Zehngrad,
zonen von 90 0 n. Br. bis 60® s. Br. ergaben sich folgende
Zahlen:
N. 90—80 80—70 70—60 60 — 50 50—40 40—30 30—20 20—10 10—0S.0—10 10—20 20—30 30—40 40 -50 50—6o°
W — °/o
68 67
62
5 »
37
32
49
63 61
5 *
48
56
69
/=°C.
— ! 5
— 11 —5
2,4
9,7
i 7 ,i
23,2
26,1
26,1 25,5
23,9
20,7
15.2
n — mm
99
227 573
805
924
703
1230
2331
2291 3252
1578
1056
749
1121
1005
Der Vollständigkeit
wegen sei
gestattet, die Lufldruckmittel hinzuzufügen :
ä — mm
(759.8) (758,5) (759.8)
761,9
763,0
761,3
758,9
758,0 758,5
760,1
762,0
762,3
757,5
(748,3)
Die Kurve C der Besonnung wurde aus den drei Werten
für 50—20° n. Br. konstruiert, welche auf S. 309 der Meteoro¬
logischen Zeitschrift 1891 als diejenigen der »Strahlungs¬
wirkung« mitgeteilt sind. Sie sind dort berechnet nach der
Formel w
und betragen für 50—40
40—30
30—20° n. Br.
132
55
30
(1)
Die klimatischen Faktoren derselben Zone betragen
114
62
23
( 2 )
Die arktoiden Prozente
115
55
24
( 3 )
Ihre Verhältnisse
bei
4,40
,.83
1
(I)
4,95
2,70
1
(2)
4,79
2,29
1
( 3 )
Die Reihe (2) steht
also in
der That der Reihe (3)
näher
als die Reihe (1).
Der Kurve D der Juli-Temperaturen liegen Mittel¬
werte zu Grunde, die aus den von Spitaler berechneten, von
Woeikof in seinen »Klimate der Erde« I, S. 331 citierten
Mitteltemperaturen der Parallelkreise von 5 zu 5 0 der Breite
gewonnen sind. Jene Mittelwerte sind also der Durchschnitt
von je dreien der Spital er sehen Werte, nach der Formel
I a -J- 2 b 4” t c
4
N. 70—60 60—50 50—40 40—30 30—20 20—10 10—o°
11,4 15,9 20,9 25,7 27,8 27,6 26,1° C.
S. o—10 10—20 20—30 30—40°
24,8 22,9 18,0 12,9 °C.
Jede der vier Kurven ist über einer besonderen, mit ent¬
sprechenden Buchstaben bezeichneten Grundlinie entworfen. Die
drei ersten sind der Uebersicht wegen je 1,5 ein voneinander
verlegt. Die Kurve der Juli-Temperaturen war in entgegen¬
gesetzter Richtung zu konstruieren.
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Klimatische Faktoren der Weltwirtschaft.
467
darin, dass das Verhältnis der tierischen in die pflanz¬
liche Produktion dort im Norden wie im Süden des
Aequators 100 Prozent übersteigt, dass also der
tierische den pflanzlichen Ursprung dort zu über¬
wiegen beginnt, wo die Julitemperatur unter 20 Centi-
grade herabsinkt. Die Linien Bi B\ und E E geben
diese Etappen der ihnen benachbarten Kurven A
bzw. D an. Sie sehen, dass die Durchschnittspunkte
ober- und unterhalb von dem wagrecht gelegten
Aequator in nahezu denselben geographischen Breiten
liegen. Der Juli ist der wärmste Monat der Nord-
und der wolkenärmste der Südhemisphäre. Wie
aus der Kurve durchschnittlicher Bewölkung auf
den geographischen Breiten der Erde hervorgeht,
zeichnet sich die Südhemisphäre durch einen über¬
wiegenden Wolkenreichtum aus (Abb. II, D). Dies
führt darauf, im Juli den sonnigsten Monat beider
Hemisphären zu erkennen, aus jener Beziehung beider
Kurven deshalb einen Einfluss der Besonnung auf
die Produktion zu erschliessen, welcher den pflanz¬
lichen Teil auf Kosten des tierischen begünstigt.
Wieder bestätigte die Berechnung den durch
das Gesehene angeregten Schluss. Für drei Zonen,
20. bis 50. 0 n. Br., war es möglich, aus Bewölkung
und Temperatur Verhältnisse der Besonnung zu be¬
rechnen, welche denjenigen der tierischen in die
pflanzliche Produktion annähernd entsprechen. Aus
ihnen wurde Abb. I, Kurve C entworfen, rechts von
dem nördlichen Aste der eingetragenen Produktions¬
kurve A. Für die übrigen Zonen aber war dieser
annähernde Gleichlauf der Kurven C und A nicht
zu gewinnen.
Da der Einfluss der Besonnung so weit erwiesen,
war die Annahme, nahegelegt, dass es sich beim
Schwanken des Verhältnisses der Produktionen um
ein Vorwiegen oder Zurücktreten ihres pflanzlichen
Teiles handelt. Das Pflanzen leben aber verlangt
neben Sonnenschein vor allem Feuchtigkeit —
Regen.
Die den Landgebieten der Erde zukommenden
Regenmengen zonenweise zu berechnen, wurde durch
Bemerkungen zu Abbildung II.
Einfluss der geographischen Breite auf Nieder¬
schläge, Temperatur, Luftdruck u. Bewölkung.
Die Zusammenstellung ist so zu verstehen, dass die vor¬
handenen Daten für jedes Meteor zu einem Gesamtbild vereint
sind, welches besonders für die Süd - Halbkugel an Genauigkeit
N. 85—80 80—75 75—70 70—65 65—60 60—55 55—50
Nieder¬
schläge 99 183 271 436 710 778 832
Zahl der
Stationen 1 1 5 18 29 52 82
noch manches wünschen lässt. Der Breitenmaasstab ist 8° Br. —
5 mm, die Intervalle aber zu 5 0 gewählt.
Die Niederschlagsmengen sind Durchschnittswerte der
mehr oder weniger langjährigen Mittel von 1356 Stationen,
welche Loomis in seinen Contributions to Meteorology III,
1889, S. 145 ff. gesammelt hat. Nach Verwandlung der Inches
in Millimeter ergaben sich die folgenden:
50—45 45—40 40—35 35—3° 30— 2 5 25—20 20-15 15—io°
956
893
726
681
1178
1283
2045
2625
117
179
*43
102
37
60
80
21
N. 10 -5 5—o
2003 2579
37 36
S. 0—5 5—10 10—15
2673 3841 1429
43 40 n
15—20 20—25 25—30 30—35 35-40 40—45
1726 1444 668 631 867 1356
25 22 44 115 38 12
45—50 50—55 55 - 6 o°
885 650 1359
1 4 1
Im äussersten Norden wie im Süden von 45 0 Br. an, ferner
zwischen 10 0 n. Br. und 15 0 s. Br. ist diese Reihe wegen der
geringen Anzahl der Stationen und der meist kurzen Beobachtungs¬
dauer sehr ungenau. Dass jedenfalls im äussersten Norden, von
50° Br. an, die Niederschlagsmenge stetig abnimmt, dafür bürgt
die zonale Anordnung der Isohyeten, welche auf der Polarkarte
der Erde vom Verfasser entworfen wurden. (Abb. II a.) Die
planimetrische Ausmessung dieses Bildes, welche zur Ergänzung
der angeführten arithmetischen Mittel auch für eine geeignete
Regenkarte der ganzen Erde zu empfehlen ist, ergab kleinere
Durchschnittsmengen der Niederschläge, welche aber in an¬
nähernd dem gleichen Verhältnis nach Norden abnehmen wie jene.
N. 90—85 85—80 80—75 75—70 7 °—65 65—60°
38 77 135 212 365 597 mm.
Der Temperatur-Kurve liegen die arithmetischen Mittel
der von Woeikof citierten Spital ersehen Werte zu Grunde.
Der Luftdruck-Kurve liegen die arithmetischen Mittel
der Werte zu Grunde, welche Teisserenc de Bort für die
vier Monate Januar, März, Juli, Oktober und die Parallelkreise
von 5 zu 5 0 zwischen 60 0 n. Br. und 50 0 s. Br. berechnet hat.
Ergänzt sind sie beiderseits bis 80 0 n. Br. und 60 0 s. Br.
durch die Ferrelschen Werte.
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4 68
Klimatische Faktoren der Weltwirtschaft.
das von Loomis gesammelte Material mehrjähriger
Niederschlagsmittel von 1356 Stationen ermöglicht.
Ihr Ergebnis ist in dem Diagramm A y entlang einer
zur Geraden gestreckten Meridianlinie, nach Fünf¬
gradzonen von
85° n. Br. bis 60 0
s. Br. verzeichnet
(Abb. II). Diese
Abbildung ge¬
währt Aufschluss
darüber, dass
zwischen 20 und
50 0 n. Br. Be¬
wölkung (Z?) und
Temperatur ( B )
allein denjenigen
der tierischen in
die pflanzliche
Produktion ent¬
sprechende Ver¬
hältnisse ergeben
mussten.Zwischen
20 und 50° n. Br.
schwankt die
mittlere Nieder¬
schlagsmenge nur
geringfügig um
1000 mm (Abb.II,
.
Nimmt man die
Regenmengen in
die Rechnung auf,
so wird nicht
allein der Verlauf der klimatischen Kurve von 20
bis 50 0 n. Br. demjenigen der wirtschaftlichen
ähnlicher gestaltet, sondern es stellt sich eine an¬
nähernde Parallelität im Verlaufe beider Verhältnisse
für die ganze nördliche Halbkugel heraus. Die ver-
vollkommnete klimatische Kurve B ist in Abb. I
zwischen der klimatischen C und der wirtschaft¬
lichen A ange¬
tragen. Ueber 60 0
hinaus nach
Norden ist der
Parallelismus voll¬
kommen, da beide
Linien in wag¬
rechter Richtung
weiter verlaufen.
Nach Süden, jen-
seit des Aequators,
ist dagegen eine
auch nur an¬
nähernde Paralle¬
lität nicht zu er¬
weisen. Die Be¬
obachtungen
werden zum aller-
grösstenTeile, die¬
jenigen des Regens
ausschliesslich,auf
dem Lande vor¬
genommen. Die
bisher bekannten
Landflächen der
Südhalbkugel sind
aber gegenüber
den Meeresflächen
verschwindend
klein. Sie sind überdies auch in diesem Verhältnis
meteorologisch weniger erforscht als die Landflächen
der Nordhalbkugel. Es mangelt dort also zweifellos
Eine Vergleichung mit der Niederschlags Kurve ergibt,
dass in der gleichen Breite 30—40 0 nördlich und südlich vom
Aequator einem Maximum des Luftdrucks ein Minimum der
Niederschlagsmenge entspricht.
Die Bewölkungswerte sind am mangelhaftesten, lassen
aber eine symmetrische Anordnung beiderseits vom Aequator
nach den Polen erkennen, welche für ihre ungefähre Gültigkeit
in die Wage fällt. Es sind die Mittel der Daten, welche
Woeikof auf einer Tabelle seiner »Klimate der Erde« ge¬
sammelt hat.
N. 90—80
80—70 70—65 65 -
60
60—
-55 55 -
-50 50-45 45-
-40 40-
-35 35 -
30 30—25 25 -20 20—1
Jahreste
mpe
ratur°C.—18,3
— 18,2 —12,1 —2
:,6
0,
8 4 ,<
0 7,6
I I
,8 15
,6 18,
.7 n 22,
0 24,7 26,0
N.
15 -
10 10—5 5—0
S. 0—5 5—IO IO—
*5
15-
20 20 —
25 25—30 30-
-35 35 -
-40 40
45 45 -
50 50— 55 °
26,
4 26,3 26,0
2 5*7 25,3 24,
6
23.
4 21,
8 « 9.7
16,
9 « 3 .
5 10,
4 7.4
4 , 5 ° C.
N. 80-75 75-
—70 70—65 65—60
60
~55
55-50
50—45 45-40
40-35
35—30
30—25
25—20 20— 15°
Luftdr
uck
mm (760,2) (759,3) (758,4) (758,5)
7594
760,2
761,4
762,4
763,0
762,9
762,0
760,6 759,3
N. 15-
-10
10—5 5 — 0 S.
0—5 5—1010—15
*5
—20
20—25
25-30 30—35
35—40
40-45
45—50
50-55 55-6o°
758.4
758,0 758,0
758,2 758,8 759,6
760,5
761,6
762,4
762,7
761,9
759.4
755.5
( 75 o, 7 ) ( 745 . 8 )
N. 80-75 75 - 7 o 70-65 65—60 60-55 55-50
50—45 45—40 40—35 35—30 30—25 0
Bewölkung °/o
69,5 67,2 69,0
65,0
64,1
60,6
54 .«
48,2
39 .o
35,6
32,0')
Zahl der Angaben
2 5 3
7
7
16
27
21
11
7
«')
N. 25 — 20 20—15 15 —10 10—5 5—0 0
32,3 45,8 51,8 4<,3 80,0
3 5 5 3 1
s. 0—5 5 -10 10-15 15 -20 20-25 25—30 30—35 35—40 40—45 45—50 50—55 0
61,3 59,5 42,3 46,2 49 56 69,0
3 24521 3
*) Kosscir mit 13 % ist ausgelassen, da diese Angabe gegenüber der anderen, welche sich auf die Gangesebene bezieht, zu geringwertig ist, um
dieselbe auf etwa 2 /a zu verkleinern.
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Der Antrag des Columbus bei
an meteorologischem Material. Von dem wenigen
vorhandenen ist noch nicht die Ausdehnung des
bisher erbrachten Beweises auf die Südhalbkugel zu
erwarten. Dieser wird durch jenen Mangel nicht
beeinträchtigt.
Aus dem Verhalten der beiden Kurven für die
Nordhalbkugel ist als erwiesen anzusehen, dass Be¬
sonnung und Niederschlagsmenge die wirtschaftliche
Produktion der Erdgebiete in der Art zu beeinflussen
pflegen, dass, wenn sie reichlich vorhanden sind, der
pflanzliche, wenn sie mangeln, der tierische Teil
der Produktion bis zum Ueberwiegen hervortritt.
Eine Bestätigung desselben Verhaltens ergibt
sich ebenfalls für die nördliche Halbkugel. In nor¬
dischen Ländern werden die pflanzlichen Produkte
von den tierischen bis zu vollkommener Unter¬
drückung überwogen. Island und Grönland bringen
von organischen überhaupt nur tierische Erzeugnisse
auf den Weltmarkt. Wie aus den Kurven (Abb. II)
hervorgeht, tritt aber in nördlichen Breiten nicht
allein die Temperatur zurück, sondern in gleicher
Weise die Niederschlagsmenge, während die Bewöl¬
kung zunimmt. Besonnung und Niederschläge dem¬
nach nehmen jenseit 50 und 60 0 n. Br. in ausser¬
ordentlich grossem Maasstabe ab. Wie aus der Polar¬
karte (Abb. IIa) zu ersehen, umschliesst den Nordpol
im Durchmesser von 20 Breitengraden ein Gebiet,
in welchem jährlich nach allen vorliegenden Daten
weniger Niederschläge als 125 mm fallen, in welchem
also die Regenverhältnisse der trockensten Erdgebiete,
der Sahara, des Sindh, der Gobi, herrschen. Dieses
Gebiet wird zonenförmig von anderen umschlossen,
in welchen bis zum Polarkreis etwa das Doppelte,
bis 60 0 n. Br. das Vierfache dieser Regenmenge
fällt. Das erst ist ungefähr so viel, wie in den
trockensten Teilen Deutschlands. Dieses Verhalten
steht mit dem bisher Gefundenen in Uebereinstim-
mung. Denn keineswegs wird das Pflanzenleben
in den arktischen Breiten von der Kälte ertötet.
Unter fast 80 0 n. Br., auf Spitzbergen, dem Nord¬
pol doppelt näher, als der Stadt Berlin, entfaltet sich
alljährlich der Blumenflor des mitteleuropäischen
Sommers mit Potentillen, Stellarien, Ranunkeln 1 ).
Durch das Zusammenwirken aller drei meteorologi¬
schen Agentien wird, entsprechend ihrer Wirkungs¬
weise in niederen Breiten, allein jener Ueberschuss
pflanzlichen Lebens unbeschafft gelassen, welcher als
pflanzlicher Teil in der wirtschaftlichen Produktion
der Länder aufzutreten pflegt.
Ein dritter Nachweis ist auf ganz anderem
Wege zu erbringen. Die Uebereinstimmung in dem
Verhalten jener Seiten des Klimas und der organi¬
schen Produktion ist nicht allein für das Mittel der
letzten Jahre und die verschiedenen Zonen der Erde,
sondern auch für das gleiche Land und eine Reihe
verschiedener Jahre nachzuweisen. (Schluss folgt.)
*) L. Crem er, Ausflug nach Spitzbergen, Berlin, F. Dlimm*
lers Verlag. 1892, S. 61, 70 ff.
Ausland 1892, Nr. 30
der Venetianischen Republik.
Der Antrag des Columbus bei der Venetia¬
nischen Republik.
Von E. Gel eich (Russin piccolo).
Wie bekannt, wird in Italien gelegentlich der
bevorstehenden Säkularfeier der Entdeckung der Neuen
Welt ein grosses officielles Werk herausgegeben,
welches die Entdeckungsgeschichte auf Grund der
neuesten Forschungen zu behandeln haben wird.
Zu diesem Zwecke wurde schon vor mehreren Jahren
eine aus den ersten Gelehrten des Landes bestehende
Kommission eingesetzt, die sich u. a. auch die Auf¬
gabe stellte, die Archive des Reiches nochmals einer
genauen Prüfung zu unterziehen, vorzüglich in der
Absicht, um einiges Licht über das Jugendleben des
Columbus zu schaffen. Dem in Venedig ansässigen
Forscher Guglielmo Berchet fiel nun die Aufgabe
zu, die Angelegenheit wegen des Antrages, den Co¬
lumbus beim venetianischen Hof gestellt haben soll,
womöglich aufzuklären, und darüber erhielten wir
vor kurzem einen Separatabzug des bezüglichen Be¬
richtes, den Berchet in der Nuova Antologia
(Bd. XXV, Serie III) veröffentlichte 1 ).
Von diesem angeblichen Anträge war bis zum
vorigen Jahrhundert nichts bekannt. Auch über die
Schritte des Columbus bei der Genuesischen Re¬
publik weiss nur Ramusio zu berichten, in Petrus
Martyr jedoch, den Ramusio benutzte, ist keine
darauf bezügliche Note zu finden“). Im Jahre 1798
erschien in Venedig die Geschichte des Handels der
Venetianer von Carlo Antonio Marin (Storia
civile e politica del commercio dei Veneziani, Ve¬
nezia 1798), in welcher zum erstenmal von dem
Antrag des Columbus in Venedig die Rede ist.
Der Verfasser sagt bei dieser Gelegenheit folgendes:
»Als ich vor zwölf oder dreizehn Jahren dem Ca¬
valiere Francesco Pesaro meine Absicht eröffnete,
eine Geschichte des Handels der Venetianer zu schrei¬
ben, teilte er mir nachstehendes mit: ,Während ich
mich im Rate der Zehn befand, geschah es einmal
beim Durchsuchen des Archives jener Behörde, dass
ich ein Memorial sah und las (mi venne salto di
vedere e leggere un nlemoriale), welches Columbus
der Signoria vorlegte, um sie zur Annahme seines
Projektes zu bewegen«. Später erzählte Bossi in
seiner »Vita di C. Colombo« ungefähr dasselbe, mit
dem Unterschied nur, dass er Pesaro nicht nannte
und sich nur auf »einen angesehenen Beamten der
Republik« bezog. Man hat bisher auf die Autorität
des Pesaro viel zu viel gehalten, um an der Wahr¬
heit seiner Aussage zu zweifeln, und Referent möchte
noch immer bei dieser Ansicht bleiben, solange
wenigstens nicht ein positiver Beweis für die Un¬
wahrheit des Antrages erbracht wird. Denn abge-
*) Guglielmo Berchet, Christophoro Colombo e Venezia.
Ricerca storica.
8 ) Spotorno, der ebenfalls von diesem Anträge spricht,
bezieht sich zwar auf Petrus Martyr, allein er dürfte sich eben¬
falls durch Ramusio haben irrefuhren lassen.
60
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470
T)ie Strömungen in den Meeresstrassen.
sehen davon, dass Pesaro als glaubwürdiger, ernster
Staatsmann und als öffentlicher Bibliothekar das
höchste Ansehen genoss, hat er auch seine Wahr¬
nehmung in zufälliger und harmloser Weise bekannt
gegeben, ohne vielleicht zu ahnen, dass sie verwertet
werde, und demnach gewiss nicht in der Absicht, sich
einer Fälschung oder auch einer Uebertreibung schuldig
zu machen. Berchet dagegen kann nunmehr ver¬
sichern, dass sich ein solches Dokument in den
Archiven Venedigs nicht befindet, und daraus würde
hervorgehen, dass hier ein Missverständnis vorliegt.
Zur Erhärtung seines negierenden Urteiles führt
Berchet zunächst die ganz richtige Thatsache an,
dass Columbus selbst in seinen Schriftstücken zwar
von seinen Bemühungen in Frankreich, England und
Portugal spricht, aber mit keinem Worte seines
Einschreitens in Genua oder Venedig Erwähnung
thut. Keiner der vielen Historiker der Republik,
keine einzige von den 34 Chroniken, die Berchet
geprüft hat, enthält einen Wink davon. Man hat
ferner durch die betreffenden Gesandtschaften auch
die Manuskripte prüfen lassen, die durch Foscarini
nach Wien und durch Zurla nach Rom kamen,
und das Resultat war wieder ein negatives. Man
hat auch an die Möglichkeit gedacht, dass das Doku¬
ment, von dem Pesaro sprach, sich vielleicht im
Besitze der Familie Gradenigo befinden könnte,
welche die Archive der ausgestorbenen Linie Pesaro
erbte. Allein der Conte Pietro Gradenigo gab
die Erklärung ab, dass er von einem solchen Doku¬
mente keine Kenntnis habe, und dass jedes weitere
Forschen in der Familienbibliothek vergebliche Mühe
wäre, indem beim Aussterben der Pesaros derartige
Familienzwistigkeiten, Teilungen und Güterzerstreu¬
ungen stattfanden, dass die Gradenigos schliesslich
nur das Archiv der Besitzungen erhielten, in dem gar
kein Dokument enthalten war.
Nach Mitteilung dieser Ergebnisse wendet sich
Berchet der Frage zu, wie ein solches Projekt von
der »Serenissima« entgegengenommen worden wäre.
Wieder an der Hand der Geschichte weist der ver¬
ehrte Verfasser nach, dass die Venetianer ihr Haupt¬
augenmerk auf die Entdeckung* des östlichen Weges
nach Indien gerichtet hielten, und während man der
Entdeckung des Columbus wenig Gewicht beilegte,
waren die Gesandten und Geschäftsträger beauftragt,
über die Fortschritte der Portugiesen in Afrika ge-
nauestens zu berichten. In den Archiven Venedigs
liegen unzählige Briefe über diesen Gegenstand, die
Berchet alle sah, während die wenigsten davon
über Columbus handeln. Venedig fürchtete die
Konkurrenz der Portugiesen, es sah ein, dass die
endliche Entdeckung des östlichen Weges nach
Indien ihm den Todesstoss versetzen würde. Aus
diesem Grunde verwendete sich die Republik beim
Sultan von Aegypten, damit dieser den Portugiesen
im Roten Meere und im Indischen Ocean Schwierig¬
keiten und Unannehmlichkeiten bereite. Beachtens¬
wert ist dabei im höchsten Grade, dass die Re¬
publik mit scharfsichtigem Blicke das Mittel so¬
gleich erkannte, wodurch man die Konkurrenz der
Westmächte lahmlegen könnte; in einem Dokument
aus dem Jahre 1504*) liest man folgende an den
Gesandten in Kairo zugesendete Instruktion: »Es
Hesse sich ein Kanal vom Roten Meere aus graben,
welcher das diesseitige Meer mit demselben direkt
verbinde, wie dies früher mehrfach besprochen wurde,
und man könnte die Mündungen befestigen, damit
nur diejenigen ein- und ausfahren, die dem Herrn
Soldan angenehm sind«.
Endlich glaubt Berchet, dass ein Seefahrer
Namens Columbus sich nicht mit Anträgen irgend
welcher Art nach Venedig gewagt hätte, da ein
Colombo, wenn auch nicht Christoph, durch
seine Seeräubereien der Republik grossen Schaden
zugefügt hatte, so dass am 22. März 1476 der Be¬
schluss gefasst wurde: »quam capitalis hostis noster
sit Columbus, publicus pyrata, omnes in illius
praesentibus operibus facile intelligunt«.
Aus allen diesen Gründen glaubt Berchet
schliessen zu sollen, dass die Angabe Pesaros auf
irgend einem Irrtum basiere.
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
Ein Beitrag zur Geschichte der Erdkunde.
Von Emil Wisotzki (Stettin).
(Fortsetzung.)
Auch Paulus Merula, der Verfasser einer
allgemeinen Kosmographie im Jahre 1605, ein Mann,
welcher stellenweise Gedanken offenbart, zu denen
erst unsere Zeit sich definitiv durch- und empor¬
gerungen hat, lässt durch den Bosporus die über¬
schüssigen Wasser des Schwarzen Meeres enteilen.
Nur vermehrt er dieselben noch durch eine unter¬
irdische Zufuhr aus dem Kaspischen Meere. Von der
Unterströmung ist bei ihm nichts zu finden, obwohl
er den oben genannten Petrus Gyllius citiert:
»qui plene Bosporum describit«. Einen Einfluss des
Atlantischen Oceans ins Mittelmeer gibt es für Me¬
rula noch nicht; vielmehr könnte man mit einiger
Sicherheit annehmen, dass in entgegengesetzter Rich¬
tung ein Ausfluss aus letzterem stattfindet: »in Ar-
chipelagum; inde per mediam Europam et Africam
ad Herculeum fretum, qua patet exitus decurrit 2 )«.
Ebenfalls tritt für einen solchen Ausfluss ein
Gerard Johannes Vossius; anderenfalls wäre
eine allgemeine Ueberflutung der Mittelmeerländer
zu befürchten. Er erblickt hierin einen Beweis gött¬
licher Weisheit (!!) 3 ).
1 ) Staatsarchiv in Venedig. Dokumente aus dem Rate
der Zehn. Reihe XVI a.
2 ) Paulus Merula, Cosmographiae generalis libri III,
1605, p. 141, 164, 165, 167.
3 ) Gerardi Johannis Vossii de theologia gentili et
physiologia christiana, sive de origine et progressu idolatriae, ad
veterum gesta et rerum naturam reductae deque nalurae mirandis,
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
471
In derselben Zeit schrieb Abraham Gölnitz
ein für seine Zeit ganz tüchtiges, länderkundliches
Werk, das viel zu wenig oder leider gar nicht be¬
achtet zu sein scheint. Die Strömung im Bosporus
wird gar nicht erwähnt, ebenso nicht diejenigen der
dänischen Sunde, obwohl er gerade Dänemark be¬
sonders behandelt und das Werk einem vornehmen
jungen Dänen gewidmet und wohl auch in Kopen¬
hagen geschrieben ist. Wohl aber weiss er, dass
im fretum Herculeum eine Strömung stattfindet, nur
nicht in welcher Richtung. »Mare Mediterraneum
per fretum Herculeum in Occidentalem Oceanum
immittitur, aut etiam ex eo emittitur*).«
Dagegen erhalten wir schon sicherere Kunde
von John Greaves, Professor der Astronomie an
der Universität Oxford. Derselbe berichtet in seiner
Pyramidographia vom Jahre 1646, er habe gehört,
»that at the streights of Gibraltar the sea enters in
at the one side, and at the same time passes out
at the other«. Dabei hätte er sich nicht beruhigen
können, da er selbst bei zweimaligem Passieren nichts
dergleichen bemerkt, sondern nur »an inlet, without
any outlet of the sea«. Er habe deshalb einen Kapi¬
tän gefragt, der die Strasse oft besucht habe und
auch sonst ein kenntnisreicher Mann gewesen sei.
Dieser hätte jeden Ausfluss aus dem Mittelmeer an
der afrikanischen Seite geleugnet. Den Umstand,
dass die Korsaren gerade diese Seite benutzten, um
den offenen Ocean zu gewinnen, erklärte derselbe
mit dem Besitz Gibraltars in christlichen Händen.
Es sei also in Wirklichkeit nur eine Einströmung
des Atlantischen Oceans, wie ja auch das Mittel¬
meer eine solche von seiten des Pontus erfahre, was
er auch mit eigenen Augen gesehen 2 ).
In derselben Zeit schrieb der Jesuit George
Fournier, ein früherer Seemann. Dieser spricht
auch von zwei Strömungen in der Gibraltarenge,
einer hinein- und einer hinausgehenden. Nicht ganz
6 Stunden sehe man das Wasser des Mittelmeeres
hinausströmen, dagegen über 16 Stunden atlantisches
Wasser sich ins Mittelmeer ergiessen. Selbstverständ¬
lich ist ihm die Bosporus-Strömung bekannt; auch
erwähnt er ganz kurz die Ergiessung der Ostsee in
die Nordsee, welche aber nur schwach sei. Wir
werden noch weiter unten Gelegenheit haben, auf
quibus homo adducitur ad dcum. 2. Ausg., Amsterd. 1642,
p. 669. (Erste Ausgabe 1641 identisch.) In der editio nova
1668, fol. 336, nur ein kurzer Zusatz, dass die Gibraltar-Enge
schon immer bestanden.
*) Ab. Gölnitz, Compendium geographicum, Amstelodami
1643, P- 44 -
2 ) J. Greaves, Pyramidographia or a description of the
pyramids of Egypt, London 1646. Abgedruckt in »A Collection
of voyages and travels», vol. II, London 1752, p. 644, Anm.
Wir haben weiter oben es unterlassen, Sebastian Münster
(Cosmographay etc., Basel 1598, p. II) zu citieren. »Das Mittel-
ländig Meer bricht und dringt in Occident bei Hispanien in das
Erdtreich herein u. s. w.« Er hat dabei wohl mehr, wie das
auch sonst geschah und von uns nicht besonders erwähnt ist,
an die ursprüngliche Entstehung des Mittelmeeres gedacht als
an eine noch fortdauernde Strömung.
Fourniers sonstige hierher gehörige Anschauungen
zurückzukommen *).
Mit gespannten Erwartungen wenden wir uns
zu Bernhard Varenius. Aber leider werden die¬
selben hier in unserer Frage nach den Strömungen
in den Meeresstrassen in keiner Weise erfüllt. Ver¬
geblich versuchen wir bald hier, bald dort in seinem
unsterblichen Werke anzuklopfen; nur selten em¬
pfangen wir eine Antwort. Er gehört in unserer
Frage nicht, wie sonst vielfach, zu den führenden
Geistern.
Was die Kenntnis der Thatsachen betrifft, so
verhält es sich damit folgendermaassen:
Die Wasser des Atlantischen Oceans ergiessen
sich ins Mittelmeer: »Oceanus Atlanticus per an-
gustum fretum Gaditanum influit in sinum Medi¬
terraneum«. Mehrfach wird dies konstatiert 2 ). Den
Ausfluss des Schwarzen Meeres durch den Bosporus
ins Mittelmeer erwähnt er zwar, aber nicht, wo man
es erwarten sollte, etwa bei der Betrachtung der
Seen, die Zufluss und Abfluss haben, oder als Bei¬
spiel für Abweichungen gewisser Meeresoberflächen¬
stücke von der Kugeloberfläche, oder bei Betrachtung
des Mittelmeeres und seiner Sinus secundarii, sondern
so nebenher findet sich die Thatsache genannt bei
Erörterung der Frage, ob das Kaspische Meer ein
»mare« oder ein »lacus« sei: »id tarnen indicio esse
potest, quod Pontus Euxinus perpetuo emittit aquas
per Bosphorum magna copia, quantam copiam a
fluviis non accipere quidam putant, sed per subter-
raneum ductum a mari Caspio a )«.
Was das Verhältnis der Ostsee zur Nordsee be¬
trifft, so stand Varenius nicht auf der Höhe der
Thatsachen. Im Gegensatz zu dem in seiner Zeit,
wie wir auch schon bei F o u r n i e r vorher bemerkten,
hier und da bekannten Faktum einer Ausströmung
der Ostseewasser in die Nordsee, lässt er vielmehr
umgekehrt Nordseewasser in die Ostsee dringen.
»Mare Balticum irrumpit ex oceano inter terras inter
Selandiam et Gothiam, ut etiam inter Selandiam
et Jutlandiam. Primo oblonga via a septentrione
in austrum fluit.« »Fretum Danicum etc. Per illud
Oceanus Atlanticus fluit in Sinum Balticum.« Trotz¬
dem heisst es: »fluvios recipit insignes magnitudine *)«.
Auch das Weisse Meer wird vom Ocean her unter¬
halten: »Mare Album ex Oceano Septentrionali inter
Lappiam et extrema Russiae littora influit versus
austrum, fluvios recipit insignes 5 )«, ebenso das Rote
Meer: »Mare Rubrum ex Oceano Indico fluit inter
promontorium Arabiae et inter Africae promonto-
rium«. Dieses »fluvios parvissimos et parvae magni-
tudinis excipit 6 )«. Ob Varenius dieses Hinein-
*) George Fournier, Hydrographie contenant la thdorie
et la pratique de toutes les parties de la navigation, Paris, erste
Ausgabe 1643, seconde Edition 1667 und 1679, p. 338.
2 ) Geographia generalis, 1671, p. 117, 122, 137, 1S4.
3 ) A. a. O., p. 215.
4 ) A. a. O., p. Jl8, 122, 123.
5 ) A. a. O., p. 120.
6 ) A. a. O., p. 118.
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472
Winterkurorte an der Riviera.
fliessen des Oceans auch bei anderen Sinus, wie der
Hudsons-Bai, dem Persischen und Kalifornischen
Meerbusen angenommen, geht nicht deutlich hervor.
Es waren allgemeine Gesichtspunkte, welche
auf den unsterblichen Mann in diesen Auffassungen
einwirkten. Bekanntlich ist Varenius einer der
ersten in neueren Zeiten 1 ), welcher auf die besondere
Gestaltung der Meeresoberfläche, auf ihre etwaige
örtliche Abweichung von der Kugeloberfläche, die
Aufmerksamkeit gelenkt hat. Er legt sich die Frage
vor: »an oceanus ubique sit ejusdem altitudinis?«
Im allgemeinen, als Ganzes aufgefasst, sei die Meeres¬
oberfläche eine in allen ihren Punkten vom Erd¬
mittelpunkt gleich weit entfernte Kugeloberfläche.
Von diesem grössten, allgemeinsten Standpunkt aus
gefasst, sei jene Frage also bejahend zu beantworten.
Aber es trete da eine zweite, besondere Frage her¬
vor: »annon sint causae quaedam, quae faciant ut
quaedam oceani partes sint magis altae quam aliae?«
Ein Gegenstand, welcher der Untersuchung um so
würdiger, als er von grosser Bedeutung bei der An¬
lage von Kanälen zur Verbindung verschiedener
Meere sei. Wir übergehen seine Besprechung und
Zurückweisung der vielfach geäusserten Meinung,
dass die Meeresoberfläche in den Polargebieten höher
sei, wie in den Aequatorialgegenden. Andere hätten
behauptet, der Indische Ocean sei höher, als der
Atlantische, was sie beweisen wollten aus dem Ver¬
hältnis des Roten Meeres zum Mittelmeer. Das führe
auf die Frage: »utrum eadem sit altitudo sinuum,
quae ipsius oceani, an minor? 2 ) inprimis in partibus
sinuum extremis, atque maxime in illis sinibus qui
per fretum angustius oceani conjunguntur«. Er be¬
antwortet dieselbe folgendermaassen. Es sei nicht
so sehr unwahrscheinlich, dass der Atlantische und
Indische Ocean höher wie das Mittelmeer seien, be¬
sonders wie dessen östlichste, entlegenste Teile,
denn der Atlantische Ocean fliesse durch die Gib¬
raltarenge ins Mittelmeer hinein. Schon zwischen
dem Ocean und der Meerenge selbst sei eine kleine
Niveaudifferenz vorhanden »quia in hisce impeditur
Über influxus«. Aber weiter nach Osten werde diese
Differenz immer grösser, die Depression der Ober¬
fläche des Mittelmeeres immer bedeutender »prae-
sertim cum variis occurrat scopulis, insulis et pro-
currentibus terris, quae repellunt aquam allabentem,
adeoque imminuunt vel retundunt influxum«. Va¬
renius sucht diese Auffassung noch des weiteren
zu stützen durch Anführung der ja auch sonst be¬
kannten Thatsache, dass Sesostris, Darius, in
neueren Zeiten türkische Sultane daran gedacht hätten,
vom Roten Meer über den Nil zum Mittelmeer einen
Kanal anzulegen. Dieselben hätten diesen Plan aber
*) Dass auch andere schon sich mit dieser Frage beschäftigt,
betont Varenius ausdrücklich. Aber wenn man recht zusieht,
waren das weiter nichts als Wiederholungen dessen, was schon
die Alten gesagt. Varenius steht auch hier auf höherer, weiterer
Warte.
a ) Die Frage »an major« ist ihm nicht gekommen.
aufgegeben, da ihnen von kundigen Männern mit¬
geteilt: »mare rubrum multo esse altius quam terram
Aegypti interioris *)«. Wenn das aber der Fall, so
sei auch das Rote Meer, und ebenso der Indische
Ocean, höher als das Mittelmeer.
Manchem, fährt Varenius fort, möchte dies
wohl zweifelhaft erscheinen, da doch sowohl Mittel¬
meer wie auch Rotes Meer Busen des Oceans seien.
Beide seien niedriger, als der Ocean, aber beim Roten
Meer sei die Differenz nicht so gross, wie beim
Mittelmeer, »quod illius tractus multo minor sit
quam hujus et id circo multo vicinior sit oceano quam
extremae maris Mediterranei partes«. Der Grund
aber, den noch andere dafür beibrächten, dass näm¬
lich der Indische Ocean höher sei, wie der Atlan¬
tische, erscheine ihm höchst zweifelhaft.
(Fortsetzung folgt.)
Winterkurorte an der Riviera.
Von Elise Emmel (Rom).
(Schluss.)
III. Bordighera.
Die Lage des Städtchens Bordighera ist ganz
verschieden von derjenigen der anderen Kurorte der
Riviera. Cannes, Nizza, Mentone und San Remo
liegen mehr oder weniger in einer Bucht, Bordighera
dagegen auf einem ins Meer vorspringenden Hügel.
Daher kommt es auch, dass man hier ausgesprochenes
Seeklima hat, selbst wenn man, weit entfernt vom
Strande, auf einem der umliegenden Hügel wohnt.
Als ich diesen Ort von meinem Fenster in Men¬
tone aus zum erstenmal erblickte, nahm ich fälsch¬
lich an, dass er den Winden zu sehr ausgesetzt sei,
um eine gute Krankenstation abgeben zu können.
Dem ist aber nicht so; nur nach Westen hin liegt
der Ort nicht geschützt; Westwinde aber sind an
dieser Küste gewöhnlich nur leichte Brisen und
meist von schönem Wetter begleitet. Citronen,
Orangen, Palmen gedeihen hier prächtig, so dass
die Vegetation den deutlichen Beweis liefert, dass
die Feuchtigkeits- und Wärmeverhältnisse denen in
Mentone ähnlich sind.
Das ins Meer ragende Vorgebirge, auf dem
Bordighera liegt, gehört zu einer Gebirgskette, welche
bis an die Alpen hinanreicht; dadurch wird die Wir¬
kung der Luftströmungen unterbrochen, so dass oft
die Regenwolken nach Osten und Westen vorüber¬
ziehen, ohne sich zu entladen. Man hat beobachtet,
dass dieser Kurort weniger Regentage zählt, als Men¬
tone, Nizza und Cannes. Hagel und Schnee kommen
nur selten vor, und letzterer schmilzt beinahe so¬
fort, nachdem er gefallen. Das Trinkwasser, welches
vorzüglich ist, wdrd teils von den umliegenden
M Varenius äussert übrigens, dass er auf diese Erzäh¬
lungen sonst nicht viel geben wolle, da sicherlich noch ganz
andere Gründe die Absicht nicht zur Ausführung hätten gelangen
lassen, vornehmlich finanzieller und politischer Natur.
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Winterkurorte an der Riviera.
473
Hügeln nach der Stadt geleitet, teils aus Quellen
geschöpft.
Die Einwohnerzahl von Bordighera und den
umliegenden Ortschaften ist gegenwärtig bis auf
3000 Seelen gestiegen. Pocken und Cholera sind
in diesem Bezirk niemals aufgetreten; die Bewohner
desselben erfreuen sich meist der besten Gesundheit,
und die Sterblichkeit ist daher sehr gering; es
kommt etwa ein Todesfall jährlich auf 56—57 In¬
dividuen.
Die kleine Stadt, welche aus einem oberen und
unteren Teile besteht, enthält ausser einer Kirche
und einem Marmorbrunnen nichts Sehenswertes und
ist als Kurort im Auslande vielleicht weniger be¬
kannt, als Mentone und San Remo. In den letzten
Jahren ist Bordighera ein wenig mehr in Aufnahme
gekommen und wird besonders am Schluss der
Saison viel von Deutschen und Engländern besucht.
Wenn man am südlichen Ende des alten Stadt¬
teils bis zu einem grossen Platze hinuntersteigt und
sich dann nach Osten wendet, so sieht man Capo
Nero östlich und Capo Verde westlich von San
Remo und erreicht, durch Olivenwaldungen stets
abwärts gehend, in etwa 10 Minuten den neuen,
unteren Stadtteil. Er zieht sich vom Capo Bordi¬
ghera, auf dem der alte Ort mit teilweise engen,
schmutzigen Strassen liegt, von Südosten nach Nord¬
westen und wird nur durch die Eisenbahnlinie, einige
Gärten und einen steinigen Strand vom Meere ge¬
trennt. In den Hauptstrassen befinden sich einige
Läden, die Apotheke, mehrere Hotels, darunter das
besonders von Deutschen viel frequentierte Grand
Hotel de Bordighera, mit schönem Palmengarten,
ganz nahe am Bahnhofe. Der Umstand, dass die
freigebigen, für das Gedeihen Bordigheras sich inter¬
essierenden Herren Bischofs heim und Garnier
grosse Besitzungen dort haben, lässt mit Bestimmt¬
heit erwarten, dass dieser Kurort sich noch ver¬
schönern wird und einer glänzenden Zukunft ent¬
gegengeht. Mr. Garnier, dem berühmten franzö¬
sischen Architekten, der die Grosse Oper in Paris
und den prächtigen Spielpalast in Monte Carlo zu
seinen Werken zählt, gehören zwei ganz gleiche
Villen, deren eine er selbst mit seiner Familie im
Winter bewohnt, während er die andere an Kur¬
gäste vermietet. In letzterer hat vor einigen Jahren
die Königin Margherita von Italien für mehrere
Monate Aufenthalt genommen. Mr. Garnier ge¬
stattet mit dankenswerter Freundlichkeit Fremden
den Besuch seiner Villa und der daranstossenden
Palmengärten, um derentwillen jene auch »Palazzino
des Palmiers« genannt wird. Sehenswert ist auch
der Giardino Moreno, in dem herrliche Palmen und
eine grosse Anzahl tropischer Pflanzen ohne be¬
sondere Pflege gedeihen, sowie der Garten des
Handelsgärtners Winter im Osten des Städtchens,
woselbst eine Ausstellung von Palmenflechtereien
Beachtung verdient.
Ein ganz morgenländisches Aussehen geben die
vielen hohen Palmen, darunter 1 ooojährige Exem¬
plare, dem Hügel von Bordighera, der mich, als ich
ihn zum erstenmal betrat, ans heilige Land mahnte.
Man behauptet, dass es hier mehr Palmen gebe, als
im ganzen heiligen Lande.
An einem herrlichen Frühlingsabend stieg ich
zur Terrasse des oberen Stadtteiles hinauf, von der
man bei klarem Wetter eine umfassende, prächtige
Aussicht geniesst. Vor mir lag das weite Meer, in
den reichen Farben eines Regenbogens schillernd;
eine Fläche desselben wurde von der untergehenden
Sonne purpurn gefärbt, eine andere glitzerte wie
Millionen Diamanten. Bald erschien das Wasser
ruhig und glatt, wie ein Spiegel, dann wieder be¬
wegte es sich leise, wie ein Netz aus fein gespon¬
nenen Silberfäden. Höchst malerisch machte sich
am Strande eine Gruppe von Fischern mit weithin
leuchtenden roten Mützen und Schärpen; sie waren
damit beschäftigt, ihre Netze ans Land zu ziehen,
und begleiteten diese Arbeit mit Gesang und jeden
gewinnreichen Zug mit frohen Ausrufen, die das
Echo der Berge mehrfach wiederholte.
Die durch felsige Klippen sich auszeichnende
Küste konnte ich bis zu den Monts d’Esterels, bei
Cannes, und noch weiter bis Toulon hin verfolgen.
Sie bildet einen Halbkreis, aus dem drei Vorgebirge
hervorragen, die hinter einander aufsteigen, aber in
Bezug auf Form und Färbung unendlich verschieden
sind. Die Städte und Dörfer an dieser Küste tragen
fast alle einen höchst originellen Charakter, dar¬
unter Ventimiglia mit einer Krone von verfallenen
Burgen, Men tone, am sonnigen Strande gelegen,
Roccabruna (brauner Fels), auf hohem Felsen
thronend, der mit Recht seinen Namen trägt; ferner
Turbia mit den Ruinen der Tropaea Augusti, ein
Zeugnis vergangener Grösse und Macht (s. S. 453),
Monaco in unbeschreiblich malerischer Lage und
Monte Carlo mit dem stattlichen Palaste, der die
Spielhölle in sich birgt, auf einem ins Meer hinein¬
ragenden Felsen gelegen und von blauen Wellen
umspült. Selbst das unbedeutendste Dörfchen scheint
gerade da, wo es liegt, am schönsten und male¬
rischsten, so dass man kein einziges an eine andere
Stelle versetzt haben möchte.
Von Süd west nach Nordost ist die Stadt von
Palmenhainen (Phoenix Dactylifera) umgeben, welche
sich bis zu den Häusern des neuen, unteren Stadt¬
teiles »Borgo Marina« hinziehen. Zwischen Bor¬
dighera und Ventimiglia dehnen sich grosse Oliven¬
pflanzungen aus. Auf einem verhältnismässig kleinen
Raum ist jede Abstufung von Grün vertreten, vom
silberglänzenden Graugrün des Oelbaumes bis zur
dunklen Cypresse, die hier und da wie ein verlorener
Posten auftaucht. In zauberhafter Pracht lag das
herrliche Landschaftsbild vor mir, sich in den klaren
Fluten wiederspiegelnd, von den letzten Strahlen der
scheidenden Sonne wie mit Glut übergossen.
Nach eingetretener Dämmerung stieg ich ins
Thal hinab, das wie ein Meer mit tanzenden Stern-
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474
Winterkurorte an der Riviera.
chen erschien; die Leuchtkäfer hatten ihre kleinen
Laternen schon angezündet, und die Luft war mit
Wohlgerüchen angefüllt.
Unweit von Bordighera liegt Ospedaletti am
Bergesabhang, an der kleinen Bucht gleichen Namens.
Die Bahn führt hier unter dem Capo Nero hindurch,
die Strasse aber windet sich hoch um dasselbe herum.
Dieses Dorf, das hauptsächlich von arbeitsamen
Fischerfamilien bewohnt wird, denen es selten an
Erwerb fehlt, ist von der »Soci&e Foncitre Ligu-
rienne« mit grossen Kosten in einen Kurort um¬
geschaffen worden, für den die geschützte Lage die
günstigsten Bedingungen bietet. Im Westen wird
der Golf Ospedaletti vom Capo Bordighera und im
Osten von den drei schon erwähnten Vorgebirgen
beschirmt, so dass es hier verhältnismässig ruhig ist,
wenn es draussen im offenen Meere stürmt und tost.
Hotel de la Reine, Hotel Pension des Rhodes, Hotel
Pension Suisse gewähren Wintergästen gute Unter¬
kunft.
Ospedaletti heisst, wörtlich übersetzt, kleine
Hospitäler. Der Name rührt, wie man sagt, daher,
dass vor langer Zeit einmal ein Schiff, welches den
Rittern von Rhodus gehörte, hier mehrere Pest¬
kranke ausgesetzt hatte, für deren Aufnahme einige
Gebäude errichtet wurden. Diese bildeten den Kern,
aus dem das spätere Dorf erwachsen ist, und die
Benennung Hospitäler übertrug sich von jenen auf
dieses. Die Ruinen einer kleinen, »la Ruota« ge¬
nannten Kapelle befinden sich in geringer Entfernung
von Ospedaletti; möglicherweise ist dieser Name
eine Verstümmelung von Rodi, d. h. Rhodus. Der
kleine Ort La Ruote an der ebenso genannten Bucht
besitzt zwei Schwefelquellen, eine über, die andere
unter der Strasse, deren Wasser ins Meer abfliesst.
Von Ventimiglia, der Grenzstadt zwischen Italien
und Frankreich, ist Bordighera nur etwa 3 /4 Stunden
entfernt. Der aus Frankreich kommende Reisende
hört dort zum erstenmale die Leute italienisch reden
und die Verkäufer ihre Waren, darunter besonders
Polenta und Maccaroni, in diesem Idiom mit gellen¬
der Stimme ausrufen.
Ventimiglia ist ein stark befestigter, ziemlich
ansehnlicher Ort mit 8434 Einwohnern; die sehr
schmale Hauptstrasse ist mit alten, wunderlich aus¬
sehenden Häusern gesäumt, von denen manche
ausserhalb mit Tierbildern bemalt, andere mit mar¬
mornen Baikonen, Resten ihrer früheren Grösse,
versehen sind. Die Kathedrale liegt hoch, auf einer
Terrasse, von der aus man einen schönen Blick auf
die Schneeberge im Hintergründe hat; seitwärts da¬
von steht der alte Palast der im Mittelalter hier
herrschenden Lascari mit Loggia und Freitreppe.
Auf einer etwas entfernter liegenden Anhöhe sieht
man die bräunlich-gelbe Kirche S. Michele hervor¬
leuchten, sie ist auf der Stelle eines Tempels des
Castor und Pollux erbaut und besitzt eine schöne
Krypta. Die Sommerresidenz des Bischofs von Ven¬
timiglia befindet sich im nahe gelegenen Dörfchen
»Latte«, dessen Name (Land der Milch) auf die
Fruchtbarkeit des Bodens hindeutet.
Einen sehr lohnenden Ausflug kann man von
Bordighera aus nach dem nahen Dolce Acqua, mit
dem Stammschloss der Genueser Doria, machen, dem
meiner Ansicht nach am schönsten gelegenen Ort
des ganzen Bezirkes. Die Strasse steigt am Ufer des
Flusses Nervia entlang bis Campo Rosso hinauf,
das in einem schönen, von hohen Schneebergen be¬
grenzten Thale liegt. Beim Eintritt in diesen Ort
fällt zuerst eine altersgraue Klosterkirche mit einem
bemalten Campanile ins Auge; von ihr aus erreicht
man einen Platz, den wunderliche, bemalte und mit
Loggien versehene Häuser umgeben. An seinem
äussersten Ende befindet sich eine Kirche mit weisser
Marmortreppe; letztere ist mit zwei ebenfalls mar¬
mornen Standbildern von Nymphen geziert, welche
Wasser in kleine Fontänen ausspeien. Dann, nach
einer kurzen Fahrt durch Olivenhaine, sieht man
plötzlich Dolce Acqua, umgeben von Kastanien- und
Olivenwäldern, in einem reizenden Thale vor sich
liegen; durch diese Stadt, deren Häuser beinahe alle
mit Arkaden versehen sind, schlängelt sich der tief¬
blaue Nerviafluss; auf der Höhe thront ein palast¬
ähnliches Gebäude, das Stammschloss der Doria, zu
dem ein steiler Abhang führt.
Für die Bewohner von Bordighera und San
Remo sind Palmen ein sehr einträglicher Besitz,
und dies ist wohl der Grund, weshalb sie hier kul¬
tiviert werden. Alljährlich gehen ganze Ladungen
von Palmenzweigen nach Frankreich und anderen
Gegenden ab. In beinahe allen katholischen Län¬
dern wird ein ausgedehnter Handel mit Palmen-
zweigen während der Passionszeit betrieben, aber
in Italien und besonders in Rom nimmt derselbe
am Palmsonntag grossartige Dimensionen an. Die
Kirchen werden alsdann mit geflochtenen Zweigen
geschmückt, und fast alle Besucher der Gotteshäuser
tragen an diesem Tage Palmenzweige, die der Priester
gesegnet hat, in den Händen. In Bordighera nun
lebt eine Familie, die seit Jahrhunderten das Privi¬
legium besitzt, zur Osterzeit die erforderliche Menge
von Palmen in den Vatikan, d. h. für den päpst¬
lichen Haushalt zu liefern*). Dieses Monopol wurde
nicht erkauft, sondern in Anerkennung geleisteter
Dienste verliehen.
IV. San Remo.
San Remo hat die Gestalt eines Dreiecks, über
dem sich sieben in üppigster Vegetation prangende
Hügel erheben. Die Stadt hat ein entschieden mittel¬
alterliches Aussehen und zählt 17000 Einwohner;
was ein erster Blick auf dieselbe kaum glaublich er¬
scheinen lässt. Da sie ehemals eine Festung war,
sind die Strassen des alten Stadtteils ungemein eng
*) Die Palmenzweige werden schon geflochten nach Rom
gesandt. Im Vorfrühling werden die Zweige an die Stämme
festgebunden, um sie zu bleichen, und dann für einige Zeit ins
Wasser gelegt, damit sie zum Flechten geschmeidig werden.
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Winterkurorte an der Riviera.
475
gebaut; sie bedecken einen zwischen zwei kleinen
Thälern vorspringenden Hügel. Rechts und links
erheben sich auf den Strassen dunkle Hallen und
geheimnisvolle Bogengänge, von denen einige einen
ganz unerwarteten Durchblick auf grüne, sonnige
Plätze gewähren. Hoch über den engen Gassen
sind die Häuser durch gemauerte Bogen verbunden,
die ihnen einen gewissen Halt gegen Erdbeben geben
sollen. An vielen der alten Gebäude sind Röhren
über den Hausthüren angebracht, die oben und unten
eine Oeffnung haben und dazu dienten, während der
Belagerung heisse Flüssigkeiten auf die Angreifenden
herabzugiessen. Licht und Luft erhalten die Be¬
wohner nur dadurch, dass die von den Strassen ab¬
gewandten Hinterseiten der Häuser am Hügel hinauf
sich über einander emportürmen, so dass die in ihnen
angebrachten Fenster ins Freie gehen.
Auf den Treppenstufen mancher Häuser stehen
Körbe voll Orangen, Citronen und Gemüse zum
Verkauf; niemand bewacht sie, die Käufer kommen,
nehmen ohne alle Umstände ihren Bedarf aus den
Körben und legen dafür einige Soldi hin, oft ohne
von dem Verkäufer gesehen zu werden. In der That,
eine sehr einfache und sparsame Art des Handels¬
verkehrs, denn »Zeit ist Geld«; doch dürfte sie nicht
überall angebracht sein.
Die Temperaturverhältnisse von San Remo sind
denen von Mentone ungefähr gleich. In den letzten
Jahren ist jenes ausserordentlich verschönert worden;
das kleine Hafenstädtchen, einst fast nur von Fischer¬
familien bewohnt, hat sich gegenwärtig zu einem
sehr beliebten, eleganten Winterkurort emporge¬
schwungen. Für gutes Trinkwasser sorgt eine im
Jahre 1885 vollendete Wasserleitung. Die Lage von
San Remo ist ausserordentlich günstig, aber an Natur¬
schönheit kann es nicht mit Mentone wetteifern.
Auf der Höhe des östlichen Stadtteils liegt die
weisse Kuppelkirche der »Madonna della Costa«,
mit cypressenbepflanzten, breiten Zugängen und mit
köstlichen Aussichten auf Küste und Berge. Vor ihr
befindet sich das grosse Hospital der Aussätzigen.
Nach Norden hin schweift der Blick über unge¬
heure, dunkle, tiefe Schluchten, deren von Orangen¬
gärten umgebene Ränder im frischesten Grün prangen.
Im Hintergrund der amphitheatralisch aufsteigenden,
schön geformten Hügel erheben sich die Apenninen.
Zwischen San Remo und Bordighera breiten sich
silberglänzende Olivenhaine aus. Ein steiniger Weg
führt von dem obenerwähnten Hospital über öde
Hügel nach der Wallfahrtskirche San Romolo, die
der Stadt ihren Namen gegeben hat, denn bis ins
15. Jahrhundert hinein hiess diese »San Romolo«.
Daraus ist später »San Remo« gebildet worden. Die
Einsiedelei »Sancti Romoli in Eremo« liegt sehr
malerisch, umgeben von herrlichen, alten Kastanien¬
bäumen, die auf einem Blumenteppiche stehen. Im
Frühling ist hier alles übersät mit dunkelfarbigen
Gentianen, die wie tiefblaue Augen aus saftigem
Grün hervorleuchten. Von San Romolo aus kann
man einen lohnenden Ausflug nach dem 1291 m
hohen »Monte Bignone« machen, der eine gross-
artige Rundsicht gewährt.
Auf guter Fahrstrasse ist Taggia leicht zu er¬
reichen. Das weite, liebliche Thal von Taggia liegt
mit seinen schönen Gärten und seinem klaren Ge¬
wässer wie eine reiche Mosaik vor dem Auge des
Beschauers. Die englischen Wintergäste besuchten
es ehemals viel, um dem italienischen Schriftsteller
Dr. Ruffini einen Besuch abzustatten. Derselbe hatte
seinen ersten, grosses Aufsehen erregenden Roman
»Dr. Antonio« in englischer Sprache geschrieben
und dadurch dem Nationalgefühl der Engländer sehr
geschmeichelt. Vor etwa zehn Jahren starb der
greise Dichter in seiner schönen Villa in Taggia.
In San Remo selbst gibt es zahlreiche anmutige
Spaziergänge, darunter der »Giardino pubblico« mit
Palmen, Eucalyptus und anderen tropischen Ge¬
wächsen; dann der von beiden Seiten mit Pfeffer¬
bäumen und Palmen eingerahmte »Corso Mezzo-
giorno«, welcher westlich in dem unter der Pro¬
tektion der verstorbenen Kaiserin von Russland
neu angelegten »Giardino delP Imperatrice« endet.
Sehr sehenswert ist auch der an seltenen Exemplaren
der subtropischen und tropischen Zone reiche Garten
des Herrn v. Hüttner, welcher an der neuen,
prächtigen Fahrstrasse Via Berigo liegt.
Der vorherrschende Baum in und um San Remo
ist die Olive. Dichte Anpflanzungen von Oelbäumen
füllen die Bucht aus, während freilich höher hinauf
Pinien die Gebirgskämme krönen. In Bezug auf
malerische Wirkung stehen Oelbäume in keinem
sonderlichen Ruf, und allerdings erscheinen sie, in
Massen gesehen, sehr einförmig; trotzdem zeigen
unleugbar einzeln stehende, kräftig entwickelte Exem¬
plare eine unendliche Mannigfaltigkeit in ihrer Ge¬
staltung; ihre knorrigen Stämme bilden oft genug
für Maler den Gegenstand lohnender Studien. Aber
auch ganze Olivenpflanzungen tragen trotz ihres un¬
scheinbaren Aussehens zu dem eigenartigen Reiz
italienischer Landschaften bei durch den Kontrast
gegen den tiefblauen Himmel, das glänzende Meer
und die nackten Felsen. Sinnige Gemüter lieben
den Oelbaum als das Bild des Friedens und gedenken
bei seinem Anblick gern des Oelzweiges, welchen
die Taube dem Noah brachte, und des Gartens am
Oelberg, in dem unser Heiland betete und litt.
Je weiter man nach Osten vordringt, desto kräf¬
tigere Oelbäume findet man, die grössten und stärksten
zwischen San Remo und Villafranca. Es werden
15 verschiedene Arten von Oliven in Italien und
Südfrankreich angebaut. Der an der Riviera be¬
kannteste und am meisten vorkommende Oelbaum
ist der »Olivier pleureur«, der eine Höhe von
30 Fuss erreicht und, wenn das Wetter günstig ist,
alle zwei Jahre eine gute Ernte gibt. In trockenem,
festem Boden gedeiht dieser Baum am besten, ebenso
die Weinrebe; man sieht daher an vielen Orten
Oliven- und Weinanpflanzungen zusammen.
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476
Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
Kein Teil des Oelbaumes ist wertlos, trotzdem
ist der Ertrag ein sehr geringer. Der anscheinende
Widerspruch ist jedoch leicht erklärt, wenn man er¬
fährt, dass die Kultivierung dieser Bäume ziemlich
kostspielig und im allgemeinen nur einmal in drei
Jahren auf eine gute Ernte zu rechnen ist. Ein
französisches Sprichwort sagt: »Qui ne possede que
des oliviers, reste toujours pauvre«.
Die meisten Olivenpflanzungen findet man an
den Abhängen der Hügel, die zu diesem Zweck in
Terrassen umgeschaffen werden. Jeder Terrassen¬
absatz ist mit einer niedrigen Mauer (muricciuoli)
eingefasst, die das Abrutschen des Erdreichs ver¬
hindern soll. Die Instandhaltung dieser Mauern ist
kostspielig, da sie einer fortwährenden Ausbesserung
bedürfen. Die Oelbäume werden meist aus Steck¬
lingen, seltener aus Samen gezogen, da sie nur lang¬
sam wachsen. Im Frühling findet man unter ihnen
eine reiche Flora, besonders Anemonen und Nar-
cissen; während Veilchen in grosser Menge in den
Mauerspalten und inmitten der knorrigen Stämme
alter Oelbäume wurzeln. Die kleinen, dicken und
länglichen Blätter des Oelbaumes sind auf der einen
Seite dunkel-graugrün, auf der anderen silberglänzend-
weiss. Im April blüht die Olive in den geschütz¬
testen Gegenden, im Mai und Anfang Juni in den
kühleren Bezirken an der Küste. Die Männer schlagen
die Früchte mit langen Stöcken herunter und schütteln
die einzelnen Zweige, während die herumliegenden
Früchte hauptsächlich von Frauen eingesammelt wer¬
den. Oft sieht man sechs bis acht Frauen mit ihren
grossen Körben um einen Baum herumlagern, ein [
sehr malerisches Bild! Esel oder Maultiere schaffen
die gefüllten Körbe nach den Oelmühlen, die grössten¬
teils Privateigentum sind. Aus ioo 1 gesunder Oliven
werden durchschnittlich 12 l Oel erster Qualität und
4 1 Oel zweiter Qualität gewonnen. Die vollständig
entölte Masse, die hauptsächlich aus halbzerquetschten
Kernen besteht, wird in Formen gepresst, getrocknet
und als Heizmaterial unter dem Namen »Forme di
sansa« verkauft. Aus der Asche derselben bereiten
die Wäscherinnen ihre Lauge.
Das Holz des Olivenbaumes ist sehr geschätzt
und wird von den Kunsttischlern zu den feinsten,
zierlichsten Sachen verarbeitet. Das trockene Laub
benutzt man als Dünger.
Eigentliche Armut findet man im Vergleich mit
den nordischen Ländern an der Riviera nur selten.
In den Küstendörfern gewährt die Fischerei und der
Schiffsbau den Männern ihren Broterwerb, während
die Frauen und Kinder sich mit Strohflechtereien
und Spitzenklöppeln beschäftigen. Fast jede Familie
besitzt ein kleines Stück Land, einen Olivenhain
oder einen Orangengarten. Citronen, Apfelsinen
und Orangen machen den hauptsächlichsten Reich¬
tum dieser Gegend aus, und zwar sind, wie schon
oben gesagt, die Blüten der Bäume noch wertvoller,
als die Früchte selbst.
Wenn man die Bewegungen und die Körper¬
haltung der Landleute, die Art und Weise, wie sie
die Farben zusammenstellen, die Grazie, mit welcher
sie selbst die einfachste Kleidung tragen, beobachtet,
so muss man sich gestehen, dass das Volk, welches
diese Gegenden bewohnt, einen angeborenen, wenn
auch unausgebildeten Schönheitssinn besitzt, der sich
in allem kundgibt. Wie reizend und malerisch z. B.
sehen die Frauen aus, die auf den Köpfen zierliche,
mit Apfelsinen oder anderen Früchten gefüllte Körbe
tragen, sie mit einer Hand anmutig stützend! Nichts
kann einfacher sein, als die brennend roten Beutel
mit langer Quaste, welche die Männer auf dem Kopfe
haben, oder die bunten Tücher, womit sich die Mäd¬
chen schmücken, und doch wie malerisch und ver¬
schiedenartig wissen diese schlichten Leute sie auf¬
zusetzen oder zu falten! Die junge Frau, die au
ihrem Kopfe ein Bündel Gras trägt, wird niemals
vergessen, es mit einigen Blumen zu verzieren; die
Plätterin bedeckt mit einem bunten Gazeschleier ihren
Korb blendend w T eisser Wäsche. Auch der Körper¬
bau der Menschen selbst erregt vielfach unser Wohl¬
gefallen. Oft begegnet man hier Originalen zu den
Bildern des berühmten Malers Leopold Robert,
dessen grösstes und schönstes, »Die Fischer des
Adriatischen Meeres«, sich gegenwärtig in der Bilder¬
galerie zu Neuchatel befindet. Unter den Frauen
sieht man schöne Gestalten mit prächtigem Nacken
und kleinen Füssen, und die dunklen Augen schauen
keck aus dem von üppigem Haar umrahmten Gesicht.
Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
Von C. B a 11 o d (Jena).
(Fortsetzung.)
Bei dem Baume, welcher das kostbare Jakaranda-
oder Palisanderholz liefert, scheint der botanische
Name zu schwanken oder aber das Holz mehrerer
Arten wird mit diesem Namen bezeichnet; in Santa
Catharina, wo der Baum übrigens selten ist, wird
wohl eine Bignonia als Jacaranda mimosifolia oder
brasiliensis, auch Nissolia Cabiuna bezeichnet (cfr.
Wappäus, Brasilien, S. 1807); Kärger (S. 131)
nennt den Baum nach der »Provincia de Säo Paulo«
Machaerium alemeni. Ziemlich häufig kommt in
sumpfigem Boden namentlich im Hintergründe der
fetten Uferleisten der Flüsse eine andere Bignonia
vor, derlpe (Tecoma chrysantha Ipe), dessen schönes
gelbliches Holz wegen seiner ausserordentlichen Härte
gern zu den Walzen der Zuckerrohrpressen benutzt
wird. Zu nennen sind noch von der Familie der
Papilionaceen die Arariba (Centrolobium robustum
Benth), deren Holz wegen seiner Schönheit beson¬
ders gern zu Möbeln benutzt wird, ebenso wie das
des Oleo (Oleo myrocarpus); das Holz der Cabriuva
(Myrocarpus fastigatus) ist besonders zu Wasserbauten
geschätzt. Das Holz der Ara^a [Psidium ara$a] dient
wegen seiner Elasticität besonders zu Axtstielen, die
Rinde liefert Lohe, auch die Früchte sind essbar.
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Go ogle
Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
477
Zu Eckpfosten beim Hausbau ist besonders geschätzt
Louro (Cordia frondosa). Von den weichen Holz¬
arten ist die wichtigste die Ceder (Cedrela brasiliensis),
welche mit dem Mahagonibaum verwandt sein soll;
sie verliert im Winter das Laub; das rötliche weiche
Holz, das eine schöne Politur annimmt, wird gern
zu Möbeln und zur inneren Auskleidung der Häuser
benutzt, nur darf es nicht der Witterung ausgesetzt
werden, da es sonst in 10—12 Jahren verfault, da¬
gegen ist es zur Ausfuhr sehr geschätzt und immer
höher bezahlt als die harten Holzarten, es wird zu
Cigarrenkisten und zur Umkleidung der Bleistifte
benutzt.
Eine Quassiaart, die ein sehr bitteres Holz hat
und zuweilen gefunden wird, bezeichnen die Bra¬
silianer als Chinabaum. Der echte Chinabaum kommt
dagegen in Brasilien gar nicht vor, und angepflanzt
degeneriert er, seine Rinde enthält fast kein Chinin,
wie es die im grossen ausgeführten Versuche in der
Provinz Rio de Janeiro ergeben haben. Ein Fazen-
deiro hatte daselbst in den achtziger Jahren mit
Regierungsunterstützung über 100000 Bäume in ver¬
schiedenen Höhenlagen angepflanzt, die Rinde hatte
kaum Spuren von Chinin. (Einige ausführliche Be¬
richte darüber in der Revista da Agricultura Rio de
Janeiro 1887 und 1888).
Von Palmen kommt am häufigsten vor die Kohl¬
palme, Gessara (Euterpe edulis), in zierlichen, schlan¬
ken Stämmen, die zu beträchtlicher Höhe heran¬
wachsen, und die Assaipalme, Palmito molle (Euterpe
oleracea) von ähnlicher Beschaffenheit, aber bedeutend
kleineren Dimensionen. Beide Arten liefern in ihren
jungen Blättern Palmkohl, und da sie sich leicht der
Länge nach spalten lassen, so werden sie gerne zu
Dachplatten, Zäunen und den primitiven Hütten der
Ansiedler benutzt. Auch eine Fächerpalme, die
Buriti (Mauritia vinifera Mart), erscheint häufig ver¬
breitet. Eine der schönsten Arten ist die Indaja
(Attalea compta), die bis zu 7—8 m lange Blätter
hat, auch die westindische Königspalme (Oreodäxa
regia) gedeiht angepflanzt, scheint aber nicht so
grosse Dimensionen erreichen zu können, wie weiter
im Norden. Mehrere niedrige, unschöne Palmen¬
arten kommen in der Nähe der See auf sandigem
Boden vor (Diplothemium maritimum? Wappäus
S. 1314), ebenso sieht man auf saurem sterilem
Sumpfboden am unteren Ararangua und Tubaräo
häufig Palmen. Für die Cocospalme ist es wohl in
Santa Catharina bereits zu kühl. Im Norden, an
der Bai von Säo Francisco finden sich noch aus¬
gedehnte Rhizophorenbestände, deren Holz jetzt in
der Gerberei benutzt wird.
Die Tierwelt.
Die Tierwelt ist sehr reich und mannigfaltig;
jagdbares Wild ist jedoch viel weniger zu finden
als in den mitteleuropäischen Wäldern, was wohl
davon herrührt, dass ja im brasilianischen Wald kein
Gras vorhanden ist, das eine grössere Anzahl von
Pflanzenfressern ernähren könnte, welche dann ihrer¬
seits Raubtieren als Beute dienen könnten. Von
grösseren Tieren findet man noch am häufigsten
die Anten (Tapire); zahlreich sind Gürteltiere (Tatüs),
die von Insekten und Würmern leben und daher
sehr nützlich sind. Auch einige Arten Wildschweine,
sowie die Capybara (Wasserschweine), eine Art Nage¬
tiere, kommen vor. Von Raubtieren sind die Jaguare,
von den Brasilianern Tiger genannt, vertreten; sie
finden sich jedoch häufiger auf dem Hochlande, wo
sie an den Viehherden leichter Beute erlangen können;
dasselbe gilt von den Pumas, den amerikanischen
Löwen, die ziemlich feig und scheu sind. Von Affen
sind namentlich die Brüllaffen vertreten. Eine häss¬
liche , sehr häufig verbreitete Beutelratte Gamba,
stellt dem Federvieh und dessen Eiern nach. Von
Vögeln kommen eine Menge von Arten vor, vom
kleinsten Kolibri bis zu den Geiern; am zahlreichsten
sind die Papageien und Tukane, Singvögel gibt es
nach europäischen Begriffen wenige. Waldhühner,
Jacüs, Fasane, Schnepfen kommen ebenfalls vor, in
der Nähe von alten Kolonien sind sie jedoch nicht
sehr zahlreich. Von Reptilien sind die Jacar£s, Alli-
gatore jetzt sehr selten und scheu; Eidechsen, Lagarten,
sehr scheue Tiere, die bis 1 m Länge erreichen,
dagegen sehr häufig. Schlangen sieht man in der
heissen Jahreszeit ziemlich häufig, namentlich die
trägen, giftigen, bis 2 m langen Jararacas, in der
kühlen Jahreszeit sind sie kaum zu finden. Frösche
und Kröten kommen sehr zahlreich und in ansehn¬
licher Grösse vor, an warmen Abenden wird man
an sumpfigen Stellen durch das Konzert der Knack¬
frösche und der dem Weinen eines Kindes ähnlich
klingenden Stimme der Hylä nicht gerade angenehm
berührt. Von lästigen Insekten sind zunächst die
widerlichen Baratten (Blatta), die überall in hohlen
Baumstämmen und Häusern sich einnisten, zu er¬
wähnen, dann der Sandfloh (Pulex penetrans), der
sich an den Zehen und Füssen von Menschen und
Tieren einbohrt und dort seine Eier legt, bei un¬
reinlichen Menschen, namentlich aber unerfahrenen
Einwanderern, die sie nicht bald genug entfernen,
selbst Geschwüre veranlassen können; in den höher
gelegenen Landesteilen scheinen sie nicht vorzu¬
kommen. Die Zecken, Garrapaten, werden im Walde
von den Blättern, auf denen sie sitzen, leicht abge¬
streift, namentlich wenn es längere Zeit trockene
Witterung gegeben hat. Auch Moskitos kommen
im Sommer in der Nähe von Sümpfen vor; eine
Art von Stechfliegen legt ihre Eier in die Haut der
Tiere, aus denen sich dann Maden, die Bicho-pernas,
bis zur Fingergrösse entwickeln können. Derartige
Wundstellen müssen sorgfältig mit Quecksilberpräpa¬
raten behandelt werden. Ein kleiner Rüsselkäfer geht
leicht an Mais und Bohnen; Mais kann öfters nur
dadurch längere Zeit aufbewahrt werden, dass man
die Maiskolben in ihren Blättern belässt und sie zu
Bündeln vereinigt (an der Decke von Gebäuden)
aufhängt. Die Bohnen werden, um sie haltbar zu
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Geographische Mitteilungen.
478
machen, gedörrt, verlieren aber dann ihren Wohl¬
geschmack. Diese geringe Haltbarkeit der Cerealien
erklärt die grossen Preisschwankungen, die oft in
einem einzigen Jahre Vorkommen. Eine andere Art
dieser Rüsselkäfer bohrt gerne Holz an, was bei
Fässern, die mit Flüssigkeiten gefüllt sind, sehr un¬
angenehm sein kann.
Von den Ameisen sind die Schlepperameisen,
die Saübas, die gerne die Blätter von Orangen und
Kaffeebäumen wegtragen, am schädlichsten ; sie kom¬
men jedoch auf den Campos des Hochlandes und über¬
haupt auf entwaldetem Terrain, sowie in Buschwald
(Capoeira) häufiger vor als im Urwalde. In Sao Paulo
werden sie in ihren Löchern durch Einblasen von
Schwefelkohlenstoff getötet. Vogelspinnen von ziem¬
licher Grösse sind oft zu finden, Skorpione und Skolo¬
pender scheinen dagegen sehr selten vorzukommen.
Die Urbarmachung des Bodens.
Ueber die Urbarmachung von Waldland wäre
folgendes zu bemerken: Der Wald wird gewöhnlich
im Winter oder im Frühjahr (September bis Oktober)
gehauen. Zuerst wird mit der Foi$a, einem sichel¬
förmigen Instrument mit einem langen Stiel, das
Unterholz und die Schlinggewächse weggeschlagen,
damit sie Zeit gewinnen um völlig auszutrocknen,
bevor die grösseren Bäume sie bedecken und am
Trocknen hindern. Nachdem ein gewisses Stück
Wald von dem Unterholz gesäubert ist, werden mit
einer Axt mit schmaler Klinge von bestem Stahl die
grösseren Stämme gefällt; darauf muss man ab warten,
bis das Holz einigermaassen austrocknet, und es dann
anzünden und niederbrennen. Das Austrocknen
dauert im günstigsten Falle einige Wochen, zuweilen
aber selbst einige Monate, wenn es nämlich gerade
viel regnet; dann kann auch unterdessen zwischen
den am Boden liegenden Bäumen schon frisches
Gras und Strauchwerk hindurchgewachsen sein, wo¬
durch dann solch eine »Rossa« oft gar nicht brennen
will und mühsam geräumt werden muss, um zwischen
den am Boden liegenden dickeren Stämmen und
Stümpfen Pflanzenland zu gewinnen. Selbst wenn
die Rossa gut brennt, so verbrennen doch nur die
trockenen Blätter, die dünneren Zweige und das
Gestrüpp des Unterholzes, nicht aber die Stubben
und dickeren Stämme, so dass es ganz überflüssig
ist, wenn in manchen Büchern der Rat erteilt wird,
die Nutzholzstämme mit Erde zu bewerfen, um sie
vor dem Verbrennen zu schützen, dazu sind sie in
der Regel selbst nach einigen Monaten Trockenzeit
viel zu saftig und grün. Die Bäume pflegt man
nicht dicht am Boden abzuhauen, sondern der leich¬
teren Arbeit wegen in 3—4 Fuss Höhe, wo die
Stämme oft nur den halben Umfang haben, wie
dicht am Boden. So kommt es denn, dass ein
Brasilianer oderein im Waldschlagen geübter Kolonist
oft in acht Wochen ununterbrochener Arbeit bis zu
10000 Quadrat-Brassen (4,8 ha) Wald niederschlägt,
während ein neu Eingewanderter, auch wenn er das
Bäumefällen gewohnt ist, kaum die halbe Fläche
bewältigen kann, wenn er in seiner in Europa ge¬
wohnten Weise die Bäume niedrig abhauen und über¬
haupt die Arbeit ordentlich und sauber machen will.
Das Waldschlagen wird namentlich von Brasilianern
vielfach im Akkord verrichtet, in den letzten Jahren
zahlte man gewöhnlich für 4,8 ha Waldschlagen
(10000 Quadrat-Brassen) 100—-150 Milreis (200 bis
300 M.); ist die Rossa gut gebrannt, so gibt es
kaum etwas zu räumen an unverbranntem Gestrüpp,
die dicken Stämme lässt man gewöhnlich liegen, wo
sie hingefallen sind, und man kann sogleich pflanzen;
ist aber die Rossa schlecht gebrannt, so dass viele
unverbrannte Zweige und Gestrüpp übrig geblieben
sind, die geräumt, auf Haufen geworfen und ver¬
brannt werden müssen, so können sich die Ausgaben
für das Räumen eben so hoch, ja noch höher belaufen
als für Waldschlagen und Brennen, weshalb man
oft gleich das Räumen mit verakkordiert. Heinrich
Semler (Tropische Agrikultur I, Kap. 1) verlangt,
man müsse die Stümpfe auf jeden Fall ausroden, um
möglichst bald pflugbares Land zu bekommen; er
empfiehlt die Sprengung mit Dynamit, allein das ist
denn doch eine Arbeit, die nur durch geschickte und
geübte Leute verrichtet werden kann, da andernfalls
leicht Unglücksfälle entstehen können. (Forts, folgt.)
Geographische Mitteilungen.
(Fischreste in den unteren silurischcn Erd¬
schichten.) Die devonische Formation ist lange Jahre
hindurch populär als »das Zeitalter der Fische« bekannt
gewesen. Während dieser geologischen Periode hat
das Fischleben der Erde sich wunderbar entwickelt, und
lange glaubte man allgemein, dass während dieser Epoche
die Fische zuerst auf der Erde erschienen seien. Die
Thatsache, dass die Fauna aufs höchste differenziert und
vielseitig war, ist für die Evolutionisten, die keine Vor¬
fahren in älterem Gestein, aus welchen die devonischen
Formen entstanden sein konnten, aufzufinden im stände
waren, ein Stein des Anstosses gewesen. Die Entdeckung
von Fischresten in den Ludlow- (oberen silurischcn)
Felsen Grossbritanniens und später auf der Insel Oesel
in der Ostsee versetzte die Fauna, insofern es Europa
betrifft, eine Stufe in der geologischen Skala zurück.
Das Auffinden gewisser Spuren hiervon auf Felsen des
Clintonschen Zeitalters in Amerika war schon lange
vorher bekannt, aber erst im Jahre 1885 wurden in der
Neuen Welt Fischreste unterhalb der devonischen For¬
mation aufgefunden.
In jenem Jahre beschrieb Prof. Claypole einige
von der Onondaga-Salzgruppe Pennsylvaniens herrührende
Reste und erwähnte einiger kleinen Rückgrate der Clinton-
Periode, die man für solche von Fischen hielt.
Im Jahre 1888 berichtete Mr. Mathews die Ent¬
deckung von Fischen in Neubraunschweig (New Brun¬
swik) in einer Erdschicht, die man als der unteren
Helderbergschen Formation angehörend betrachtete, so
dass kein Zweifel mehr über das Vorkommen von Fisch¬
resten in der oberen silurischen Formation sowohl in
Nordamerika als in Europa Platz greifen konnte. Auf
Grund dessen war man berechtigt, der Entdeckung von
Wirbeltieren in älteren Felsen als diese entgegenzu-
Digitized by Google
Litteratur.
479
sehen. Im Jahre 1888 erkannte Mr. Wolcott, Paläonto¬
loge des Geological Survey, in einer nächst Canon City,
Colorado, ungefähr 80 Meilen südlich von Denver ge¬
machten Kollektion von Fossilien die Ueberreste von
Fischen. Deren gemeinschaftliches Auftreten mit Fossilien
von niedrigerem sibirischen Aussehen war etwas so Un¬
gewöhnliches, dass man zu der Vermutung veranlasst
ward, dass die Felsen durch Katastrophen durcheinander
geworfen worden seien und silurische mit devonischen
Formen sich vermischt hätten. Man wünschte weitere
Anhaltspunkte hierüber zu gewinnen und instruierte
Herrn Wolcott dahin, dass er in Colorado eine Samm¬
lung veranstalte und seine anfänglichen Beobachtungen
in diesem Gebiete vervollständige. Dies geschah, und
aus einem Studium des Materials folgerte Herr Wolcott,
dass diese Reste einer Schicht des Trenton-Zeitalters
angehörten.
Um sich hiervon übrigens zu überzeugen, begab er
sich im letzten Dezember nach Canon City, studierte
die Sektion und sammelte Material aus dem Fischbett
und oberhalb desselben. Als Resultat wurde infolge
einer Versammlung der Biologischen Gesellschaft von
Washington vom 7. Februar angekündigt, dass Fisch¬
reste in der Schicht des Trenton-Zeitalters gefunden
worden seien.
Die Ueberreste sind vom nämlichen Typus wie
der Placoganoid-Fisch der oberen sibirischen Formation
auf der Insel Oesel. So weit sind zwei Formen erkannt
worden: die eine der Familie der Haifische, die andere
einer Gruppe von paläozoischen Fischen oder ausge¬
storbenen Arten der Urzeit angehörig und aus Frag¬
menten von Fischschuppen bestehend.
Ein Studium der wirbellosen Ueberreste, die von
Herrn Wolcott, mit den Fischresten zusammen ein¬
gebettet, gefunden wurden, bewies, dass diese Fauna
paläontologisch den sedimentären Ablagerungen der
Trenton - Epoche angehörte. Von 33 identifizierten
Arten sind nicht weniger als 21 identisch mit den im
Mississippi-Thale sich vorfindenden Formen. Diese
Fauna ward 180 Fuss über der Schicht gefunden, in
welcher die Fischreste eingebettet sind.
Diese Entdeckungen sind vom grössten Interesse,
weil sie die Wirbeltiere in eine viel frühere Schöpfungs¬
periode versetzen, als früher angenommen ward; in
einen so niederen Schöpfungshorizont, wie man früher
hiervon keine Ahnung hatte. Die Formen, wie man
voraussehen konnte, gehören niederen Typen an und
repräsentieren die möglichen Vorfahren der devonischen
Gebilde. Es steht nunmehr zuversichtlich zu erwarten,
dass andere ähnliche Ueberreste in anderen Schichten
der unteren silurischen Formation werden aufgefunden
werden. (Mitteilung von V. Freudenberg in Mödling
bei Wien.)
(Periodische Dürre in Russland; nach den
Beobachtungen von F. Schwedoff.) Ausgedehnte und
eingehende meteorologische Beobachtungen werden in
Russland vorläufig seit zu kurzer Zeit ausgeführt, um aus
ihnen feste, begründete Schlüsse und Resultate zu ziehen;
um aber auf interessante Ergebnisse hinzuweisen und
die Aufmerksamkeit gründlicher Beobachter auf einen
wichtigen Gegenstand zu richten, hat Prof. F. Schwedoff
über periodische Dürre im europäischen Russland fol¬
gendes aus seinen Untersuchungen mitgeteilt:
Es ist bekannt, dass alle Holzpflanzen, wie Bäume
und Sträucher, alljährlich je einen Ring zwischen
dem Stiel, Stamm und der Rinde ansetzen, nach denen
das Alter der Gewächse abgelesen werden kann. Die
Dicke eines solchen Ringes hängt von der Quantität
der atmosphärischen Feuchtigkeit ab, welche im Laufe
des Jahres in den Boden gedrungen ist und welche dem
Jahresringe eine Breite von zwei bis zehn und mehr
Millimeter zu geben im stände ist. Wird ein solcher
Stamm im Querschnitt durchsägt und die erhaltene
Fläche poliert, so treten die Jahresringe deutlich hervor;
dabei ist leicht erkennbar, dass in den Jahren, in denen
atmosphärische Niederschläge häufig gewesen sind, diese
Ringe breiter, dicker sind, in den trockenen Jahren da¬
gegen kaum zwei Millimeter erreichen. Dass solches
thatsächlich und allgemein der Fall ist, zeigen die in
den Steppengegenden Russlands gefällten Bäume, deren
Jahresringe, entsprechend denselben Jahren, gleich stark
und breit sind. Bei sorgfältiger Beobachtung und In-
Rechnung-Ziehen von Umständen, welche einen be¬
sonderen Einfluss haben konnten, fand Prof. Schwedoff
eine merkwürdige Analogie in der regelmässigen Wieder¬
kehr breiterer und abwechselnd schmaler Ringe, selbst
in ganz verschiedenen Gegenden. Es zeigte sich, dass
die schmalen Ringe, als Resultat besonders trockener
Jahre, in den Steppengegenden regelmässig alle neun
Jahre wiederkehren. Eine solchen Wechsel anzeigende
Kurve, vom Autor »Dendrogramm« genannt, ruft diese
Erscheinung deutlich vor Augen; sie gibt Maxima in
nassen, Minima in trockenen Jahren, und zwar kehren
letztere in merkwürdiger Regelmässigkeit seit den Jahren
1854—1855, 1863, 1872—1873, 1882 und zuletzt 1891,
wieder, und ihnen entsprechend die schmalen Ringe.
Völlige Analogie mit ihnen bot der Vergleich der Be¬
obachtungen von Niederschlägen in der genannten Periode.
Dabei tritt die charakteristische Erscheinung auf, dass
geringere Minima sich regelmässig alle drei Jahre wieder¬
holen, so dass also alle drei Jahre eine geringere, alle
neun Jahre eine grössere Dürre in den Steppengegenden
auftreten, zugleich mit Misswachs verbunden. Es lässt sich
annehmen, dass 18jährige und 36jährige Perioden noch
intensiver diese Erscheinung hervortreten lassen werden.
Immerhin spielt die Grundzahl »drei« bei diesen Er¬
scheinungen eine wichtige Rolle. Ist dies alles richtig,
so lässt sich voraussehen, dass in den Jahren 1900 und
1909 Misswachs in Russland auftreten wird. Der Ombro¬
meterstand ist also die sichere Grundlage für diese Er¬
scheinung, und dieser hängt vielleicht nicht nur von
tellurischen, sondern auch von kosmischen Einflüssen ab.
(Mitteilung vori'R. v. Erckert in Berlin.)
Litteratur.
Persia and the Persian Question by the Hon. George
N. Curzon, M. P., Late Fellow of All Souls College, Oxford,
Author of »Russia in Central Asia«. In two Volumes. London
(and New York), Longmans, Green & Co., 1892. Gr. 8°.
Vol. I. XXIV und 639 S., Vol. II. XII und 653 S.
Ueber dieses, in der bekannten splendiden Weise der eng¬
lischen Verleger trefflich ausgestattete Werk hat sich bereits
einer der ersten Sachkenner, Arm. Vamb£ry, in einem grösseren
Artikel des »Pester Lloyd* auf das anerkennendste ausgesprochen
und es als eine reiche und sichere Quelle der Belehrung Über
Iran bezeichnet. Deutsche Beurteiler werden sich diesem Gut¬
achten nur anschliessen können, denn der Autor, welcher als
Korrespondent der »Times« Persien und die angrenzenden Länder
aus eigener Anschauung grtindlichst kennen gelernt hat, versteht
ebenso gut zu erzählen und darzustellen, wie er offenbar an Ort
Digitized by
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480
Litteratur.
und Stelle zu beobachten verstand. Und da er nicht nur, wie
andere Reisende, Teile des Landes, sondern das Reich des Schahs
in seiner ganzen Ausdehnung kennen gelernt hat, so war ihm
natürlich auch eine unvergleichlich bessere Gelegenheit zu ver¬
gleichenden Studien geboten als alienseinen Vorgängern. Uebrigens
wäre es irrig zu glauben, dass derselbe sich auf Mitteilung dessen,
was er selbst gesehen, beschränkt habe; vielmehr hat er die
Reiselitteratur ebenfalls gründlich durchforscht, wie schon das
selten vollständige Verzeichnis aller Persienfahrer seit tausend
Jahren im »Introductory« beweisen kann. Auch der in asiatischen
Dingen wohl erfahrene Geograph wird hier einer Reihe von
Namen begegnen, von denen er noch nichts gewusst hat, während
der Berichterstatter wenigstens sich ausser stände sähe, irgend
eine Ergänzung zu jener Liste zu liefern.
Der erste Band gibt nach einer sehr eingehenden Dar¬
legung der Verhältnisse der nach Persien führenden Wege zunächst
die persönlichen Erlebnisse des Verfassers wieder, welcher seine
Route durch das transkaspische Gebiet Russlands wählte und
somit durch die östlichste Provinz, durch Khorassan, seinen Ein¬
tritt in das Königreich bewerkstelligte. Dieser Landesteil mit
dem religiösen Centrum Meshed, Handel und Verkehr in diesen
entlegenen Gebieten werden sorgfältig beschrieben, und ins¬
besondere werden auch die politischen Fragen erörtert, welche
sich an die Rektifikation der persischen Südostgrenze (Seistan,
Mekran) ankntipfen lassen. Von Meshed führt uns der Verfasser
nach Teheran und Mazanderan, gibt Auskunft über den Herrscher,
seine Familie, die Regierung und ihre Reformbestrebungen, und
nachdem er etwas kürzer die Provinz Aderbeidschan — Herr
Curzon schreibt »Azerbaijan« — besprochen, führt er uns in
zwei selbständigen Kapiteln das Militär und die Eisenbahnbauten
der Perser vor, welche sich freilich grösstenteils erst als »Saat
auf Hoffnung« auffassen lassen. Die Schienenwege, welche das
wirtschaftliche Interesse des Landes erheischt, zeichnet der Ver¬
fasser im einzelnen vor.
Dem Binnengebiete und den Südprovinzen ist der zweite
Teil unseres Werkes gewidmet. Isfahan, Schiraz und die Ruinen
von Persepolis stehen an der Spitze; dann folgen Abschnitte
über die Grenzländer gegen Afghanistan und Beludschistan einer¬
seits, gegen die asiatische Türkei andererseits, wobei insonderheit
dem Karun-Flusse, dem als einzigem schiffbaren Wasserlaufe
Persiens eine hohe wirtschaftliche Bedeutung zukommen könnte,
Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das persische Seewesen muss
aus einleuchtenden Gründen mit einer sehr kurzen Behandlung
vorlieb nehmen, wogegen die Küste des Persischen Golfes —
auch das gegenüberliegende Oman mit inbegriffen — wieder sehr
eingehend und lebhaft gekennzeichnet wird. Dann folgen noch
sachkundige Erörterungen über den Nationalwohlstand, die Mittel,
ihn zu heben, über Manufakturen, Bergwerke und Handel; hier
hat wieder die geschichtliche Kenntnis des Verfassers Gelegenheit,
sich geltend zu machen. Das Schlusskapitel ist ein geistvoller
politischer Essay über den Wettbewerb der Russen und Briten
im Perserreiche, höchst lesenswert, da der Erzähler den Ein¬
geweihten zuzuzählen ist und die vielfach sich durchkreuzenden
Fäden der Agitation — gelegentlich wohl auch der Intrigue —
klar erkannt hat.
Nur in Einem Punkte sind wir nicht ganz in der Lage,
Vamb^rys Besprechung beizutreten: über Fragen der physi¬
kalischen Geographie hätten wir von dem Verfasser, für den
offenbar der Mensch als das bei weitem wichtigste Forschungs¬
objekt zu erachten ist, etwas mehr zu erfahren gewünscht, als
er uns mitteilt. Ueber die Wtistenbildung unter verschiedenen
Erdstrichen wurden bekanntlich in neuester Zeit viele und erfolg¬
reiche Untersuchungen angestellt, und da Persien ebenso bekanntlich
im Artikel »Wüsten« mehr denn reichlich gesegnet ist und alle
möglichen Arten dieser Oberflächengestalt in sich schliesst, so
könnte eine neue Bereisung Persiens zu dem, was uns Tietze,
Posepny u. a. kennen gelehrt haben, mancherlei Neues und Be¬
merkenswertes hinzuftigen. Indessen hatte sich der Verfasser eine
so grosse Aufgabe gestellt, dass es unbescheiden wäre, eine
Ueberschreitung seiner Ziele von ihm zu fordern.
Die vielen schönen Landschafts-, Städte- und Personen-
Ansichten gereichen dem Buche zur hohen Zierde, der Lektüre
zur erfreulichen Anregung. Auch die beigeheftete Generalkarte
des Landes erfüllt vollkommen ihren Zweck, alle die Oertlich-
keiten auffinden zu lassen, die im Texte Erwähnung finden.
_ S. Günther.
Erwiderung gegen Herrn J. Part sch.
Prof. Part sch hat in den Nummern 26 und 27 dieser
Wochenschrift eine Antikritik meiner Kritik seines Werkes über
Ph. Clüver gebracht, für welche ich ihm nur dankbar sein
kann; denn sie bestätigt meine Kritik vollständig. Zunächst
erkennt Partsch an, dass ich den historischen Teil seines Buches
als eine wertvolle Leistung auf historisch-geographischem Ge¬
biete rühmend hervorgehoben habe; er sagt dann im Verlauf
seiner Entgegnung: »ich finde methodische Kontroversen zwischen
Anschauungen, die so weit auseinander gehen, nicht fruchtbar.
Es wäre davon kein Ergebnis zu erwarten, höchstens eine Unter¬
haltung der Korona. Mir winkt vorläufig noch nützlichere Arbeit«;
und zum Schlüsse betont er wieder die grössere Fruchtbarkeit
anderer Arbeiten, die er vorhabe, sowie die »Rücksicht auf die
Leser«, die ihn wohl auch abhalten werde, später auf methodo¬
logische Fragen zurückzukommen. — Ueber den Nutzen und die
Fruchtbarkeit der Arbeiten und Aufgaben, welche Partsch vor
sich sieht, steht mir kein Urteil zu; dass seine künftigen Werke
lehrreich und wertvoll sein werden, bezweifle ich ebenso wenig,
als ich den Wert des ersten Teiles seines Clüver trotz einzelner
Ausstellungen, deren wichtigste Partsch in seiner Entgegnung
allerdings mit Schweigen übergeht, irgend angezweifelt habe.
Er arbeite und schreibe; und sind dann seine Bücher in der
That so nützlich und fruchtbar, wie er es hier seinen Lesern
verheisst, so werde ich der erste sein, der sie mit vollem Beifall
anerkennt, mögen sie nun auf erdkundlichem oder aber auf histo¬
rischem Gebiete sich bewegen.
Allein Partsch spricht es selbst aus, dass er »methodische«
Kontroversen zwischen so weit auseinander gehenden Standpunkten
nicht fruchtbar finde; er will sie aus Rücksicht auf die Leser
nicht fortsetzen; er hat, eben weil er sie für unfruchtbar findet,
bisher (seit 1887) gegen mich geschwiegen, bis er es plötzlich,
im Anhänge seiner Biographie Clüvers, für angezeigt hielt,
meine Ansichten, aber ohne Nennung meines Namens, zu be¬
kämpfen. Nennung des Namens, sagt er, bedurfte es nicht,
weil »für jeden an diesen Fragen Interessierten unverkennbar« sei,
gegen wen der letzte Abschnitt seines Buches sich richte. Und
sage ich denn in meiner Kritik etwas anderes ? Ich bezeichne den
letzten Abschnitt des Buches als vielleicht gegen mich gerichtet;
ich weise nach, dass Partschs Behandlung der methodologischen
Kontroverse unrichtig und deshalb unfruchtbar sei — wir sind
also ganz einer Meinung! Was uns trennt, ist nur der Umstand,
dass ich an dem vielleicht veralteten, aber nach meiner Ueber-
zeugung recht heilsamen Glauben festhalte, dass man, um in
einer Wissenschaft klar zu sehen, sich zunächst um die Methode
dieser Wissenschaft zu kümmern habe, dass es eine Sache von
grösster Nützlichkeit und Fruchtbarkeit sei, sich darüber klar zu
werden, ob und wie in ein und derselben Wissenschaft »An¬
schauungen, die so weit auseinander gehen,« möglich sein können.
Deshalb habe ich die methodologische Grundfrage zur Sprache
gebracht, deshalb werde ich mich auch ferner bemühen, über
dieselbe mir immer klarer zu werden. Wer diese schwierigen
und oft recht dornigen Untersuchungen von vornherein für nicht
fruchtbar hält, wird selbstverständlich besser thun, sich von ihnen
fern zu halten und auf solchem Gebiete zu bleiben, wo er nütz¬
lichere und fruchtbarere Arbeit winken sieht. Denn auch der,
welcher einsieht, dass er über die Methodik einer Wissenschaft
nichts Fruchtbares vorzutragen hat, kann auf anderen Gebieten
sehr Tüchtiges leisten, wie ich dies ja von Partsch ganz aus¬
drücklich anerkannt habe.
Ich verweise hierfür auf meine Kritik, die ich in allen
Punkten aufrecht halte. Einiges Sachliche werde ich demnächst
in diesen Blättern weiter ausführen.
Strassburg i. Eis. G. Gerl and.
Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger
in Stuttgart.
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft ebendaselbst.
Digitized by
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Einige Bemerkungen
über die kaukasischen Gletscher und Seen.
Von C. Hahn (Tiflis).
In der Sitzung der Kaiserlich Russischen Geo¬
graphischen Gesellschaft zu Tiflis im Maimonat
machte der bekannte russische Erforscher der kau¬
kasischen Gletscher K. N. Rossikow höchst inter¬
essante Mitteilungen über die Resultate seiner For¬
schungen im Laufe der letzten io Jahre. Er hat in dieser
Zeit neun Exkursionen auf die kaukasischen Glet¬
scher ausgeführt und mittels aufgestellter Marken
und angebrachter Farbenstriche genaue Resultate über
die Bewegung der Gletscher gesammelt. Dieselben
beweisen ohne Ausnahme ein bedeutendes Zurück¬
gehen der Eismassen. Rossikow erforschte haupt¬
sächlich die Gletscher der Seitenkette des Hauptkamms
in seiner grössten Erhebung zwischen Adai-Choch
und Kasbek. Hier finden sich Gletscher und Cirken
von ganz bedeutender Ausdehnung, welche noch
fast ganz unbekannt sind. Das meiste Interesse er¬
wecken hier die grossen Eismassen und der Cirkus
des Zitigletschers. Dieser besteht aus mehreren
Teilen, und sein Umfang beträgt circa 20 Werst.
Ausser grossartigen, landschaftlichen Schönheiten
bietet das Thal dieses Gletschers sehr viel Interes¬
santes. Rossikow hat dort Lager von Graphit,
Asbest, Kupfererzen und silberhaltigem Bleiglanz ent¬
deckt. Auch sehr schöne und seltene Alpenvögel
kommen hier vor, von welchen der Berichterstatter
Bälge mitgebracht hat, wie z. B. der Kreuzschnabel,
der Bergfink, der Wiedehopf, die Alpenkrähe u. s. w.
Ebenso fand Rossikow daselbst, ungeachtet der nie¬
drigen Temperatur des Gletschers, die Spitzmaus, die
Kröte und Natter vor, was wohl damit sich erklären
lässt, dass der Kessel eine ungemein geschützte Lage hat.
Eine andere interessante Mitteilung machte Ros¬
sikow in einer zweiten Sitzung. Er sprach über
Ausland 189a, Nr. 31.
das Austrocknen der Seen auf dem Nordabhang des
Grossen Kaukasus. Seitdem in den letzten Jahr¬
zehnten in Russland zum öftern auf weiten Gebieten
Missernten eintraten, hat man allenthalben von der
Verminderung der atmosphärischen Niederschläge,
dem Austrocknen der Seen und der Versandung der
Flüsse gesprochen, aber genaue Daten darüber hat
man nicht gesammelt und streng wissenschaftliche
Forschungen und Messungen darüber nicht ange¬
stellt. Rossikow hat letzteres im Laufe der zehn
Jahre 1882—1892 im nördlichen Kaukasus gethan.
Mittels der an den anstehenden Felsen angebrachten
Merkmale und der im Wasser aufgestellten Pfähle
war er imstande, ganz genaue Daten zu sammeln.
Ausserdem zeigt der Blick auf ältere Karten, dass
viele Seen, welche eine Oberfläche von 20 Quadrat¬
werst und darüber hatten, jetzt verschwunden sind.
Besonders gilt das von den Seen im Unterlauf des
Kuban, des Terek und Ssulak. Andere sind bedeu¬
tend zurückgegangen. Als eklatantes Beispiel kann
der grosse und tiefe See Kisinoi-Am in Itschkerien
dienen. Derselbe liegt in einer Höhe von 6100'
über dem Meer; er weist an seinen Ufern einen
Rückgang von 6—10 Saschenen l ) auf. Ein anderer
grosser See, Karakol, der vor 20 Jahren noch eine
Fläche von circa 20 Quadratwerst hatte, stellt jetzt
Ackerland dar. Dieser See brachte einst der Krone
17000 Rubel Fischereipacht ein. Der Wasserspiegel
des Sees von Krascheninnikow ist im Laufe eines
einzigen Jahres um 10 Zoll niedriger geworden.
Bei diesen Seen ist der Grund der Abnahme des
Wassers einzig und allein in der Entwaldung der
Umgegend zu suchen. Die gleiche Erscheinung
wurde bei dem kleinen See im Tarthal bei Wladi-
kavkas beobachtet. Hier ging der Wasserspiegel um
11 Zoll zurück.
Eine interessante Debatte entspann sich zwi-
*) i Sascbene = 7 engl. Fuss.
61
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482
Klimatische Faktoren der Weltwirtschaft.
sehen einem Topographen und Rossikow über den
Berg Chisan-Choch, welcher sich inmitten des von
Rossikow zuerst erforschten, in der Nähe des Gi-
marai-Choch liegenden Gletschers Ziti (Ziti oder
Zata bedeutet im Ossetinischen Gletscher) erhebt. Der¬
selbe hat bei bedeutendem Umfang eine Höhe von
1170' über dem Niveau des Ziti. Der Topograph,
welcher jene Gegend von circa 10 Jahren aufge¬
nommen, behauptet, vor jenem Berge nichts ge¬
sehen zu haben, und hat ihn daher auf seinen Karten
nicht vermerkt. Rossikow behauptet, er habe an
den Felsen des Berges eine Aufschrift mit dem Da¬
tum seines Besuches gemacht, habe auf demselben
einen Tur getötet und verschiedenes wertvolle Mate¬
rial gesammelt. Da die Gegend weiter von Nie¬
manden mehr besucht worden, so musste die Chisan-
Choch-Frage einstweilen eine offene bleiben.
Klimatische Faktoren der Weltwirtschaft.
Mit speciellem
Hinblick auf Japan und Deutsch-Afrika.
(Vortrag, gehalten
vor der Abteilung Berlin der Deutschen Kolonialgesellschaft
am 4. Januar 1892.)
Von Wilhelm Krebs (Berlin).
(Schluss.)
Besonders geeignet für einen solchen Versuch
erschien Japan. Die für den Welthandel wichtige
Produktion dieses Landes tritt ziemlich rein und
vollständig in
seiner Aus¬
fuhr zu Tage.
Diese ist seit
1868 in sorg¬
fältigen und
übersicht¬
lichen Listen
geordnet. Die
meteorologi¬
sche Erfor¬
schung ist
wohlorgani¬
siert. Von
dieser lag ge¬
eignetes Ma¬
terial aller¬
dings nur für
die sechs
Jahre 1883
bis 1888 vor.
Die klimati¬
sche Kurve
(B) ist des¬
halb wesent¬
lich kürzer als die wirtschaftliche (Abb. III, A ). Bei
dem Vergleich musste ferner berücksichtigt werden, dass
in Japan die Produktion eines Jahres erst in der Aus¬
fuhr des folgenden zur Geltung zu kommen pflegt.
Woran das liegt, ob an Ernte-, Verkehrs- oder
Handelsverhältnissen, war bisher nicht zu ermitteln,
die Thatsache steht aber auch nach Vergleich der
S 77 79 81 83 85
Abbildung IV.
Produktions- und Ausfuhrlisten (Abb. VI, A B und
C D) y von denen erstere mir für die wichtigsten
landwirtschaftlichen Produkte und das Jahrzehnt
1879—1889
Vorlagen,fest.
Das gleiche
Verhältnis
zwischenPro-
duktion und
Ausfuhr be¬
steht , wie
ich voraus be¬
merken
möchte, für
China, nicht
aber für die
australische
Kolonie Vic¬
toria , deren
Boden¬
erzeugnisse
grösstenteils
in ihrem Ur¬
sprungsjahre
ausgeführt
werden (Abb.
VI, EF).
Ordnet man
bei Japan die Reihe der klimatischen Faktoren
1883 —1885 zu derjenigen der erwähnten wirt¬
schaftlichen, welche ich als arktoide Prozente
Digitized by Google
Klimatische Faktoren der Weltwirtschaft.
483
bezeichnet habe, 1884—1886, so ergibt sich ein
fast vollkommen gleichgerichtetes Schwanken beider
Kurven (Abb. III, A B ). Beide steigen vom ersten
zum zweiten Jahr, sinken, steigen, allein vom
fünften zum sechsten Jahr stellt sich ein Unterschied
der Schwankung ein, welcher aber in der Kurve
der klimatischen Faktoren von Tokio, mit seinen
mustergültigen Beobachtungen, sowie mehrerer anderer
Stationen des mittleren Japan, mehr als ausgeglichen
erscheint (Abb. III, C).
Derselbe Gleichlauf von Klima und Produktion
tritt bei China hervor, bei welchem die klimatische
Kurve der im mittleren und fruchtbarsten Teile dieses
Landes gelegenen Station Zikawei mit der Produk¬
tionskurve verglichen wurde, für die Zeit von 1878/79
bis 4884/85 (Abb. IV). Sinken, Steigen, Sinken,
Steigen, Steigen, Sinken tritt von 1879 — 1885 gleich¬
zeitig auf beiden Kurven ein. Um so auffallender
ist der entgegengesetzte Verlauf zwischen den vier
vorhergehenden Jahrgängen 1875 — 1879 der Aus¬
fuhr. Aus der Geschichte Chinas ist bekannt, dass
in diese Epoche die schwerste Dürre fällt, welche
im 19. Jahrhundert das ostasiatische Reich heim¬
suchte. Die klimatischen Faktoren werden berechnet
aus dem Quotienten
Bewölkung
Temperatur X Niederschläge.
Temperatur
Bewölkung
bezeichnen aber den dem Pflanzenleben günstigen
Einfluss der Besonnung, welcher beim Vergleich mit
dem arktoiden Verhältnis umgekehrt angesetzt wer¬
den muss.
Es liegt nahe, anzunehmen, dass sich dieser Ein¬
fluss der Besonnung bei allzu sehr mangelnden Nieder¬
schlägen gegen das Pflanzenleben wenden, das an¬
geführte Verhältnis sich also wieder umkehren wird.
Bemerkungen zu Abbildung III—V.
Vergleiche zwischen den Schwankungen des
Klimas und der Produktion in den Jahren
1863—1890.
Die Kurven A stellen bei allen drei zum Vergleich heran¬
gezogenen Ländern, Japan, China, Victoria, die Schwankungen
des Verhältnisses der tierischen zur pflanzlichen Produktion dar
in den arktoiden Prozenten.
Dieselben sind für Japan (III, A) und China (IV, A) aus
den Werten der tierischen und pflanzlichen Ausfuhr, vermindert
um die hier sehr geringen Beträge entsprechender eingeführter
Waren, berechnet. Für die fünf ersten Jahre 1863—1867 wurden
in der Kurve IV, A allein die beiden Hauptwerte der Ausfuhr
Chinas, Seide und Thee, berücksichtigt. Bei Victoria (V, A )
wurde jene Reinigung der Ausfuhr unterlassen, da diejenige
pflanzlicher Produkte durchgängig von der entsprechenden Ein¬
fuhr weit übertroflen wird.
Japan.
Quelle: Returns of the foreigu trade of Japan, 1868 to 1889, Tokio, Bureau of Customs.
Werte reiner Ausfuhr in Millionen Yen Silber
1868
1869 1870
1871 1872 1873 1874
1875
1876
1877
1878 1879
1880
1881
1882
tierischer Herkunft
10,67
9,o8 7,74
10,46 8,89 11,66 7,47
7.19
17,19
11,62
10,49 13,46
12,54
14,69
20,87
pflanzlicher Herkunft
449
3-3 1 6,00
6,08 5,66 7,03 9,22
8,38
8,13
8,67
11,71 10,25
10,28
10,32
11,44
Arktoide Prozente
238
274 129
172 157 166 81
86
211
134
90 131
122
142
,83
1883 1884 1885
1886
1887
1888
1889
tierischer Herkunft 20,42 15,49 16,63
22,68
24,17
3 L 30
- 3L88
pflanzlicher Herkunft 10,22 10,57 10,56
14,56
13,66
' 17,61
18,23
Arktoide Prozente 200 147 160
156
177
178
175
China.
Quellen: Trade statistics of the treaty ports 1863—1872. Returns of trade and trade reports, Parts I, 1873—85. China. Imperial Maritime Customs. Shanghai.
1863
1864
Werte reiner Ausfuhr in
1865 1866 1867 1868
Millionen Haikuantaels
1869 1870 1871 1872
,873
1874
1875
1876
1877
tierischer Herkunft 12,9
10,9
17,5
14,8
16,4
23,95
19,53
21,56
25 , 5 *
28,00
3 ,.82
26,27
25,34
36,36
23.96
pflanzlicher Herkunft 27,8
21,0
26,1
25,2
28,7
35,4
33-6
29,4
38,5
43-5
43.6
45-7
41,0
4 L 9
41.3
Arktoide Prozente 47
52
67
59
57
68
58
73
66
64
72
57
62
87
58
tierischer Herkunft
1878
26,47
1879
29,69
1880
30,98
1881
28,26
1882
24,43
1883
25-74
1884
2545
1885
22,18
1886
3 L 59
1887
35.03
1888
35,67
1889
40,30
1890
33 , 7 i
pflanzlicher Herkunft
38,8
38,5
44.4
39,9
39,2
40,8
38.2
397
4 i ,5
42,1
44,2
45-2
42,3
Arktoide Prozente
68
77
7 o
7 i
62
63
67
56
76
83
81
89
80
Victoria.
Quelle: Victorian Yearhook for 1888—89, Volume II. Statistical Summary Nr. 1. Melbourne and London 1889.
* Ausfuhrwerte in 1000 £
1864 1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 l8 7 6
Wolle + Häute + Talg 3414.0 34 * 4,6 3258,9 3891,4 4761,7 3660,6 3597,6 5211,1 5054,2 6025,4 6630,2 6350,7 6647.3
Brotstoffe 135,9 82,9 88,1 110,3 90,4 28,4 52,9 37,9 62,1 68,5 63,4 36,1 40,5
Arktoide Prozente 2512 4119 3699 3528 5267 12890 6801 13749 8139 8781 10458 17315 13956
1877
OG
00
1879
1880
1881
1882 1883
1884 1885
1886
1887
1888
Wolle +
Häute Talg 5796,9
5943,2
547 L 4
6707,9 5812,3
6228,0 6408,6 6748,2 5286,4
5229,9
5279,3
5532.4
Brotstoffe
74,0
3 1 *»7
272,4
887,0 930,6
966,5 651,7
>769,5 772,4
559,4
668,0
938.°
Arktoide
Prozente 7834
1907
2009
756
625
644 983
381 684
935
608
590
Digitized by Google
484
Klimatische Faktoren der Weltwirtschaft.
Die klimatischen Faktoren ( 2 ?) sind nach der Formel
w
- . 20000
t . n
berechnet, entgegengesetzt zu ihrer dem Pflanzenleben günstigen
Wirksamkeit, da sie mit einer für tierische Produktion positiven
Kurve verglichen werden.
Allein bei Japan betrifft eine klimatische Kurve das ganze
für die wirtschaftliche Produktion wichtige Gebiet, konstruiert
aus den Durchschnittswerten von 15 Stationen. Die andere
Kurve der Klima-Faktoren für Japan ist aus den Werten der
einen Station Tokio, die klimatischen Kurven für China und
Victoria sind ebenfalls nach den Beobachtungen je einer geeignet
gelegenen und bedienten Station, der chinesischen Zikawei, der
australischen Melbourne, entworfen.
Japan.
Quellen: Reports of the meteorological observatories 1883 — 85 und Annual metcorological report I, 1886-88, Tokio.
n =
Niederschlagsmengen
mm.
t
Temperatur 0 C.
00
00
1884
\r\
OO
OO
1886
00
00
1888
1883
1884
1885
1886
18S7
1S88
Tokio
1464
1311
1539
1290
1252
1379
43
45
45
42
45
44
Akita
•536
1650
l8lO
1786
1465
1580
76
83
72
67
69
78
Niigata
1796
1839
1936
I580
1468
1681
62
65
61
53
52
57
Numazu
'579
1849
2248
l6l I
1638
1505
46
45
43
43
43
45
Hamamatsu
1470
1660
2313
I78l
1596
1671
33
36
36
34
36
39
Kanazawa
2405
2787
3304
2613
2192
2379
59
63
60
58
56
58
Sakai
1564
2006
2186
1953
1463
1553
58
55
53
52
48
49
Shimonoseki
1525
1704
1866
1934
1452
?
40
47
44
43
38
>
Kioto
1156
1585
1829
1442
1399
1242
5 °
54
53
5 *
48
47
Osaka
1073
1440
1605*
1213
1185
1210
44
46
44
43
40
40
Wakayama
1205
1389
1712
1386
1186
1337
42
44
42
44
4 i
42
Kochi
2128
2093
2521
2625
2493
2730
36
37
36
37
33
34
Miyasaki
2246
2125
2716
to
oe
2915
2753
35
35
34
35
32
34
Kagoshima
2051
1903
2176
2215
2264
1772
35
36
36
38
32
37
Nagasaki
l8lO
2150
2699
2 204
2051
1657
37
39
39
40
35
38
Mittel
1667
1833
2164
1928
1735
1746
44 ,i
48,8
46.5
45,3
43,2
45.4
Klimatische Faktoren = - . —-
t n
1883
1884
1885
1886
1887
1888
Mittel
! der
15 Stationen
52,9
53,3
43 ,o
46,8
49,8
52,0
Für Tokio allein
58,7
68,6
58,5
65,1
7*.9
63,8
C
h i n
a (Zikawei).
Quelle :
Meteorological elcments of the climatc of Shanghai, Zikawei Obscrvatory, 1
885.
1873
10
1^.
oc
r>.
oc
1876
1877
1878
1879
188o ;
1881
1882
1883
1884
7 v — Bewölkung °/ 0
55
56 58
61
65
64
59
62
63
65
64
60
t — Temperatur 0 C.
15,7
15,5 14,8
H ,9
' 4.7
14,8
15,8
14,8
* 5,5
* 5,2
* 5,2
14,6
n — Niederschläge mm
995
1007 1589
777
988
1206
1272
1102
* 34 i
* 33 *
1026
• 185
Klimatische
Faktoren —
70
t . n
. 20000
70,4
749.4
105,4
89,4
7*,7
58,7
76,0
6o,6
64,2
82,1
69.4
V i c
t 0 r
i a (Melbourne).
Quelle: Victorian
Yearbook for 1888—89,
Vol. 11 ,
S. .73.
1864
1865 1866
1867
1868
1869
1870
1871
1872
■873
1874
«875
70 = Bewölkung °/o
6l
56 55
57
57
60
58
59
64
60
61
62
i = Temperatur 0 C.
* 3,9
' 3.6 ' 4.3
H ,3
* 3,9
14,0
14,1
* 4,3
14,2
* 4,4
* 3-7
' 3.7
n — Niederschläge mm
686
406 559
660
457
635
864
762
813
660
7 **
838
Klimatische
Faktoren ~
70
t . //
- . 20 000
128
203 137
121
179
*35
95
108
■ 11
141
*25
108
1876
«877
00
00
1879
1880
1881
1SS2
1883
00
00
1885
1886
1887
1888
tu — Bewölkung °/o
58
58
60
58
60
59
56
59
62
63
60
61
55
t — Temperatur 0 C.
* 3,9
' 3.7
14,1
' 3,8
* 4,3
* 3,9
* 4 ,i
* 4,4
* 3,7
* 3,9
* 3,9
* 4,5
14,2
« =r Niederschläge mm
610
6 lO
635 483 724
Klimatische Faktoren
610
“ t
559
70
. n
610
20 000
8*3
483
610
660
686
*37
*39
*34
*74
116
*39
142
152
111
188
142
127
* *7
Ein oberflächlicher Vergleich der klimatischen mit der
wirtschaftlichen Kurve liess schon erkennen, dass bei Japan und
China jeder Jahrgang der ersteren dem folgenden, bei Victoria
demselben der letzteren Kurve zugeordnet ist, dass die Kurven,
in dieser Art neben einander gelegt, einen vorwiegenden Gleich¬
lauf ihrer Schwankungen zeigten. Da der Einteilung der Tafel III
für alle drei Länder die Ausfuhrjahre zu Grunde liegen, sind
die beiden oberen Diagramme zum Vergleich mit dem unteren
um i cm nach links zu verschieben. Einen zweiten Beleg für
jenes Verhältnis der Produktion zur Ausfuhr ergibt dann das
Zusammenfallen jenes grössten Ueberwiegcns tierischer Produktion
im Jahre 1875 der Ausfuhr Victorias, 1876 der Ausfuhren Japans
(nach 1869) und Chinas. In der That scheint sich in diesem den
drei Kurven gemeinsamen, auffallendsten Zuge der Beginn der das
indische und einen grossen Teil des pacifischen Gebiets zugleich
betreffenden klimatischen Krisis der siebziger Jahre auszuprägen.
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Klimatische Faktoren der Weltwirtschaft.
485
In den Dürre-Epochen der subtropischen und
tropischen Länder, der sonnigsten der Erde, darf
man deshalb klimatische Katastrophen erblicken,
welche das wirtschaftliche Gedeihen derselben auf
das tiefste stören.
Es gibt aber Länder, deren Klima vorwiegend
aus solchen Katastrophen besteht, welche von kurzen
Zeiträumen normalen Schwankens unterbrochen sind.
Als Beispiel kann ich eine Kolonie des australischen
Festlandes anführen, Victoria. Die wirtschaftliche
Kurve ist gegenüber dem einheitlichen Maasstabe
für die Erde und Japan auf etwa 0, gegenüber dem
für China auf V 100 verkleinert. Aber auch so
treten ihre* Schwankungen als ausserordentlich gross
hervor (Abb. V, A ). Trotzdem ist auf Strecken von
zwei bis zu sechs Jahren Gleichlauf der Schwan¬
kungen in diesem Produktionsverhältnisse und im
Klima von Melbourne (/?) zu verfolgen. Getrennt sind
die normalen Epochen von solchen entgegengesetzten
Schwankens, besonders nach den Jahren 1868, 1873,
1885. Aus der unten entworfenen Kurve der Nieder¬
schläge zu Melbourne (C) geht aber hervor, dass diese
Jahre dort von Regenarmut heimgesucht wurden,
besonders 1868 und 1885. Für die Mitte der 70er
Jahre, welche die grösste Schwankung und Ano¬
malie aufweist, liegen ausserdem Nachrichten vor,
dass die bei China erwähnte Dürre auch Australien
heimsuchte, als Glied einer weit ausgebreiteten
Kette klimatischer Störungen, welche im Jahre 1876
ihren Einfluss wahrscheinlich vom Hererolande öst¬
lich bis Tahiti ausdehnte.
China und Japan werden seltener von Dürren
heimgesucht. Das erkennt man aus dem grösseren
Gleichmaass der wirtschaftlichen Kurven. Spurlos
($ ,( f r »t * •» }» Ti ,1 II I* II U M 1 # 1 # fd fi
t* 6) if »f «f 10 11 II 1, »• I» 1# n *» 1* io II
ft st f* n /tt »? t$
n ty i* ii i» 11 a
Abbildung VI.
sind sie aber auf diesen nicht. Die Dürre-Epochen
um 1872 und wahrscheinlich um 1867 markieren sich
auf der chinesischen Kurve ähnlich, aber schwächer,
als die schwerste um 1876. An der japanischen
Kurve kehrt ungewöhnliches Zurücktreten pflanz¬
licher Produktion in drei genau sieben Jahre aus
einander liegenden Jahrgängen wieder: 1869, 1876,
Bemerkungen zu Abbildung VI.
Vergleiche von Produktion und Ausfuhr.
Japan.
Einige der für die wirtschaftlichen Kurven benutzten ge¬
reinigten Ausfuhrwerte sind mit den Produktionsnngaben des
R£sum6 statistique de l'empire du Japon I—V, Tokio 1887—91,
verglichen. Bei der Unsicherheit, welche in der Produktions¬
statistik überhaupt weit grösser ist als in der durch Zoll- und
Hafenbehörden beständig Überwachten Ausfuhrstatistik, ist von
vornherein eine scharfe Uebereinstimmung nicht zu erwarten.
Doch sprechen auch diese Vergleiche vorwiegend dafür, dass
in der That in Japan die Produktion eines Jahres erst in der
Ausfuhr des folgenden zur Geltung zu kommen pflegt. Besonders
ist das der Fall in den nach klimatologischer Richtung unter¬
suchten Jahrgängen 1884—1889 bei den der Schwankung am
meisten ausgesetzten Hauptgegenständen der Ausfuhr: Reis und
Seide.
Reis 1879/80 — 1889/90
A Produktion 1879—89 32,4 31,4 30,0 30,7 30,7 26,4 34,2 37,2 40,0 38,7 jj,o Millionen Koku
B Ausfuhr 1880 — 90 o 0,13 1,63 1,0 2,16 0,0g 3,28 2,13 7,40 7,30 0,12 „ Yen
Seide 1879/80—1888/89
C Produktion 1879—88 440 530 620 700 700 840 750 960 1080 990 Tausend Kwan
D Ausfuhr 1880-89 //,/ 13,4 19,3 18,6 133 14,5 20,3 21,9 28,8 29,2 Millionen Yen.
Innerhalb der Jahrgänge nach 1884 entsprachen bei Reis 5 von 6, bei Seide 3 von 5 Schwankungen im einzelnen
dem zu beweisenden Verhalten.
Victoria.
Eine nahezu vollkommene Uebereinstimmung mit dem aus
dem Vergleich der klimatologischen mit der arktoiden Kurve
erschlossenen Verhalten ergibt die Vergleichung der vegetabilischen
Ausfuhr Victorias mit den summierten Beträgen seiner Hafer- und
Weizenernten,der hauptsächlichstenBodenproduktiondieserKolonie.
Quelle: Yearbook II, Summary Nr. 2.
Weizenernten
1864—
79 'S
i .9
3-5
4,6 3.4
4,2
S 7 ■
2,9 4.5
5,4
4.8 4.9
5 ,o
5.3 7,0
Haferernten
1864 -
-79 3,5
2.7
2.3
3 .« 2,3
2.3
s,s .
3.3
2,4
‘,7 2,1
2,7
2,3 2,0
E Summen
4,8
4/1
5 .»
8,5 5*7
6,5
5),5 J,r 7,8
7.8
6,5 7.0
7,7
7,6 9,0
/'Ausfuhr an Brotstoflen
1864—
79 135,9 Sj,g
• 88,9 :
110,3 90,4
2S,4
52,9 3
7,9 62,1
68,5 63,4 36,1
40,5
74,0 311,7 -
Weizenernten
1880—
-88
9.4
9,7
8,7
8 ,S
15,6
10,4
VS
12,1
13,3 )
Haferernten
1880—
-88
4,0
2,4
3,6
4,4
4,7
4,4
4,7
4,3
4,6 J
E Summen
* 3.4
12,1
12,3
‘ 3.2
20,3
14,8
139
16,4
* 7,9 j
F Ausfuhr an Brotstoflen
1 1880—
88 ;
887,0
930,6 966,5
65', 7
1769,5
772,4
559>4
668,0
938,0 Tj
Busheis
Ausland 189a, Nr. 31.
Millionen
Busheis
usend £.
62
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486
Klimatische Faktoren der Weltwirtschaft.
1883 der Ausfuhr, also 1868, 1875, 1882 der Pro¬
duktion. Nach der japanischen Versicherungsstatistik
war 1869 ein Jahr der Missernte, 1882 ein Jahr
schädlicher Trockenheit. Im Jahre 1875, über
welches aus Japan keine Nachrichten vorliegen,
wurden Teile der benachbarten Mandschurei von
schädlicher Trockenheit heimgesucht. Vom Jahre
1884 an tritt in der japanischen Kurve ein gleich-
mässiger Verlauf hervor. Es scheint, als ob die seit
der Restauration 1868 in das Schwanken geratene
wirtschaftliche Lage seit 1884 einen Gleichgewichts¬
zustand erlangt habe.
Trotzdem haben sich seit ungefähr derselben Zeit, nach¬
dem zuerst im Jahre 1882 Liebscher seiner Enttäuschung über
die japanische Landwirtschaft Ausdruck verliehen, Stimmen ge¬
mehrt, welche von einem Notstände derselben und der Notwendig¬
keit einer Landreform reden. Auch ein japanischer National¬
ökonom, Ota Nitobe, gab in einem deutsch erschienenen Buche
jener pessimistischen Ansicht Ausdruck.
Aus diesem und einem gleichzeitig erschienenen, in erster
Linie für japanische Landwirte bestimmten Buche des deutschen
Professors Fesca in Tokio geht hervor, dass das unkultivierte
Land einen die Verhältnisse der meisten europäischen Kultur¬
länder weit übertreffenden Anteil des japanischen Bodens be¬
ansprucht. Von dem 28 Millionen Hektar umfassenden Areal
Alt-Japans (Japans ohne Hokkaido) sind nach Ota Nitobe
35 Proz. Oedland, 41 Proz. fast ungenutzter Wald, gegenüber
a /io Proz. Oedlandes in Preussen, 26 Proz. Wald in Deutschland.
In keinem der bisherigen Reformvorschläge wurde hinreichend
gewürdigt, dass die unkultivierten Landesteile derselben Vorzüge
des japanischen Klimas teilhaftig sind, wie die kultivierten. Klima
und Boden sind die Faktoren der landwirtschaftlichen Produktion.
Dass das erstere in hohem Maasse die letztere bestimmt, geht
für Japan aus dem Gleichlauf dieser Kurven hervor. Den Boden
anbaufähig zu machen, gibt die moderne Kulturtechnik reiche
Mittel an die Hand.
Dem Plan, grosse Striche des Oedlandes als reine Vieh¬
weiden auszunutzen, widersprechen, im Einklänge mit einzelnen
ungünstigen Erfahrungen, die allgemeinen Produktionsverhältnisse.
Der arktoide Prozentsatz für Alt-Japan, in den letzten sechs
Jahren durchschnittlich 166, übertrifft den seiner geographischen
Breite zukommenden (55), welcher mit dem entsprechenden
Mittelwerte der klimatischen Faktoren nahezu übereinstimmt, um
mehr als das Doppelte. Hieraus kann ganz allgemein gefolgert
werden, dass sich die Viehzucht erst im Anschluss an erweiterten
Ackerbau dauernd heben wird. Der jetzige Viehbestand Japans,
auch an Rindern, von denen 27 auf 1000 Einwohner kommen,
steht gar nicht so einzig da durch seine Geringfügigkeit. Wegen
seiner Jahrestemperatur durchaus vergleichbar mit Japan ist Italien.
Hier werden allerdings 160 Rinder auf 1000 Einwohner ge¬
rechnet. Aber von dem Gesamtbestand, 4,8 Millionen, kommen
3,2 Millionen, also fast 3 /4, auf die nördlichen alpinen und mehr
kontinentalen Gebietsteile Italiens, welche über die altjapanischen
Breiten weit hinausragen. Diese abgerechnet, würden für den
Vergleich mit den 27 Rindern auf 1000 Japaner auch nur 40
auf 1000 Italiener übrig bleiben.
Ota Nitobe berichtet aus dem Jahre 1886 das Bestehen
von 22 Gesellschaften zur Hebung der japanischen Viehzucht.
Die Bestrebungen derselben haben es nicht verhindern können,
dass der Rinderbestand von 1,02 Millionen im Jahre 1886 auf
i,oi Millionen im Jahre 1888 zurückgegangen ist, der Bestand
an Pferden von 1,537 auf 1,533 Millionen. Dieser Fehlschlag
wird daran liegen, dass versucht worden ist, eine rentierende
Viehzucht schnell neu zu schaffen, nicht sie in ihrem für Japan
natürlichen Anschluss an den Ackerbau allmählich zu entwickeln.
Ein schneller Erfolg ist aber auch gar nicht so notwendig,
wie die um die japanische Landwirtschaft besorgten Reformer
meinen. Die Bauerngüter sind allerdings zu klein für volle Be¬
schäftigung der Familien und über die Hälfte ihres Wertes hinaus
verschuldet. Tiefere Besorgnisse sind aber unbegründet. Aus
Ota Nitobes Daten selbst ist nachzuweisen, dass eine besonders
hohe Kriminalität des japanischen Bauernstandes nicht vorliegt.
Eine statistische Endberechnung der japanischen Bevölkerungs¬
bewegung ergibt, dass der kärgliche Vegetarianismus des Bauem-
volkes keinen aussergewöhnlich ungünstigen Einfluss übt. Im
Gegenteil kehrt in dem Endergebnis bis auf die Prozenteinheit
genau dasjenige Italiens wieder. Die Sterbefälle betragen in
beiden Ländern 81 Proz. der Geburten.
Lang ausholende, langsame Reform erscheint durchaus an¬
gebracht. Aus den dargelegten klimatologischen Gründen meine
ich, die Kulturfläche muss erweitert werden Über Teile des Oed¬
landes und des Forstes in Alt-Japan selbst. Von ganz anderer
Seite, von dem finanziellen Gesichtspunkte, die Grundsteuer zu
erleichtern ohne Schmälerung der Staatseinkünfte durch Ver¬
teilung über eine grössere Kulturfläche, ist Eggert 1 ) zu dem¬
selben Schlüsse gelangt. Seine weiteren Vorschläge beschäftigen
sich allein mit der Frage, dem Bauernstand sein Fortbestehen
und solche erweiterte Leistungen pekuniär zu ermöglichen. Von
grösserer Wichtigkeit ist aber die technische Befähigung. Für
den Feldbau in den Hochländern und Ebenen des Oedlandes ist
eine andere Methode notwendig als die intensive, mit welcher
bisher die Niederungen und Flussthäler angebaut wurden. Die
dortigen Kulturen sollten beibehalten werden als Gartenland
grössten Maasstabes. Für die Oedländereien ist Feldbau nach
abendländischer Art zu empfehlen. Für sie eignen sich aber
auch nicht die nordamerikanischen Wirtschaftsweisen, welche
sich in einem Ueberfluss zur Wahl stehenden guten Bodens ent¬
wickelt haben. Deutsche Landwirte würden die besten Ixhr-
meister als Landwirtschaftslehrer oder Leiter von Musterwirt¬
schaften sein. In dieser Hinsicht besitzt die japanische Agrar¬
frage auch koloniales Interesse. Die Landwirtschaft nach euro¬
päischem Muster wird danach die Viehzucht als Nebenbetrieb
haben, mit mehr Erfolg als die bisher auf reine Viehzucht ge¬
richteten Bestrebungen *).
Fast das Gegenbild dieser Verhältnisse bietet die
ebenfalls aktuelle Agrarfrage in einer deutschen Ko¬
lonie, Südwestafrika. Auch hier sei gestattet, ein
Land nahezu übereinstimmender Breitenlage zum
Vergleiche heranzuziehen: die australische Kolonie
Victoria. Das Klima des Nama- und Hererolandes
besteht wohl aus einer noch engeren Folge von
Dürrekatastrophen. An einen Beginn der Bewirt¬
schaftung mit Ackerbau ist deshalb nicht zu denken.
Ungeeignet für diesen Betrieb ist das ganze Land
keineswegs, aber auch die begünstigteren Striche am
Waterberge, am Etjo, Slankop u. s. w., auf welche
Schinz nach seinen kurzen Reiseerfahrungen die
Aufmerksamkeit lenkt, sind jenen Schwankungen des
Klimas ausgesetzt. Diese und wohl manche andere
bevorzugten Gebiete verlangen jahrelanges Einleben
oder planmässige meteorologische Erforschung, ehe
mit bestimmten Maassnahmen vorgegangen werden
kann. Das deutsche Schutzland ist gross genug,
um die Annahme zu berechtigen, dass es, ähnlich
Vorderindien, in mehrere einander kompensierende
Klimagebiete zerfällt, dass Landesteile in einem Jahre
Ueberfluss an Regen- und Grundwasser haben, in
welchem andere Mangel leiden, und umgekehrt.
Sind solche Gebiete wirklich festgestellt, so sind
wohl auch gesetzliche Bestimmungen möglich, welche
eine rotierende Sicherung der Ackerbauer vor Mangel
und vor der schlimmeren Gefahr ermöglichen, dass
*) U. Eggert, Landreform in Japan, Tokio 1890.
■*) Vgl. auch »Ausland* 1892, S. 138—140, 149—150.
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
dieselben in einem Jahre aus thätigen Bauern zu
hilfsbedürftigen Proletariern werden. Die bäuerliche
Kolonisierung des deutschen Südafrika wird dem¬
nach wohl erst nach Besetzung des Landes mit Vieh-
haltereien thunlich sein ! ).
Zum Schlüsse noch ein Blick auf die tropischen
Teile des deutschen Afrika. Das Verhältnis der tieri¬
schen zur pflanzlichen Produktion, welche im Jahr¬
gang 1888/89 im Handel auftrat, berechnete sich zu
102, im folgenden Jahre sogar zu 150 Proz. gegen¬
über einem mittleren Prozentsatz von nur 19 für
die Breite o—10 0 s. (Abb. I A). Grund ist die über¬
wiegende Elfenbeinausfuhr, welche sich im Jahrgang
1889/90 auf 3 von 5 Millionen Rupien Gesamtwertes
belief. Es wurde früher an diese Zahlen die Be¬
trachtung geknüpft, dass ein Zurücktreten der Elfen¬
beinausfuhr, ein bedeutendes Anwachsen der Ausfuhr
pflanzlichen Ursprungs nur eine Frage der Zeit sei.
Neuerdings sind Vorschläge aufgetaucht, afrikanische
Elefanten zu zähmen. Dafür wurde geltend gemacht,
die Intelligenz und Kraft dieser Tiere für Kulti-
vations-, hauptsächlich Transportzwecke auszunutzen.
Von gleicher, für Zwecke des Handels sogar noch
grösserer Bedeutung erscheint der Gesichtspunkt, die
Elefanten zu züchten und auf diese Weise das gigan¬
tische urafrikanische Tiergeschlecht um des Elfen¬
beines willen vor dem Aussterben zu schützen. Doch
möchte ich dem gegenüber sogleich darauf aufmerk¬
sam machen, dass dieses Ziel bei dem indischen
Elefantenhalten auch nicht im entferntesten erreicht
ist. Eine Elfenbeinausfuhr Vorderindiens ist nicht
vorhanden, w’ohl aber eine bedeutende Elfenbein¬
einfuhr aus Afrika in dieses Land. Als besonders
schlagendes Beispiel sei ein Kuriosum angeführt. Aus
alten elfenbeinreichen Zeiten besteht in Hindostan
die Sitte, dass der Bräutigam der Braut einen Elfen¬
beinring verehrt, welchen diese am Oberarm trägt.
Solche Ringe werden gegenwärtig aus afrikanischem
Elfenbein in Barmbeck bei Hamburg gearbeitet und
von dort nach Indien eingeführt. Allerdings sind
die afrikanischen Stosszähne durchgehends schwerer
und massiver als die indischen, sogar als die siame¬
sischen mammutartigen Hauer. Aber von dem an¬
geführten klimatologischen Gesichtspunkte aus scheint
es doch kaum mehr zweifelhaft, dass die Elefanten¬
zucht den Elfenbeinhandel jetzigen Umfanges nicht
wird erhalten können. Aehnliche Zweifel erweckt
der von hervorragenden Autoritäten in den Vorder¬
grund gestellte Zweck, die Elefanten als Transport-
und Arbeitstiere zu verwenden. Auch hierfür sei
als Beispiel Indien herangezogen. In den letzten
Jahren hat das dortige Verkehrswesen eine glänzende
Probe bestanden. Drei Jahre mit Dürren in ver¬
schiedenen Landesteilen sind bisher glücklich über¬
wunden worden. Dieser Erfolg wurde nicht durch
Elefantentransporte erlangt, sondern in erster Linie
*) Vgl. hierüber meine später abgefassten Aufsätze über
»Klima und Landwirtschaft in Deutsch-Süd westafrika« in der
»Deutschen Kolonialzeitung«, 1892, S. 63—65, 81—82.
487
durch das eigentliche Transportmittel europäischer
Kultur: Dampfwagen auf eisernen Schienen. Es er¬
scheint besser, Mittel und Meinungen, welche in
deutschen Kreisen für Hebung des afrikanischen
Verkehrs vorhanden sind, auf den Dampfverkehr zu
Wasser und zu Lande zu koncentrieren, als auf Pro¬
jekte, wie die Zähmung der Elefanten, und diese
privater Initiative zu überlassen.
Ebenso wenig durch tierische Intelligenz wie
durch menschliche Körperkraft werden die Tropen¬
länder der Kultur erobert und vor ihren eigenen
Gefahren geschützt, vielmehr durch die Elementar¬
kräfte des Dampfes und seiner Verwandten, ge¬
meistert durch menschliche Intelligenz.
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
Ein Beitrag zur Geschichte der Erdkunde.
Von Emil Wisotzki (Stettin).
(Fortsetzung.)
Was Varenius hier so für das Mittelmeer
und Rote Meer im einzelnen bewiesen hat, oder
doch wenigstens glaubte bewiesen zu haben, das
verallgemeinert er auch auf andere Meerbusen. Be¬
kanntlich ordnete er l ) diese in zwei Kategorien, in
»sinus oblongi« und »sinus lati vel hiantes«. Zu
jenen zählte er das Mittelmeer, die Ostsee, das Rote
Meer, den Persischen und den Kalifornischen Meer¬
busen, den Busen von Nanking; zu diesen, also den
Sinus lati, werden gerechnet der Mexikanische und
Bengalische Meerbusen, der von Siam, das Weisse
Meer, der Golf von Carpentaria und die Hudsons-
Bai. Das Niveau nun jener, der sinus oblongi, sei
ein niedrigeres, dasjenige der sinus lati jedoch ein
gleiches, wie das der offenen Oceane. »Quare, ut
haec concludamus, ita statuendum videtur, oceani
partes et sinus latos esse omnes ejusdem altitudinis,
sed sinus oblongos praesertim per angustum fretum
immissos esse aliqüantum humiliores, inprimis in
partibus extremis 2 ).«
Jetzt erst erkennen wir jene oben genannten
Einzelheiten als Glieder einer Kette. Ostsee, Mittel¬
meer, Rotes Meer als sinus oblongi, ja auch das
Weisse Meer, welches doch ein sinus latus, zeigen
Niveaudifferenzen gegenüber den betreffenden Ocea-
nen, ihre Oberflächen sind niedriger, wie die ocea-
nischen. Diese Niveaudifl'erenz veranlasst dann weiter
das Einströmen oceanischen Wassers in die Meer¬
busen, wie das schon weiter oben im besonderen
gesagt ist. Varenius behauptete dieses Einströmen
für alle genannten Meerbusen, obwohl ihm doch
sicherlich im grossen und ganzen die verschiedene
klimatische Natur derselben bekannt war und ob¬
wohl er selbst bei den einzelnen angibt, ob sie zahl¬
reiche und grosse Ströme aufnehmen oder ob das
! ) Vgl. des Verfassers »Die Klassifikation der Meeres-
räuine«, Stettin 1883, S. 6 f.
2 ) A. a. O., S. 136 f., 142.
Digitized by v^oosie
488
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
nicht der Fall sei. Wie sehr Varenius von der
Unselbständigkeit seiner sinus oblongi, von ihrer
Abhängigkeit von den offenen Oceanen überzeugt
war, geht noch des weiteren daraus hervor, dass er
allen die Möglichkeit völligen Verschwindens für
die Zukunft voraussagt, wenn die freie Verbindung
mit dem offenen Ocean verloren ginge: »mare itaque
mediterraneum, Balticum, rubrum, Persicum atque
alia quae sinus oceani sunt, desinent aliquando maria
esse et in terras mutabuntur *)«.
Es erheben sich ganz naturgemäss manche Be¬
denken und Fragen. So vor allem, woher die mit
der Entfernung von dem fretum zunehmende De¬
pression der Oberfläche jener Meerbusen? Wie er¬
hielt sich dieselbe, so dass dauernd ein Zuströmen
oceanischen Wassers stattfinden musste? Wo blieb
dieses einströmende Wasser, noch vermehrt bei einigen
Sinus durch die Zufuhr süssen Wassers zum Teil
zahlreicher und mächtiger Flüsse? Auf alle diese
Fragen erteilt Varenius an den betreffenden Stellen
keine Antwort. Indirekt werden wir vielleicht im
stände sein, solch eine zu finden, wenn wir uns der
von ihm selbst gestellten Frage zuwenden: »cur
oceanus non fit major, cum tot fluvios recipiat?«
Doch soll die Beantwortung derselben erst weiter
unten im Zusammenhänge mit dem Zeugnis anderer
Autoren ihre Erledigung finden.
Auch den verschiedenen Salzgehalt seiner sinus
oblongi berührt Varenius nicht, obwohl er über
die Verteilung desselben in den Oceanen vom all¬
gemeinen Gesichtspunkte aus, so von der Oberfläche
derselben nach der Tiefe zu, von den Polen aus
zum Aequator, zum Teil ganz treffende Bemerkungen
macht 2 ).
Ein Zeitgenosse des Varenius, Libertus
Fromondus, »Collegii Falconis in Academia Lo-
vaniensi Philosophiae Professor primarius«, berührt in
seinen »Meteorologica« unseren Gegenstand. An der
Hand des Petrus Gyllius stellt er die Existenz
des Abflusses der Mäotis und des Pontus zum Mittel¬
meer fest, ohne irgend der nördlich gerichteten Unter¬
strömung zu gedenken. Im Mittelmeer selbst fände
im allgemeinen eine Strömung nach Westen hin
statt; jedoch werde nur ein Teil hinaus in den Ocean
abgeführt, ein anderer dagegen nach Süden zu den
Küsten Afrikas hin, um dann den Kreislauf zu voll¬
enden. Für die dänischen Strassen stellt er sich auf
die Autorität eines dänischen Philosophen und Arztes
B a r t h o 1 i n u s 3 ). Dieser habe festgestellt, dass nicht
bloss ein Einfluss des Oceans in das Baltische Meer,
sondern auch umgekehrt ein Ausfluss des letzteren
in jenes stattfinde. »Nordenwasser« und »Süden¬
wasser« nannten es die dortigen Schiffer. »Id autem
fieri ideo existimat, quia nunc oceanus a septentrione
in meridiem fluminibus Norvegiae, Finmarchiae, Is-
l ) A. a. O., S. 303.
a ) A. a. O., S. 151 — 160.
8 ) Enchirid., üb. IV, cap. 8.
landiae, Gronlandiae etc. maximis et rappidissimis
incitatus Balticum influit; nunc contra Balticum in-
finitis a Germania, Livonia, Lithuania, Osilia, Chur-
landia, Finlandia etc. aquis auctum et intumescens,
postquam aliquamdiu in aequilibrio, sustentato oceani
fluxu, dubium pependit, tandem se superfundit, et
tota mole victor oceanum in alveum suum retro
agit x )«.
Auch Isaak Vossius berührt unseren Gegen¬
stand in seinem vortrefflichen Büchlein »De motu
marium et ventorum«, das wegen so mancher oceano-
graphischer und klimatologischer Erkenntnisse einer
grösseren Beachtung wohl wert wäre, als sie ihm
zu Teil wird. Leider berührt er aber nur unsere
Frage, seine grossen, weiten, den ganzen Erdball
umspannenden Ideen führen ihn sofort hinweg.
Vossius lässt durch die Gibraltar-Enge einen
kleinen Teil der heute so genannten Nordatlanti¬
schen Westwindtrift in die Gibraltar-Strasse eintreten 2 ).
»In littore Mauritano et Numidico fluunt maria ab
occidente in orientem, propter ingressum oceani qui
istic loci fertur soli contrarius. At vero in oppositis
Italiae, Galliae Hispaniaeque litoribus aestus ab
Oriente in Zephyrum feruntur, donec ad fretum
Herculeum oceano occurrunt ubi aliqua sui parte
exeunt. Alia vero parte repulsi ad Mauretaniae et
sequentia litora declinant, donec totum circuitum
oceano impellente perficiant 3 ).«
Ebenfalls wenig an Thatsachen bietet für unsere
Frage Athanasius Kircher. Er konstatiert nur,
dass das Mittelländische Meer sowohl durch den
Bosporus aus dem Schwarzen Meere, wie auch durch
die Strasse von Gibraltar aus dem Ocean Zufluss
erhalte; letzterer sei besonders bedeutend zur Zeit
der Flut: »dum summo in id se impetu exonerat«;
auch nahm er eine Einströmung indischen Wassers
ins Persische Meer an, ob auch eine solche aus der
Nordsee in die Ostsee, ist nicht recht deutlich 1 ).
Nicht viel mehr haben wir in Bezug auf die
Konstatierung der Thatsachen uns zu beschäftigen
mit Joh. Baptista Riccioli. Gestützt auf Ari¬
stoteles, den heiligen Thomas und Albertus
Magnus stellt er fest, dass die Wasser des Schwar¬
zen Meeres sich in das Aegäische Meer ergiessen.
Dieser Strom verstärke eine durch den Nil verur¬
sachte Strömung des Mittelmeeres; beide vereinigt
dringen durch das Fretum Sicilum ins Tyrrhenische
Meer und von hier »per Gaditanum fretum irrum-
pens incidensque in Atlantici aquas versus aequa-
torem fluentes«. Er vergleicht diese Strömung mit
einer in der Waigat-Strasse ebenfalls nach Westen
verlaufenden. Beide gehören zu dem allgemeinen
»motus in longitudinem, seu ab Oriente in occiden-
*) Meteorologicorura libri VI, Lomlini 1656, p. 291—295.
a ) Cf. Berghaus, Physikalischer Atlas, Nr. 22.
3 ) Isaak Vossius, De motu marium et ventorum, Hagac
Comitis 1663, p. 29 f.
4 ) Athanasius Kircher, Mundus subterraneus, Amster¬
dam 1665, fol. 150, 127. 148.
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
489
tem«. Dass Riccioli hier doch gewisse Zweifel
gehabt, geht aus einer anderen Stelle hervor, an der
er die aus dem Altertum ventilierte Frage behandelt,
ob die Gibraltar-Enge entstanden sei durch einen
Durchbruch des Atlantischen Oceans ins Mittelmeer,
oder umgekehrt. Gegen das letztere führt er an,
dann hätte der Ocean ein niedrigeres Niveau haben
müssen, wie das Mittelmeer: »quod est multis dif-
ficile creditu«. »Video tarnen nos laborare in in-
certis« fügt er hinzu. Für die dänischen Sunde be¬
ruft er sich auf das Zeugnis des von ihm liQch
geachteten Varenius: »per fretum Danicum Ocea-
nus Germanicus influit in Balticum«. Dasselbe stellt
er fest bei einer Umfahrt der Küsten, wohl auf
Grund einer italienischen Seekarte 1 ).
Auch seine weitere Bedeutung für unseren Gegen¬
stand werden wir uns noch unten klar zu machen haben.
Gerade aber gegen diese Autorität des Riccioli,
gegen Varenius, wendet sich Johannes Her¬
bin ius. Derselbe stellt fest, dass Varenius sich
hierin gänzlich geirrt habe; in Wirklichkeit verhalte
es sich gerade umgekehrt, ein Strom ergiesse sich
aus dem Baltischen Meer in die Nordsee. Mehrfach
habe er diese Gebiete besucht und mit eigenen Augen
dies wahrgenommen, so dass eine Gegenrede keine
Berechtigung mehr zu beanspruchen habe. Auch habe
er im Dänischen Sunde Eismassen gesehen, welche
von der Strömung hinaus ins offene Meer getrieben
worden. Dass dieser Strom so, wie er ihn erblickt
habe, wirklich verlaufe, hätten schon andere, des
Seewesens kundige Männer behauptet und diese
Thatsache mit als Beweis aufgestellt für eine all¬
gemein in ostwestlicher Richtung stattfindende ocea-
nische Cirkulation. Aus diesem Grunde finde in
der Ostsee auch nicht das Phänomen der Gezeiten
statt. Die Ursache dieser Ausströmung erkannte
Herbinius in der grossen Wasserzufuhr der in die
Ostsee mündenden Flüsse.
Ebenso könne man nicht sprechen von einem
Einströmen des Atlantischen Oceans ins Mittelmeer,
wie einige das thäten. »Sic neque oceanus Atlanticus
per fauces Gaditanas in alveum Mediterraneum in¬
fluit, quem ad modum aliqui volunt.« Letzteres
stände nur unter dem Einflüsse der oceanischen Flut:
»influit ergo oceanus Atlanticus in Mare Mediterraneum
non ultro, neque naturaliter, sed vi aestus immensi
coactus atque impulsus«. Wohl aber finde ein »motus
proprius et naturalis ab Euxino veniens« statt 2 ).
Dagegen lässt Robbe beide Zuflüsse des Mittel¬
meeres, sowohl den gaditanischen als den bospora-
nischen, existieren 3 ).
Bei Joh. Reiske finden wir aber nicht nur
*) Riccioli, Geographia et hydrographia reformata,
Bononiae 1661, fol. 16, 19, 20, 432, 434.
*) Johannes Herbinius, Dissertationes de admirandis
mundi c&taractis supra- et subterraneis, Amstelodami 1678,
p. 58, 107.
*) Methode pour apprendre facilement la ggographie,
2. 6dit., Utrecht 1687.
diese beiden wieder, sondern auch den uns von
Varenius her schon bekannten Strom aus der Nord¬
see in die Ostsee. Wie vielfach sonst, so beruft
sich Reiske auch hier direkt auf Varenius, ob¬
wohl letzterer doch gerade in diesem Punkt eine ge¬
nügende Berichtigung unterdes bereits erfahren hatte *).
Wenn wir so, bis zum Ende des 17. Jahrhunderts
gelangt, das Facit ziehen, so ergibt sich, dass
1. die am frühesten gewonnene Kenntnis der.
Strömung des Schwarzen Meeres durch den Bos¬
porus ins Aegäische nie mehr verloren gegangen
ist, sondern von allen Forschern als vorhanden an¬
erkannt wurde;
2. dass, nachdem ursprünglich, ja bis ins 17. Jahr¬
hundert hinein, gerade die entgegengesetzte Auffassung
geherrscht hatte, die Einströmung des Atlantischen
Oceans durch die Gibraltarenge ins Mittelmeer erst
allmählich an Boden gewann, aber gegen Ende des
17. Jahrhunderts wohl auch als allgemein anerkannt
bezeichnet werden darf;
3. dass über die Strömungen in den dänischen
Sunden noch um die genannte Zeit nichts allgemein
feststand, wenngleich Augenzeugen sich energisch
für eine solche aus der Ostsee in die Nordsee aus¬
gesprochen hatten;
4. dass die, von Prokop von Cäsarea im
6. Jahrhundert und von dem wohl auf ihm beruhen¬
den Petrus Gyllius im 16. Jahrhundert konsta¬
tierte, nach Norden gerichtete Unterströmung im
Bosporus gänzlich dem Bewusstsein der Forscher
entschwunden war.
Wenn wir dann noch die Gründe zusammen¬
zufassen versuchen, welche nach Ansicht der genannten
Autoren diese Oberflächenströme zu bewirken im
stände waren, so finden wir folgende:
1. Bedeutende, unablässige Ablagerung von Sink¬
stoffen, welche durch die zahlreichen grossen Ströme
in Mäotis und Pontus geführt, das Wasser verdrängen
und zum dauernden Abfluss zwingen, sogar für das
Verhältnis des Mittelmeeres zum Atlantischen Ocean
als möglich gedacht. Ueber das Altertum hinaus
ist diese Begründung nicht weiter zu finden. Da¬
neben findet sich schon in derselben Zeit als Grund
angegeben und hält darüber hinaus Bestand
2. Die gewaltige Wasserzufuhr durch zahlreiche
wasserreiche Flüsse, sowohl für den Bosporus, als
für die dänischen Sunde; eine Zeitlang sogar für die
Gibraltar-Enge fälschlich angenommen.
3. Eine allgemeine Niveaudifferenz zwischen den
offenen Oceanen und jenen verhältnismässig weit in
die Kontinente eindringenden Mittelmeeren mit
schmaler Verbindungsstrasse. Woher aber diese
Niveaudifferenz stammt und wie dieselbe dauernd
erhalten wird, hat der Hauptvertreter dieser An¬
schauung, Varenius, nicht aus einander gesetzt.
(Fortsetzung folgt.)
*) PhilippiCluverii introductio in omnem geographiam
veterem aeque ac novam etc., neu ediert von Joh. Reiskius,
WolfFenbuettelae 1694, p. 40, 46.
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Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
490
Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
Von C. Ballod (Jena).
(Fortsetzung.)
Ausserdem ist Dynamit in Brasilien sehr teuer
und schwer erhältlich, wie auch Kärger ausführt, der
jedoch in der Billigung der altgewohnten Arbeits¬
methode der Kolonisten zu weit geht und meint, man
könne getrost alles beim alten lassen, es gebe nichts zu
reformieren *). Wenn Wohltmann sogar die Hand¬
lungsweise der Kolonisten, die die Stämme auf dem
Standorte wo sie gefallen, verfaulen lassen, indem
sie dadurch eine Humusanreicherung des Bodens zu
erzielen hoffen, empfiehlt 2 ), so hat schon H. Semler
darauf hingewiesen, dass ja dadurch die Schädlinge
und das Unkraut ungemein begünstigt werden und
den Kulturpflanzen zu viel Raum entzogen, auch
das Einsetzen des Pfluges zu lange verzögert werde.
Was aber die Anreicherung an Humus anlangt, so
betont ja Wohltmann selbst wiederholt, dass in
tropischen und subtropischen Gegenden mit reich¬
lichem Regenfall der nötige Stickstoff den Pflanzen
aus der Atmosphäre geliefert werde und eine Düngung
mit diesem Stoffe daher kaum nötig sei, ja, dass die
Liebigsche Mineraldüngungstheorie für die Tropen
volle Geltung habe 3 ). Jedenfalls ist es auf ebenem
oder sanft geneigtem Terrain, wo also Pflugarbeit
überhaupt möglich ist, irrationell, so lange zu warten,
bis alle Stümpfe und Stämme verfault sind und in
der Zwischenzeit mit der Hacke zu arbeiten. Da¬
durch wird nicht allein viel Arbeit verursacht, na¬
mentlich beim Behacken des Unkrautes, sondern ein
solcher Boden gibt (abgesehen von der ersten Ernte)
bedeutend geringere Erträge als ein gepflügtes Stück
Land, weil'der Boden eben nicht genügend gelockert
ist, die Luft in ihn nicht eindringen und zur Zer¬
setzung der mineralischen und Humusbestandteile
beitragen kann. Eine Entfernung der Stubben und
Stämme ist übrigens durchaus nicht so unausführ¬
bar wie oft angenommen wird, allerdings kann und
braucht sie auch nicht gleich nach dem Waldschlagen
zu geschehen, wie Semler es fordert, denn im ersten
Jahre liefert die Rossa auch so eine gute Ernte, im
folgenden Jahre kann dagegen schon ein guter Teil
der Stuppen und Stämme, die nun bereits ziemlich
ausgetrocknet sind, verbrannt werden. Allerdings
wird man die Stubben nicht verbrennen können,
wenn man dünne Reiser oder Zweige um sie an¬
häuft und anzündet, wohl aber dann, wenn man
grössere Holzstücke an sie heranwälzt und in Brand
setzt, wenn es gerade längere Zeit trockene Witte¬
rung gegeben hat. Wenn man dann das Feuer sorg¬
fältig anfacht und die halbverbrannten Holzstücke
immer wieder an den Stumpf anhäuft, so wird man
auch dicke Stümpfe ausbrennen oder eigentlich aus¬
glimmen sehen, wie Schreiber dieses es bei tüchtigen
*) Kärger, Brasil. Wirtschaftsbilder, S. 40—44.
2 ) Wohltmann, Tropische Agrikultur, I, S. 172.
*) Ebenda, S. 232. 1
Kolonisten in der Kolonie Gräo Para öfters beobachten
konnte. Die Arbeit, die dabei nötig ist, wiegt doch
kaum mehr, als wenn man an das Niederschlagen
eines neuen Stückes Waldland gehen muss, weil das
alte oft schon nach wenigen Jahren keinen lohnen¬
den Ertrag mehr geben will, das Jäten des Unkrautes
immer schwieriger wird. Man kann auf die ange¬
führte Weise dagegen schon nach 3 —4 Jahren stubben¬
freies Land bekommen; wenn dann auch die Wurzeln
den Pflug behindern, so verfaulen sie doch weit
schneller, wenn der Boden zunächst auch nur ober¬
flächlich mit dem Pfluge gelockert wird. Ueberlässt
man dagegen das Verfaulen der Witterung, so kann
man je nach der Boden- und Waldbeschaffenheit
oft 10—15 Jahre warten; besonders fette Thalgründe,
in denen viele weiche Holzarten Vorkommen, geben
zuweilen auch ohne Zuthun schon in 5—6 Jahren
pflugbares Land. Die liegengebliebenen Stämme kann
man, wenn man für sie keine Verwendung hat,
leichter ausbrennen oder ausglimmen lassen als die
Stubben, nur manche Holzarten, wie die Canellas,
brennen ziemlich schwer.
Einer der wichtigsten Punkte bei der Urbar¬
machung ist die Beschaffenheit des Geländes. Ist
dasselbe zu steil und zerrissen, um es überhaupt
einst pflügen zu können, dann ist es auch eine
höchst überflüssige Mühe, noch die Stubben aus¬
roden zu wollen. In der Mitte von Santa Catharina in
den Kolonien Brusque, Theresiopolis, Izabel, Säo Pedro
d’Alcantara, grösstenteils auch in Blumenau und Gräo
Para wird sicher über die Hälfte von allem Lande
für Pflugkultur überhaupt zu steil sein, auch von
dem übrigen Lande wird sich ein grosser Teil nur
mühsam mit dem Wendepflug bearbeiten lassen und
nur 74 —Vö aller Ländereien wird sich bequem pflug¬
bar machen lassen. Günstiger sind die Verhältnisse
in Donna Francisca, am günstigsten im Süden in
den Kolonien Urussanga, Cressiuma, Nova Venezia,
überhaupt der ganzen Araranguagegend, da kann,
abgesehen von den Sumpfstrecken, die indessen auch
zum Teil zu entwässern sind, fast alles Land oder
doch 80“90 °/o pflugbar gemacht werden. Die
ebenen und sanft geneigten Stellen sind jedoch, ab¬
gesehen von den Alluvialböden der Flüsse, in der
Regel weniger fruchtbar als die steilen Hänge, da
die letzteren meist aus Urgesteinen und deren Ver¬
witterungsprodukten bestehen, die ebenen Stellen da¬
gegen gewöhnlich ältere Sedimentbildungen vor¬
stellen, wodurch denn auch in den meisten Kolonien
gerade die steilen Berghänge mit Vorliebe bearbeitet
werden. Bei den heftigen Regengüssen wird dann
aller Fruchtboden bald thalwärts geschwemmt und
die Hänge verarmen schnell. Die Brasilianer bear¬
beiten übrigens öfters lieber steile Berge als fette
Flussauen, weil das Unkraut auf ihnen nicht so
üppig wuchert wie in den Thalsohlen, wo es, so¬
lange sie noch nicht gepflügt werden können, sehr
schwierig zu bekämpfen ist. Die ersten Ernten
pflegen ja auch auf Bergland kaum geringer zu sein
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Der Staat Santa Catharina in Sudbrasilien.
491
als in den Flussauen, daher es der Brasilianer öfters
vorzieht, frischen Urwald zu schlagen, als abgewirt¬
schaftetes oder in Unkraut ersticktes Land mühsam
zu bearbeiten und zu jäten. Bei der jetzt herrschen¬
den Bodenbenutzungsart wird ein Stück Land so
lange bebaut, als es lohnenden Ertrag gibt; ist das
nicht mehr der Fall, bei Bergland gewöhnlich nach
3—12, höchstens 20 Jahren, wenn der Boden be¬
sonders fruchtbar ist, so wird es 3—5 Jahre liegen
gelassen; es bedeckt sich dann mit einer Busch¬
vegetation, der Capoeira, die schnell emporschiesst,
in dem genannten Zeitraum 3—5 m Höhe erreicht
und aus wertlosem, weichem Holz besteht. Dieses wird
dann abgehauen und verbrannt , darauf dem Boden
noch einige Ernten abgenommen, dann aber ist der¬
selbe auch für längere Zeiträume untauglich zur Her¬
vorbringung von Kulturpflanzen. An der Küste und
auf der Insel Santa Catharina sieht man fast nur
ausgebautes, mit einer schwächlichen Capoeira be¬
decktes Land, die jedoch nicht mehr dicht steht wie
die erste Capoeira, sondern sehr licht, auch wird
der Boden nicht mehr hinreichend beschattet, wo¬
durch er dann viel leichter austrocknet und die
Ameisen ergreifen von ihm Besitz, so dass, selbst
wo man durch starke Düngung solch einen Boden
wieder ertragfähig machen wollte, dies doch der
Ameisen wegen sehr schwierig ist. Auch eine Be¬
waldung mit nützlichen Holzarten dürfte der Nähr¬
stoffarmut des Bodens wegen nicht angehen; ist der
Boden erst durch langes Brachliegen hinreichend
gekräftigt, so stellt sich bei dem gleichmässig ver¬
teilten Regenfall von selbst wieder eine kräftigere
Vegetation ein. — An der Küste, wo die Brasilianer
des Fischfanges wegen dicht ansässig sind, wird
jedoch auch die armseligste Capoeira immer wieder
niedergehauen, um dem Boden noch dürftige Mandioca-
ernten zu entnehmen, bis zuletzt nur noch genüg¬
same Disteln und höchstens verkrüppelte, myrten¬
ähnliche Sträucher fortkommen. Dieses Ausbauen
und Liegenlassen des Bodens wird jedenfalls so lange
fortgesetzt werden, als es noch Wald im Küsten¬
gebiet geben wird — dauernd für die Kultur ge¬
wonnen ist vorläufig nur das weniger steile Gelände,
das gepflügt und gedüngt werden kann — zunächst
indessen wohl nur die fetten Flussauen, die, wenn
auch ausgebaut, doch leichter wieder ertragfähig zu
machen sind. Das steilere, bergige Gelände wird
dagegen, nachdem es ausgebaut ist, wieder verlassen
und zur jämmerlichen Capoeira-Wildnis werden, wie
man es bereits vielfach in älteren Kolonien sieht.
Vielleicht, dass dann einst wieder eine betriebsamere
Bevölkerung durch die Not gedrängt, es unternimmt,
die steilen Berglehnen zu terrassieren, dem Boden
reichliche Mengen an mineralischen Dungstoffen zu¬
zuführen, um ihn wieder kulturfähig zu machen,
die Schädlinge (Ameisen u. s. w.) zu bekämpfen —
günstig für eine derartige sorgfältige Kultivierung
würden die gleichmässig verteilten Niederschläge
wirken.
Die Kulturgewächse.
Als erste Frucht pflegt man in einer frisch ge¬
brannten Rossa Mais zu pflanzen; man stösst dabei
mit einem Stock in je einem Schritte Abstand ein
Loch in den Boden, wirft darauf einige Maiskörner
hinein und scharrt sie mit dem Fusse zu. Da es
im Walde kein Gras gibt, so müssen neue An¬
siedler auch dieses erst pflanzen, es werden dabei
zwischen dem Mais aus einer bestehenden Weide
ausgegrabene Wurzelbüsche der sogenannten Gramma,
einer breitblätterigen Queckenart, gepflanzt.
Wenn der Mais reif geworden und abgenommen
ist, hat diese Grasart den Boden bereits überzogen,
so dass man bald Vieh darauf lassen kann. Es
dauert also unter den günstigsten Umständen 6—8
Monate, mitunter aber 1 ^2 Jahre, ehe ein Kolonist
im Urwalde sich Rindvieh anschaffen kann. Diese
Gramma ist im Winter sehr niedrig, sie überzieht
dann kaum den Boden, liefert also wenig Futter
und verfriert dabei sehr leicht, im Sommer ist sie
bis zu x / 2 m hoch. Sehr nahrhaft ist sie jedenfalls
nicht, worauf schon die geringe Milchergiebigkeit
der Kolonistenkühe hinweist. Dieselben geben im
Durchschnitt kaum 3 —4 1 täglich Milch, obgleich
sie gewöhnlich noch Zufutter bekommen, auch soll
in manchen Kolonien, z. B. Blumenau, die Rinder¬
rasse durch eingeführte holländische Bullen verbessert
worden sein. In dem in der Landwirtschaft bedeu¬
tend weiter fortgeschrittenen Säo Paulo, wird, wie
auch Kärger bemerkt 1 ), diese Gramma larga von
allen Grasarten am niedrigsten geschätzt, viel höher
dagegen andere Grasarten mit feineren, schmalen
Blättern. In Santa Catharina sind diese unbekannt,
nur der Capim, ebenfalls eine sehr üppig wuchernde
Quecke, die jedoch feuchten, fruchtbaren Boden ver¬
langt, wird gerne angepflanzt, da sie von dem Vieh
der Gramma vorgezogen wird, auch wohl nahrhafter
ist. Dass Luzerne und Kleearten nicht gut fort¬
kommen, sondern vom Unkraut erstickt werden,
liegt wohl nicht allein an der Kalkarmut des Bodens 2 ),
sondern wohl auch an dem Mangel an Kali und
Phosphorsäure im Boden, auf gutem Boden soll
wenigstens in Rio Grande do Sul Klee sehr gut
fortkommen. Wenn Stutzer angibt, 2 Morgen
( 1 'j2 ha), mit Gramma bepflanzt, genügen vollkommen
für eine Kuh, 1 */* Morgen für ein Pferd, so dürfte
das nur für fruchtbare Ländereien, vorzugsweise
Auengelände Geltung haben, übrigens ist das durchaus
nicht sehr hoch, und es spricht nicht so sehr für die von
Stutzer gerühmte Nahrhaftigkeit der Gramma, wenn
man damit die norddeutschen und holländischen
Marschweiden und -Wiesen vergleicht und die Milch¬
ergiebigkeit der Kühe in Südbrasilien und anderer¬
seits die in Norddeutschland und Holland in Be¬
tracht zieht.
Die ersten Hütten der Ansiedler und überhaupt
*) Kärger, Brasil. Wirtschaftsskizzen, S. 390.
a ) Kärger, Brasil. Wirtschaftsbilder, S. 126.
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492
Der Staat Santa Catharina in Stidbrasilien.
auch der ärmeren Brasilianer werden hergestellt, in¬
dem man sechs beschlagene Baumstämme als Eck¬
pfosten in die Erde gräbt, sie durch kreuzweise ge¬
legte Palmitenlatten verbindet, die mit Cipos an¬
gebunden werden, darauf die Zwischenräume der
Latten mit Lehm verschmiert; das Dach wird mit
den Blättern einer kleinen Palmitenart, der Uricanna
gedeckt. So eine Hütte sieht freilich nicht sehr an¬
mutig aus, indessen kann man ihr durch Aufträgen
einer Kalkschicht von innen und aussen ein mehr
anheimelndes Aussehen geben, in den kleineren brasi¬
lianischen Städten findet man vielfach nur solche
Häuser, die, wenn sauber gearbeitet, gedielt und
mit Dachziegeln gedeckt von gemauerten Häusern
kaum zu unterscheiden sind.
Mais wird in Santa Catharina vom August bis
zum November gepflanzt, eine Varietät, die übrigens
geringe Erträge gibt, kann sogar noch bis Anfang
Januar gepflanzt werden; die gewöhnliche Pflanz¬
zeit ist aber der September und Oktober; gewöhn¬
lich pflanzt man unmittelbar nach der Maisernte im
Februar noch Bohnen auf dasselbe Feld. Die schwarzen
Bohnen können zweimal im Jahre gepflanzt werden,
im Oktober und im Februar, sie bedürfen nur eines
dreimonatlichen Wachstums, während der Mais eine
4—5 monatliche Vegetationsperiode hat. Ueber die
Erträge begegnet man fast in allen Büchern Angaben,
die geeignet sind, die übertriebensten Vorstellungen
zu erwecken. Es heisst gewöhnlich: der Mais gibt
in Südbrasilien das ioo—300fache, schwarze Bohnen
50—100fache Erträge; damit soll die ausserordent¬
liche Fruchtbarkeit des Bodens erwiesen werden;
fast niemand fällt es dabei ein, die Aussaat pro ge¬
gebene Fläche anzugeben und damit die Erntemengen
zu vergleichen, wodurch man doch allein im stände
ist, ein richtiges Urteil über die Ertragfähigkeit eines
Bodens zu fällen. Und doch besteht in Brasilien
schon seit langer Zeit ein Flächenmaass, die Alqueire,
welches die Fläche bedeutet, auf der eine Alqueire
(40 1 , früher 36 1 ) Mais oder Bohnen ausge¬
pflanzt werden; diese Fläche wird in Säo Paulo
zu jooo Quadrat - Brassen (= 2,4 ha) ange¬
nommen; ein hundertfältiger Ertrag, wie man ihn
in Donna Francisca erzielt, bedeutet also bloss
eine Ernte von kaum 16 hl pro ha, ein der Nähr¬
stoffarmut des dortigen Bodens entsprechender ge¬
ringer Ertrag. H. v. Ihering *) gibt für Rio Grande
do Sul sogar nur eine Aussaat von 8—12 1 pro ha
und 160 faltige Durchschnittserträge an, gleich 12,8 bis
19,2 hl pro ha! Stutzer 2 ) gibt für Blumenau
iSofältige Durchschnittserträge (28,8 hl pro ha) an
Mais und 48 - 80 fähige an Bohnen an, doch dürfte
dies nur für die Auengelände oder aus Urgesteinen
verwitterten Boden in den ersten Jahren stimmen.
Auf dem fetten Alluviallande am unteren Tubaräo
! ) I)r. H. v. Ihering, Rio Grande do Sul, Gera 1885,
S. 120.
2 ) G. Stutzer, Das Itajahythal, Goslar 1887, S. 50.
und Araranguä wurden gewöhnlich 200 faltige Er¬
träge (32 hl pro ha) an Mais erzielt, trotzdem der
Boden keine andere Düngung als das untergepflügte
Unkraut erhalten hatte und dabei seit vierzig und
mehr Jahren in Kultur war; ausnahmsweise wurde
mir sogar von einem Ertrage von 80 hl pro ha auf
frischer Urwaldrossa am Tubaräo erzählt. In den
Kolonien Azambuja und Gräo Para gehen die Durch¬
schnittserträge kaum über das 100—ijofache hinaus.
Von den europäischen Getreidearten, die in
Santa Catharina nur auf dem Hochlande fortkommen,
wird in Säo Bento und nördlicher um Curityba in
Parana fast nur Roggen gebaut*). Die Erträge sind
im allgemeinen 12—15-, höchstens 2ofache; bloss von
einem Landwirt, der stark düngte (55 Fuder Dünger
auf eine Alqueire Land), berichtet Kärger (Brasil.
Wirtschaftsbilder, S. 265), dass er 25 —4ofältige Er¬
träge erzielte, wobei er 4—5 Alqueiren (ä 40 1 )
pro Alqueire Land ausgesäet hatte, also 16—32 hl
pro ha erntete; während die anderen Kolonisten, die
doch ebenfalls düngen, wenn auch weniger stark,
bloss 8 —12 hl pro ha erzielten. Weizen kommt
in dem schwarzen Moorboden des Hochlandes wegen
Nährstoffarmut überhaupt nicht fort, oder wird doch
sehr stark von Rost befallen [was ja übrigens auch
in europäischen Moorböden vorkommt]. Versuche,
die in Parana mit dem Weizenbau gemacht sind,
haben immer fehlgeschlagen, zuletzt noch ein Ver¬
such im Jahre 1886 seitens des damaligen Provinz¬
präsidenten Taunay, der beträchtliche Mengen Saat¬
weizen von verschiedenen Sorten unter die Kolo¬
nisten und Landwirte verteilen liess. Auf den mehr
lehmigen Campos von Lages in Santa Catharina soll
der Weizen fortkommen, die an das Hochland an-
stossenden, hochgelegenen Kolonien Conde d’Eu,
Izabel, Caxias in Rio Grande do Sul bauen ziemlich
viel Weizen, nach Soyaux 2 ) mit 35fältigen Erträgen.
Wenn Sellin gar von i2ofältigen Weizenerträgen a )
auf den Campos des Camacuam in Rio Grande be¬
richtet, wo zu Anfang dieses Jahrhunderts Weizen
gebaut wurde, so muss man sich wieder vergegen¬
wärtigen, dass der Weizen daselbst 4—8mal weniger
dicht als im Norden gesäet oder vielmehr gepflanzt
werden muss, da er sonst zu dicht aufschiessen und
nur Stroh geben würde. Dass der Weizenbau auf
diesen Campos des Camacuam aufgegeben werden
musste, weil häufig Rost auftrat, ist wohl ein Be¬
weis für die schnelle Erschöpfung des Bodens. Im
Küstenlande von Santa Catharina pflanzen die italieni¬
schen Kolonisten von Azambuja und Urussanga all¬
jährlich etwas Weizen, allein er gerät nur alle
3—4 Jahre einmal, wenn die Witterung gerade ver¬
hältnismässig trocken gewesen ist.
*) Die Qualität steigt, wie selbst der sonst so optimistische
Hr. v. Hundt (Santa Catharina, S. 49) zugibt, selten über
deutsches Vogelfutter.
2 ) Deutsche Kolonialzeitung 1887, S. 182.
8 ) Sellin, Das Kaiserreich Brasilien, Leipzig 1885, T. II,
S. 186.
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Geographische Mitteilungen.
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Brot wird im Küstenlande gewöhnlich aus Mais¬
mehl bereitet, da das importierte Weizenmehl den
Kolonisten zu teuer ist und hauptsächlich nur in
den Städten abgesetzt wird. Das Maisbrot ist sehr
trocken und wird leicht hart; um es schmackhafter
und weicher zu machen, versetzt man es mit der
Karawurzel. Die italienischen Kolonisten bereiten
jedoch aus Mais nur ihre gewohnte Polenta und
die Brasilianer kommen mit dem Mandiocamehl aus.
Sonst wird Mais vielfach als Viehfutter, namentlich
zur Mästung der Schweine, des Geflügels verwandt,
da er sich auf diese Weise besser bezahlt macht,
als wenn man ihn direkt verkaufte, wobei öfters an
eine Ausfuhr, der schlechten Wegbeschaffenheit und
hohen Transportkosten wegen kaum zu denken ist;
Speck und Schmalz verträgt dagegen erheblich höhere
Transportkosten. Die in Santa Catharina gezogenen
Schweinearten sind: i. die Macao-Schweine chinesi¬
scher Abstammung, die sehr fett und leicht zu mästen
sind, aber keinen guten Speck und sehr wenig Fleisch
enthalten, 2. die sogenannten ungarischen Schweine,
die sich schlecht mästen, aber ein besseres Fleisch
besitzen. Zur Zucht wird gewöhnlich eine Kreuzungs-
Rasse von den beiden erstgenannten gehalten, doch
nennt Kärger auch diese Kreuzungsrasse, wenig¬
stens in Donna Francisca, infolge fortdauernder In¬
zucht degeneriertes Gesindel, wenigstens im Verhält¬
nis zu den durch Kreuzung mit englischen Schweinen
erzielten Schweinerassen in Säo Paulo. Da Mais¬
fütterung allein zu kostspielig wäre, so wird zu
Futterzwecken die Mandiocawurzel [Manihot utilissima
Pohl] angebaut. Sie ist zweijährig, kann jedoch auf
gutem Boden schon nach einem Jahre benutzt wer¬
den. Da sie einen stark giftigen Saft enthält, der
jedoch nach neueren Untersuchungen nicht, wie ge¬
wöhnlich angegeben wird, Blausäure enthalten soll : ),
so muss das Vieh, sowohl Rinder wie Schweine,
durch progressiv gesteigerte Gaben an sie gewöhnt
werden. Es wird zwar auch eine einjährige, sogenannte
zahme Mandiocaart (Manihot Aipi Pohl), die nicht
giftig ist, angebaut, allein sie gibt bedeutend ge¬
ringere Erträge als die giftige Art und wird daher
vorzugsweise nur als Nahrungsmittel für Menschen
benutzt, statt der Kartoffeln, die namentlich in leh¬
migem Boden nicht sehr gut fortkommen. Ihr Ge¬
schmack, sowie jener der ebenfalls als Kartoffelsur¬
rogat benutzten süssen Bataten erinnert gekocht an
gefrorene Kartoffeln. (Schluss folgt.)
Geographische Mitteilungen.
(Das Sinken des Wasserspiegels im Salzigen
See bei Eisleben.) Seit Beginn dieses Jahres hat sich
der Wasserspiegel des Salzigen Sees bei Eisleben fort¬
dauernd gesenkt. Die Abnahme des Wassers erfolgte
zunächst bis etwa zum 7. Mai in langsamem Tempo,
ging aber dann erheblich schneller vor sich, so dass an
einzelnen Tagen der Spiegel sich um mehr denn 2 cm
*) Export 1887, S. 112.
erniedrigte. Anfang Juli trat endlich wieder nahezu Still¬
stand ein. Der Gesamtbetrag der Senkung beläuft sich
auf 75 cm, was einen Wasserverlust von 6300000 cbm
repräsentiert.
Dieses Sinken des Wasserspiegels im Salzigen See
ist eine um so auffallendere Erscheinung, als gerade
dieser See sich durch die Permanenz seines Niveaus
auszeichnete. Nur ganz unwesentliche Veränderungen
sind aus früheren Zeiten bekannt.
Auch in horizontaler Ausdehnung hat der See eine
erhebliche Verkleinerung erfahren. Besonders ist auf
der Südseite, wo der Untergrund nur sehr sanft geneigt
war, ein bedeutender Streifen alten Seebodens trocken
geworden. Während hier das Wasser stellenweise um
60—70 m zurückgetreten ist, beträgt allerdings an anderen
Stellen, wie z. B. am Nordufer und am Bindersee, die
horizontale Abnahme vielfach noch nicht 10 m. Im
ganzen kann man die Verkleinerung der Seefläche auf
0,7—0,8 qkm schätzen.
Um die Ursache dieser plötzlichen Abnahme des
Sees festzustellen, sind eine Reihe von Untersuchungen
ausgeführt worden, über deren Ergebnis nachstehend
kurz berichtet werden soll.
Zunächst wurde die Menge des oberflächlichen Zu¬
flusses bestimmt. Es zeigte sich, dass nur die Weida,
ein von Süden kommender Bach, in der Wasserführung
noch unverändert geblieben war, dass dagegen alle
anderen Zuflüsse, wie z. B. der Abfluss vom Süssen See,
schon seit Jahren erheblich abgenommen hatten, zum
Teile sogar ganz versiegt waren.
Weiter erstreckte sich die Untersuchung auf eine
Prüfung des Untergrundes. Das Seebecken besass nach
früheren Lotungen zwei trichterförmige Vertiefungen,
die durch Einstürze entstanden sein mussten. Die neuen
Lotungen ergaben nun, dass in der That die eine dieser
Senkungen, die sogenannte »Teufe«, eine Vertiefung
um 24 m erfahren hatte. Statt 18 m maass die Tiefe
nach den Messungen vom 28. Juni 42 m. Seit Anfang
Juli, wo das Wasser nahezu wieder zum Stillstand ge¬
kommen ist, hat die Tiefe sich wahrscheinlich durch
Zuschlämmen wieder vermindert. Am 12. Juli wurden
nur noch 34 m gelotet.
Die Verminderung des oberflächlichen Zuflusses und
die durch den Einsturz in der Teufe bewirkte Erweite¬
rung des Beckens vermögen jedoch die gewaltige Ab¬
nahme des Sees nicht hinreichend zu erklären. Man
muss daher unbedingt die Ursache derselben in unter¬
irdischen Vorgängen suchen. Verschiedene Umstände
deuten zunächst darauf hin, dass dem See auch seine
unterirdischen Zuflüsse entzogen sind. Seit Jahren ver¬
siegen in sämtlichen Ortschaften am See die Brunnen,
und gleichzeitig nimmt der Salzgehalt des Seewassers
ab. Von 0,153 °/o im. Jahre 1887 ist derselbe auf o,ii8°/o
in diesem Jahre zurückgegangen. Auch das Wasser des
Süssen Sees hat an dieser Versüssung teilgenommen.
Indes auch der Betrag dieser unterirdischen Wasser¬
entziehung kann keinesfalls dem gesamten Wasserverlust
von 6300000 cbm gleichkommen. Wir sind daher ge¬
zwungen, als Ursache der Katastrophe eine Absickerung
des Wassers in die Tiefe anzunehmen. Dass hier wäh¬
rend der letzten Jahre gewaltige Veränderungen im
Boden vor sich gegangen sind, beweist einmal das
schnelle Versiegen der Brunnen, sodann aber auch das
Eintreten zahlreicher Erdfälle in der Seeumgebung, wie
im See selbst. Der Vorgang erklärt sich auf Grund
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Litteratur.
dieser Thatsachen wohl am einfachsten dahin, dass hier
dem Boden auf irgend eine Weise — wahrscheinlich
durch den Mansfelder Bergbau — das Wasser entzogen
ist, und dass nun das Wasser des Sees in die unter¬
irdischen Hohlräume absickert. Dass das Sinken des
Seespiegels in Beziehung zum Mansfelder Bergbau steht,
geht deutlich daraus hervor, dass gleichzeitig einige
Schächte bei Eisleben ersoffen sind. Man hat sogar
vielfach an einen direkten Durchbruch des Sees geglaubt.
Allein ein solcher ist sehr unwahrscheinlich wegen des
hohen Salzgehaltes des Schachtwassers (über 13 °/o),
wegen des Fehlens organischer Spuren in diesem, wegen
der Art des Eintretens der Katastrophe und endlich
wegen der Gleichmässigkeit, mit welcher sich das Sinken
des Seespiegels vollzogen hat. (Mitteilung von Dr. Ule
in Halle a. d. S.)
(Die Hungersnot inAbessynien.) Die Römische
Geographische Gesellschaft erhielt und veröffentlichte
vor kurzem Briefe von ihrem Agenten in Aethiopien,
Dr. Leopoldo Traversi, dem Vorstande der italieni¬
schen Station Let-Marefiain Schoa. Das Interessanteste
in denselben sind Einzelheiten über die furchtbare Hungers¬
not, die auf die vor zwei Jahren aufgetretene Rinderpest
gefolgt ist und welche nunmehr die Galla-Länder, Schoa,
Harar und das Danakil-Land ergriff, einen schauerlichen
Gast im Gefolge habend: die asiatische Cholera. Die
Ursache der Hungersnot in Abessynien, Schoa und den
Galla-Gebieten war die schwache Ernte der Durra,
welche knapp vor dem Schnitt durch Regenfall und
Nebel gelitten hatte, so dass die Hälfte der Fechsung
verloren ging. Was das bedeutet in einem Lande ohne
Nutz- und Zugvieh, vermögen nur Kenner afrikanischer
Verhältnisse zu ermessen. Dazu kam, dass die üblichen
Beutezüge (Zemetscha) nach Norden und Osten wegen
der italienischen Okkupation und der mahdistischen Be¬
wegung eingestellt werden mussten, d. h., ausser wenn
sie gegen Südosten in das Harar-Gebiet geführt wurden,
keinen Ertrag abwarfen und so von selbst unterblieben,
als auch Harar und die Galla-Gebiete ruiniert waren.
Noch vor drei bis vier Jahren kosteten über 2 hl Körner¬
frucht 1 Maria-Theresia-Thaler; heute kostet 1 hi Or-
seille 4 — 5 Thaler und 1 hl Tieff (Toa abissinica)
10—11 Thaler. Ein Paar Hühner kostet gegenwärtig
so viel wie ehemals ein Rind. Ehemals bekam man
für 1 Thaler 9 Salze (Amulie), heute 2 —2 1 / z . Die
Soldaten starben wie die Fliegen dahin. »Ad ogni passo,
sotto un muncchio dicenci un mortuo, o un moribundo«,
so, schreibt Traversi, sah es auf den früher so be¬
liebten, ja schwelgerischen Zemetscha aus. Den Sklaven
und Gabarr (Frohn-Bauern) gab man nur halbe Kost¬
rationen bei schwerster Arbeit, und sie wurden eine
Beute der Hyänen und Leoparden, wofern sie sich einzeln
zeigten, sie, die es als letztes Hilfsmittel noch versucht
hatten, sich auf die volkreichen Centren zu werfen, um
zu rauben und so das Leben zu fristen. Sie starben
massenhaft dahin; »e dico giustamente morivano«, fügt
Traversi bei, »perche oggi non e rimasto che chi ha
qualche cosa.« Skelettreihen bezeichnen die Wege nach
dem Galla-Lande, so wie die Leute eben unterwegs
vom Hungertode dahingerafit wurden, wenn sie in der
Hoffnung, Nahrung zu finden, ihre Behausungen ver-
liessen. Die Leichen beerdigte man nicht, und so konnten
das Geschäft der Bergung derselben die sich in schreck¬
licher Weise mehrenden Raubtiere auf grause Art be¬
sorgen. Bei den Itu-Galla schlachtete man die Kinder,
die Danakil von Aussa lebten von Gras und Wurzeln.
Schliesslich machte man auf die früher so sehr ver¬
schmähten wilden Bestien Jagd, freilich ohne sonder¬
lichen Erfolg. »Insomma sono scene,« schreibt Tra¬
versi, »che a descriverle non basterebbero i colori piü
vivaci e chi ebbe la triste Sorte di assistervi, non potra
piü dimenticarle.« (Mitteilung von Prof. Paulitschke
in Wien.)
Litteratur.
Das marokkanische Atlasgebirge. Von P. Schnell.
Ergänzungsheft 103 zu Petermanns Mitteilungen. Gotha,
1892. 119 S. gr. 8°. Mit Karte.
Der üohe Atlas. Von G. Wich mann. Marburg, 1892.
96 S. 8°. Mit Kartenskizze.
Die Erforschung des marokkanischen Atlas hat in der letzten
Zeit so bedeutende Fortschritte gemacht, dass eine zusammen¬
fassende Bearbeitung alles Beobachtungsstoffes zu einem klaren
Gesamtbilde des Gebirges mehr und mehr möglich und wünschens¬
wert erschien. Der Berichterstatter hatte schon vor einer Reihe
von Jahren einen seiner Zuhörer auf diese Aufgabe hingewiesen
und bei dieser Gelegenheit festgestellt, dass auch Prof. H. Wagner
in Göttingen, recht bezeichnend, das Gleiche gethan hatte. Wäh¬
rend aber Herr Schnell, jener Schüler H. Wagners, dem
er auch seine Arbeit gewidmet hat, seine Aufgabe wohl nahezu
acht Jahre mit unermüdlichem Fleisse verfolgt hat, wagte sich
erst ein zweiter meiner Zuhörer, Herr G. Wichmann, ernst¬
lich an dieselbe. Seine Arbeit erschien einige Monate vor der¬
jenigen Sehne 11 s; in überaus dankenswerter Weise hat der
Verein für Erdkunde zu Metz die Drucklegung derselben, zu.
nächst für seine eigene Zeitschrift, übernommen. Dieselbe ist
also nicht wie die von Schnell das Ergebnis vieljähriger Stu¬
dien, sondern entspricht in Bezug auf darauf verwendete Zeit
und Kraft nur dem, was man billig von einer Doktordissertation
fordern kann. Sie eingehend zu beurteilen, kann auch nicht
meine Aufgabe sein, nur das soll als besonders wichtig hervor¬
gehoben werden, dass beide Forscher in Bezug auf ihre Ein¬
teilung des marokkanischen Atlas zu nahezu den gleichen Er¬
gebnissen gelangen. Schnell unterscheidet vier selbständige
Glieder: I. den hohen Atlas, 2. den mittleren Atlas, 3. den Anti-
Atlas und 4. den Dj-Bani; Wichmann, der das ganze Gebirge,
abgesehen von den Rif ketten, die auch Schnell, die Bezeich¬
nung marokkanisches Atlasgebirge somit in beschränktem Sinne
benutzend, von der Betrachtung ausschliesst, hohen Atlas, als
einen Teil des Atlas-Hochlandes, nennt, unterscheidet Dj-Bani,
Anti-Atlas, centralen Hochatlas und nördlichen Hochatlas, letz¬
terer also S c h n e 11 s (und de Foucaulds) mittlerer Atlas.
Als einen Vorzug der Wi chm annsehen Arbeit möchten
wir die klaren, zusammenfassenden Ueberblicke und Charakte¬
ristiken bezeichnen, welche Schnell etwas vermissen lässt, bei
dem andererseits der ausserordentliche Fleiss und die Sorgfalt
im Aufsuchen und Verwerten der Quellen hervorzuheben ist.
Man wird oft an das Rittersche Zeugenverhör erinnert.
Schnell bringt viel mehr Stoff und Einzelheiten wie Wich-
m a n n und will mehr bringen. Er zieht auch die Ebenen von
Marokko nordwestlich vom Gebirge gegen den Ocean hin in
den Bereich seiner Betrachtung, wie auch seine Karte ganz Ma¬
rokko darstellt. Wichmann will sich von vornherein be¬
scheiden und entwirft nur die grossen Züge. Schnell widmet
allein der Litteratur und der Erforschungsgeschichte 19 Seiten,
Wichmann sechs.
Dr. Schnell gibt zunächst einen kurzen Ueberblick über
die Oberflächengestaltung Klein-Afrikas, eine Bezeichnung, deren
er sich allerdings nicht bedient, die aber, unseres Wissens zuerst
von Carl Ritter gebraucht, recht zu empfehlen ist und all¬
gemein eingeführt werden sollte. Er gliedert das Atlas-System
in die marokkanischen Ketten, das Plateau der Schotts und Shachs
und das Sahel oder Littoral. Nach dem heutigen Standpunkte
unserer Kenntnis der orographischen Gliederung und des inneren
Baues von Klein-Afrika scheint uns diese Einteilung die einzig
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Litteratur.
495
richtige zu sein, nur möchte es sich empfehlen, dafür passendere
Namen einzuführen. Für marokkanische Ketten schlagen wir
vor den Namen Hoher Atlas, weil das marokkanische Rtf-
gebirge doch auch aus marokkanischen Ketten besteht und Ketten¬
bildung auch in Algerien vorkommt, während die Vorstellung
grosser Höhe von alters her an dem grossen, vom Verfasser ein¬
gehend betrachteten System von Parallelketten haftet, deren
höchste Punkte auch diejenigen Algeriens um etwa das Doppelte
übertreffen. Das Plateau der Schotts und Shachs nennen wir
das Atlas-Hochland, einmal um den Namen Atlas festzu¬
halten, denn die Vertiefung unserer Kenntnis wird wohl immer
engere orographische und genetische Beziehungen zwischen diesen
beiden Gliedern vorausstellen, dann um, wie schon Ferd. v. Rieht-
hofen empfohlen hat, den Ausdruck Plateau ganz zu beseitigen,
zumal derselbe geologisch hier auch ganz unpassend ist. Studieren
wir doch unseren »Richthofen« etwas mehr; gerade hier liegt
ein Fall vor, für den die Bezeichnung Plateau nicht angewendet
werden darf. Hochland ist eben hier nach Richthofens Be¬
griffsbestimmung und den durch Selbstsehen des Berichterstatters
gewonnenen Vorstellungen die einzig anwendbare Bezeichnung.
Dass die Franzosen gewöhnlich schlechthin von den Hauts-Plateaux
im Gegensätze zum Teil sprechen, ist dafür nicht entscheidend.
Die flachen Salzpfannen des Hochlandes werden im Westen
Schott, im Osten Sebcha genannt, wohl auch Garaa. Man sagt
z. B. ebenso oft Garaa et Tarf und Sebcha et Tarf. Der Unter¬
schied zwischen Schott und Sebcha ist ein verschwindender, rich¬
tiger handelt es sich überhaupt wohl nur um örtliche Bezeich¬
nungen für ein und dieselbe Erscheinung. Beide Ausdrücke zu
benutzen ist also unpassend, wenn schon, so sollte man sie
wenigstens beide in die Mehrzahl setzen, also Schtut und Sbach.
Aber auch die Bezeichnung Hochland der Schotts ist nicht
zu empfehlen, da die Schotts der südatlantischen Depression weit
bekannter sind und demnach leicht Verwechselungen eintreten
können. Noch weniger passend sind die überdies ganz unnötigen
Fremdausdrücke, an denen bei Schnell überhaupt kein Mangel
ist, Saliel oder Littoral, namentlich wenn der Verfasser, wie es
scheint, nur die gebirgigen Teile damit bezeichnen will. Sahel
ist jedes Küstenland, ganz gleich, ob eben oder hügelig. Unter
dem Sahel von Algier versteht man die zunächst westlich von
Algier gelegenen Hügellandschaften und unter dem tunesischen
Sahel das fast ganz ebene Küstengebiet von Sfax bis etwa Susa.
Wir sprechen hier am besten von den kleinafrikanischen
Ktistenketten, die vom Edugh bei Bona, in Marokko nach
Norden umbiegend, sich jenseits der Meerenge in den inneren
archäischen Ketten des andalusischen Faltensystemes bis zum Kap
Palos fortsetzen. Die Zerstückung in einzelne Bergmassen kenn¬
zeichnet dieselben in Klein-Afrika wie in Spanien.
Die grossen Vorzüge der vorliegenden Arbeit beruhen auf
der reichen, fast erschöpfenden Litteraturbenutzung und den fast
zu häufigen Quellen verweisen. Dieselben verleihen derselben
dauernden Wert. Jede künftige Darstellung des Hohen Atlas
wird sich unbedingt auf Schnells Arbeit auf bauen müssen.
Auch sorgsame, gewissenhafte Kritik der Quellen kennzeichnet
das Werk und ruft den Eindruck wissenschaftlicher Zuverlässig¬
keit hervor.
Das ist also ein hohes Lob, welches wir dieser Erstlings¬
arbeit spenden müssen. Die Mängel, die wir auf der anderen
Seite nicht unerwähnt lassen dürfen, fallen demgegenüber wenig
ins Gewicht.
Wenn der Berichterstatter, der doch auch einigermaassen
mit dem Gegenstände vertraut zu sein meint, zunächst nur zwei
Lücken in der Litteraturbenutzung hervorheben kann — Kobelts
malakozoologische Studien sind im allgemeinen Teile nicht ver¬
wertet, ebenso Quedenfeldts Berichtigungen der Namen, mit
denen sich der Verfasser nach seinem sonstigen Verfahren hätte
auseinander setzen müssen — so ist auch das eigentlich ein Lob.
Die Arbeit ist sehr trocken und gerade nicht sehr lesbar, nur vom
streng fachmännischen Gesichtspunkte aus kann sie gewürdigt
werden. Der Verfasser lässt den Leser alle Arbeit mitmachen,
ja er unterlässt es, die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen in
klaren Bildern zusammenzufassen. Man muss, wenn man aus
Schnells Fülle von Einzelangaben sich ein Bild des Hohen
Atlas erwerben will, die ganze geistige Arbeit noch einmal machen,
ein Mangel, welchen selbst der Fachmann empfinden wird. Die
Arbeit erscheint in längeren Abschnitten geradezu als eine in die
grössten Einzelheiten eingehende Topographie; die Herstellung
bzw. Richtigstellung der Karte, auch in Bezug auf die Situation,
tritt völlig in den Vordergrund. Doch soll dies letztere nur
eine Kennzeichnung der Arbeit sein.
Wir vermissen Versuche, die Oberflächengestaltung im ein¬
zelnen aus der Geschichte des Gebirges, seinem geologischen
Aufbau, den klimatischen Verhältnissen u. s. w. zu erklären.
Auch Versuche zu Schätzungen von Kamm- und Gipfelhöhe, die
doch zur Kennzeichnung des Gebirges nötig wären, werden nicht
gemacht, es tritt uns also dasselbe als Verkehrshindernis nicht
klar entgegen. Ebenso fehlen Betrachtungen über Thalbildung,
die das Verständnis für Verkehr und Bewohnbarkeit erschlossen,
vielleicht auch eine Erklärung der Thatsache gegeben hätten,
dass sich die berberische Bevölkerung des Gebirges im wesent¬
lichen zu allen Zeiten unabhängig zu erhalten vermocht hat.
Ferner wäre zur Kennzeichnung des Gebirges eine zusammen¬
hängende Untersuchung über die Frage der ehemaligen Ver¬
gletscherung und der Schneebedeckung, die dürftige Pflanzen¬
decke, den Wasserreichtum unerlässlich gewesen. In dieser Hin¬
sicht wie meteorologisch sind die von so vielen Reisenden er¬
wähnten, plötzlich hereinbrechenden Schneestürme im Hoch¬
gebirge auch im Sommer von Wichtigkeit. Sie erschweren den
Verkehr ausserordentlich.
Dass an manchen Punkten eine vom Verfasser abweichende
Auffassung des Beobachtungsstoffes möglich ist, liegt auf der
Hand, es würde aber zu weit führen, hier darauf einzugehen.
Los cuatro viajes de Cristöbal Colon. Von Otto
Neussei. Madrid, 1892. 21 S. 8°. Mit Karte.
Als Vorbote und zur Kennzeichnung der grossartigen in
Spanien in Vorbereitung begriffenen Columbus-Feier legt uns
O. Neussei, ein seit zwei Jahrzehnten in Madrid wirkender
deutscher Kartograph und Geograph, der schon durch recht
schätzenswerte Arbeiten über Spanien in deutscher Sprache be¬
kannt geworden ist, einen Vortrag in spanischer Sprache vor,
welchen er am 8. März vor der Geographischen Gesellschaft in
Madrid gehalten hat. Derselbe behandelt die viel erörterte
Guanahani-Frage. Die Nach Weisung, welche heutige Insel
Guanahani ist, wird bekanntlich dadurch so erschwert, dass die
Aufmerksamkeit der Entdecker von vornherein nicht von diesen
Koralleninseln gefesselt werden konnte, die kein Gold boten.
Ueberdies wurden diese »nutzlosen Inseln«, wie sie ein könig¬
licher Befehl von 1513 recht bezeichnend nennt, bald nachher
durch gewaltsame Entführung der Einwohner, die sich auf Haiti
und anderwärts »nützlich« machen sollten, ganz entvölkert, und
ihre Namen gerieten in Vergessenheit. Die Engländer, die sich
ihrer 1667 bemächtigten, gaben ihnen daher neue Namen. Der
Verfasser stützt sich bei seinen Untersuchungen auf die Auf¬
zeichnungen des Las Casas, benutzt aber neben dem schon
von Navarrete verwerteten Manuskript noch ein anderes der
Nationalbibliothek zu Madrid. Nach diesen Aufzeichnungen, die,
soweit sie für diese Frage von Wichtigkeit sind, vom 11. Oktober
bis zum 22. November Tag für Tag mitgeteilt werden, und auf
Grund der vom Spanischen Hydrographischen Amte veröffent¬
lichten Seekarten hat der Verfasser seine Karte, auf welcher das
Schwergewicht der ganzen Arbeit ruht, entworfen. Dieselbe,
sauber und in jeder Hinsicht ansprechend, veranschaulicht im
Maasstabe von 1:7500000 in verschiedenen Farben die vier
Reisen des Columbus im amerikanischen Mittelmeere. Ein
Karton gibt ergänzend in I : 60000000 die Reisewege über den
Ocean. Der Verfasser kommt in Uebereinstimmung mit der eng¬
lischen Forschungsexpedition, die zu diesem Zwecke im vorigen
Jahre die Bahamas untersucht hat, zu dem Ergebnis, dass nur
die Watlingsinsel des Columbus Guanahani sein kann. Die
kleine Arbeit wird durch die Karte und die Veröffentlichung
urkundlichen Materiales zur Entdeckungsgeschichte von dauern¬
dem Werte sein und unter den zahlreichen Veröffentlichungen,
welche die Gedenkfeier in den verschiedenen Ländern hervor
rufen wird, einen ehrenvollen Platz einnehraen.
Marburg i. H. Th. Fischer.
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Litteratur.
496
Luigi Hugues, Membro della regia commissione Colombiana.
L’opera scientifica di Cristoforo Colombo. Torino-
Firenze-Roma 1892. Ermanno Loescher. 140 S. kl. 8°.
Prof. Hugues, dessen eifriger Forschungsthätigkeit für
die Geschichte des Entdeckungszeitalters schon so manche wert¬
volle Errungenschaft verdankt wird (vgl. u. a. Nr. 1 dieses Jahr¬
ganges), sucht in diesem Schriftchen die positiven Leistungen
des grossen Seefahrers ins richtige Licht zu stellen. Er verfügt
über eine Belesenheit, die ihm seinen Gegenstand auf das ab¬
seitigste zu beherrschen gestattet, und der deutsche Leser wird
aus den 151 Noten, welche den Text begleiten, insbesondere
mit Vergnügen ersehen, dass die Litteratur unseres Vaterlandes
drüben über den Alpen ebenso bekannt ist wie die irgend eines
anderen Volkes. Hören wir, was der Verfasser für seinen Helden
in die Wagschale zu legen weiss. Er ist der Entdecker der
grossen Aequatorialströmung im Atlantischen Ocean; ihm dankt
man die erste Kenntnis vom Sargasso-Meer; die Lehre vom Erd¬
magnetismus hat durch ihn wichtige Bereicherungen erhalten;
den Charakter der Antillen als Ueberreste einer alten Landbrücke
zwischen Kuba und Südamerika hat er zutreffend aufgefasst; seine
geographischen Ortsbestimmungen können mit denjenigen gleich¬
zeitiger Seefahrer vollkommen konkurrieren; seine theoretische
Konstruktion der Existenz eines grossen Südkontinentes hat sich
bewahrheitet; seine Durchschiffung des Insel-Labyrinthes an der
Südküste Kubas stellt ihm das Zeugnis eines Schiffsführers von
höchster praktischer Tüchtigkeit aus; ohne seine freilich auf
einer unrichtigen geographischen Basis beruhende Hinweisung
auf das Festland im Westen wären die Entdeckungen eines
Balboa, Cortez, Gabotto nicht möglich gewesen; die geo¬
graphische Irrlehre, welcher Columbus allerdings sein ganzes
Leben hindurch nachhing, dass er nämlich den Ostrand von
Afrika erreicht habe, war nach den nun einmal herrschenden
ptolemäischen Doktrinen begreiflich und verzeihlich; von den
grossenteils sagenhaften älteren Entdeckungen des Erdteiles im
Westen war Colon ganz und gar unbeeinflusst, so dass sein
Verdienst durch angebliche Vorläufer dieser Art nicht geschmälert
werden kann; die Beschuldigung, dass es derselbe unterlassen
habe, seine Entdeckungen, zumal gegen Süden, weiter auszu¬
dehnen, kann bei gerechter Abwägung aller Umstände nicht auf¬
recht erhalten werden.
Man ersieht aus unserer allerdings ein wenig freien Um¬
schreibung der Hugues sehen Thesen, dass in der That das
Verdienst des Entdeckers doch in jeder Beziehung ein erhebliches
ist, und wenn vielleicht nationale Begeisterung manche Licht¬
seite mehr in den Vordergrund gerückt, manchen Schatten zu¬
rtickgedrängt hat, so wollen wir uns das gerne gefallen lassen,
erwägend, dass Columbus bei uns in Deutschland vielfach auch
wieder eine zu wenig günstige Beurteilung erfahren musste. Be¬
merkt zu werden verdient, was Herr Hugues über die hart an¬
gegriffenen Polhöhebestimmungen seines Helden anführt; derselbe
beobachtete für gewöhnlich nicht direkt, sondern leitete die
Breiten aus der an der Sanduhr gemessenen Tagesdauer ab, was
ja prinzipiell ganz zulässig ist, notwendig aber zu praktischen
Fehlem führen musste. Die von Gel eich erörterte Möglich¬
keit jedoch, dass Columbus gelegentlich doch auch an einem
Instrumente beobachtet habe, welches Peripheriewinkel und nicht
Centriwinkel abzulesen gestattete (»Seering»), scheint uns auch
nicht vollständig in Abrede gestellt werden zu können.
Jahrbuch der Astronomie und Geophysik (Astro¬
physik, Meteorologie, Physikalische Erdkunde). Herausgegeben
von Dr. Hermann J. Klein. II. Jahrgang 1891. Mit fünf
Tafeln in Lichtdruck und Lithographie, sowie einer Chromo-
tafel. Eduard Heinrich Mayer, Verlagsbuchhandlung, Leipzig
1892. XI und 400 S. gr. 8°.
Das anerkennende Urteil über den ersten Jahrgang dieses
Repertoriums, welches der Unterzeichnete seinerzeit in Peter¬
manns »Geographischen Mitteilungen« abgab, kann er bezüglich
dieser zweiten Lieferung nur wiederholen. Der Herausgeber
versteht es, wie jedermann weiss, sehr gut, aus der Fülle des
ihm zuströmenden Materiales Thatsachen von allgemeinem Inter¬
esse herauszuheben, und so wird das neue »Jahrbuch« bald für
den, der selbständig auf einem einschlägigen Gebiete arbeitet
und sich über die neuesten 1 itterarischen Erscheinungen orien¬
tieren möchte, ein sehr wertvolles Hilfsmittel werden. Auf jene
Vollständigkeit freilich, welche die Petermann sehen Litteratur-
berichte oder gar die leider in geographischen Kreisen zu wenig
bekannten »Fortschritte der Physik« anstreben, muss in einem
Sammelwerke, wie dem vorliegenden, Verzicht geleistet werden,
aber dafür entschädigt reichlich die weit grössere Ausführlichkeit,
mit welcher die wichtigeren Abhandlungen analysiert werden.
Kurz, der Fachmann wird den wertvollen Beistand, welchen ihm
das »Jahrbuch« gegenüber der Gefahr, in der stets höher
steigenden Litteraturflut zu versinken, zu leisten vermag, wohl
zu würdigen wissen.
Im ganzen entfallen in diesem zweiten Bande 122 Seiten
auf die Astrophysik, 278 auf die physikalische Geographie, wo¬
bei jedoch zu beachten ist, dass auch sehr vieles der ersten
Abteilung Angehörige, so die Nachrichten Über die Meteorite
und über Spektroskopie der Himmelskörper, nicht minder für
den Geographen von Bedeutung ist. Die zweite Abteilung stellt
die allgemeinen Eigenschaften der Erde (Grösse, Gestalt, Ver¬
änderungen der Schwere) an die Spitze und schreitet dann zur
Geodynamik vor, wobei wir insbesondere anerkennen müssen,
dass manche an der Grenze stehende Arbeiten von geologischem
Charakter, welche der erste Band noch beiseite liess — Thal¬
bildung, Charakter der Wüstenlandschaft u. s. w. — jetzt auch
Berücksichtigung gefunden haben. Es folgen die Erdtemperatur,
Erdmagnetismus, vulkanisch-seismische Erscheinungen, Strand¬
verschiebungen, Meer, Flüsse, Seen, Gletscher und endlich die
Physik der Atmosphäre, wobei insbesondere den neuesten Unter¬
suchungen über meteorologische Optik sehr gründlich Rechnung
getragen wird. Den Beschluss macht ein Bericht über jene
recenten Klimaschwankungen, welche neuerdings von Brückner
sehr wahrscheinlich gemacht worden sind.
Meyers Reisebücher. Türkei und Griechenland; Untere
Donauländer und Kleinasien. Vierte Auflage. I. Band: Untere
Donauländer und Türkei. Mit 5 Karten, 19 Plänen und
Grundrissen und 1 Panorama. X. 399 S. II. Band: Klein¬
asien und Griechenland. Mit 8 Karten, 16 Plänen und Grund¬
rissen und 2 bildlichen Darstellungen. VIII. 304 S. kl. 8°.
Das höchste Ziel eines Reisehandbuches ist es und muss
es sein, ein den Anforderungen des wissenschaftlichen Geographen
völlig gerecht werdendes Werk darzustellen, ohne an seiner Hand¬
lichkeit und Verlässigkeit für alle die zahllosen prosaischen
Fragen des Wanderlebens einzubüssen. Leicht ist diese Ver¬
einigung gewiss nicht, aber man ist ihr doch von verschiedenen
Seiten sehr nahe gekommen; vergleiche man nur z. B. Bädekers
»Tirol« von heute mit demjenigen von 1854, in welchem die
Bozener Dolomiten als »zweifellos vulkanische Bildungen« hin¬
gestellt werden. Was nun die Meyer sehen Reiseführer anbe¬
langt, so wüssten wir in der That kaum anzugeben, was bei
weiteren Ausgaben noch als wünschenswert bezeichnet zu werden
vermöchte. Die geographischen, historischen, kunstgeschicht¬
lichen Angaben entsprechen durchweg dem modernen Stand¬
punkte unseres Wissens; eine Vermehrung des durchaus anregend
gegebenen scientifischen Stoffes würden wir sogar widerraten,
weil der Durchschnitt unserer Orientfahrer schon das Gebotene
nur selten zu verarbeiten in der Lage sein wird. Dem Bericht¬
erstatter selbst fehlt freilich die persönliche Vertrautheit mit den
Ländern, denen die vorliegenden beiden Bändchen gewidmet
sind, allein es ist ihm durch verschiedene Mitteilungen von
Reisenden bekannt geworden, dass dieselben ihren Führer lieb¬
gewonnen haben und in allen Fällen sich seiner Leitung mit
Vertrauen und nachheriger Befriedigung überliessen. Die nette
Ausstattung, die bequeme Form, die ausgiebige Versorgung mit
Karten und Plänen, wobei wir namentlich auf den von Konstan¬
tinopel in der Paläologenzeit aufmerksam machen möchten, das
alles sind Begleitumstände, durch welche der innere Wert dieser
wackeren Leistung noch erhöht wird. S. Günther.
Verlag der J. G. Cotta’sehen Buchhandlung Nachfolger
in Stuttgart.
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft ebendaselbst.
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DAS AUSLAND
Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde
herausgegeben von
SIEGMUND GÜNTHER.
Jahrgang 65, Nr. 32. Stuttgart, 6. August 1892.
Jährlich 53 Nummern ä 16 Seiten in Quart. Preis pro Manuskripte und Resensionsexemplare von Werken der
Quartal M. 7.— Zu besiehen durch die Buchhandlungen des inkaEöSjjfe einschlägigen Litteratur sind direkt an Professor Dr.SIBQMUND
In* und Auslandes und die Postämter. GÜNTHER in München, Akademiestrasse 5, su senden.
Preis des Inserats auf dem Umschlag ao Pf. für die gespaltene Zeile in Petit.
Inhalt: I. Afrikanische Neuigkeiten. (II. Folge.) (April—Juni.) Von Brix Förster (München). S. 497. — 2. Die
Strömungen in den Meeresstrassen. Ein Beitrag zur Geschichte der Erdkunde. Von Emil Wisotzki (Stettin). (Fortsetzung.)
S. 500. — 3. Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien. Von C. Ballod (Jena). (Schluss.) S. 504. — 4. Geographische Mit¬
teilungen. (Ten Kates Reisen in der Südsee; Aus Borneo; Zur Guanahani-Frage.) S. 510. — 5. Litteratur. (Paulsen; Partsch;
Kärger; Dambach.) S. 511.
Afrikanische Neuigkeiten.
(II. Folge.)
(April—Juni.)*)
Von Brix Förster (München).
Senegambien.
Französische Kriegsberichte leiden immer an
Ueberschwenglichkeit und Ungenauigkeit. Man sollte
ihnen prinzipiell misstrauen. Vor einem Vierteljahr
verkündeten sie mit aller Bestimmtheit, Oberst Hum¬
her t habe Samory am n. Januar aufs Haupt ge¬
schlagen, nachträglich aber stellt sich heraus, dass
Samory keineswegs total besiegt worden, dass er
vielmehr vom 20. Januar bis 14. März in 16 grösseren
und kleineren Gefechten, und zwar immer in der¬
selben Gegend, an den Ufern des Milo, den Fran¬
zosen auf dem Nacken sass, ja dass endlich Oberst
Humbert sich gezwungen sah, angeblich wegen
Beginn der Regenzeit und wegen heftigen Umsich¬
greifens des gelben Fiebers, am 25. April das Feld
zu räumen, von Kankan nach Bafulabe und nach
St. Louis abzumarschieren und also die Operationen
als erfolglos für diesmal zu beenden. Er liess frei¬
lich eine Garnison von 270 Mann in Sanankoro zu¬
rück; aber wie kann diese standhalten gegen Samory,
dem ein Heer von 20000 Mann mit 8000 Hinter¬
ladern zur Verfügung stehen soll? Verstärkungen
herbei zu führen, ist sehr schwierig, denn die grosse
Heeresstrasse vom Senegal zum oberen Niger ist
durch das gelbe Fieber verpestet; den nächsten Weg
aber von Mellacori (Riviöres du Sud) aufwärts scheint
das auf seine Unabhängigkeit eifersüchtige Futa
Dschallon nicht freigeben zu wollen. An dem Miss¬
erfolg der Franzosen sind natürlich die Engländer
schuld, welche von Freetown aus Samory mit
*) Vgl. »Ausland« 1892, Nr. 14, S. 209.
Ausland 189a, Nr. 3a.
Waffen und Munition versorgt haben sollen. Aber
denselben Vorwurf erheben die Engländer gegen die
Franzosen; denn bei Tambi (s. unten) erbeuteten
sie französische Gewehre. Richtig ist nur, dass
Samory geneigt war, unter englisches Protektorat
sich zu stellen, dass aber die britische Regierung
nicht darauf einging.
Auf geographischem Gebiete dagegen kann Frank¬
reich diesmal einen wichtigen Erfolg verzeichnen:
Mo nt eil hat den grossen Nigerbogen von Segu
nach Say durchquert. Anfang 1890 aus Frankreich
abgereist, traf er am 10. Dezember in Segu ein;
von hier aus wandte er sich im Frühjahr 1891 über
Lanfiera nach Süden in das Quellgebiet des Schwarzen
Volta und dann nordwestlich überWagadugu (28. April)
und Libtako nach Say, wo er im Juli ankam. Ende
August setzte er seine Reise über Sokoto (Mitte
Oktober) nach Kano (25. November) fort; von hier
datiert sein erster kurzer Bericht vom 6. Januar 1892.
Er gedenkt über Kuka und den Tsad-See und durch
die Sahara zurückzukehren. Vollkommen unerforschtes
Gebiet hat er zwischen Wagadugu und Say betreten.
Dem flüchtigen Abriss seiner Erlebnisse ist vorläufig
nur zu entnehmen, dass das Land zwischen Muschi
und Say durch Viehseuchen verarmt und trostlos
ist, dass Dore als ein bedeutender Handelsplatz für
den Verkehr von Timbuktu nach dem mittleren Niger
emporblüht, dass dagegen in den Landschaften zwi¬
schen Say und Sokoto zahlreiche Räuberbanden den
Durchzug friedlicher Karawanen zur Unmöglichkeit
machen.
Nach officieller Angabe des Gouvernements in
St. Louis besitzt Senegambien mit den Schutzstaaten
auf Grund der neuesten Berechnungen einen In¬
halt von 140000 qkm, mit einer Bevölkerung von
1 100000 Seelen. Vergleicht man damit die Angaben
bei Wagner und Supan (639000 qkm und 3 161000
Einwohner), so muss man annehmen, dass min-
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Afrikanische Neuigkeiten.
destens Futa Dschallon und die Samory-Staaten bei
jener Berechnung nicht zu denjenigen Schutzstaaten
gezählt worden sind, »qui sont soumises ä l’action
direct du gouvernement« (L’Afr. Franc;., Jan. 1892,
S. 7). — Die Provinz Rivi&res du Sud erhielt neuer¬
dings amtlich die Benennung »Guinee Fran^aise«,
wozu ausserdem Gross-Bassam und die Nieder¬
lassungen am Golf von Benin (Grand Popo und
Porto Nuovo) gehören, jede Gruppe jedoch unter
eigener Verwaltung und mit eigenen Finanzen.
Sierra Leone und Lagos.
Die Engländer haben mit zwei kräftigen Schlägen
den Zutritt zum Hinterland ihrer westafrikanischen
Kolonien sich wieder erobert: am 7. April erstürmten
sie Tarn bi in Sierra Leone und am 21. Mai be¬
setzten sie nach heftigem Kampfe Ode im Lande
der Djebu, nördlich von Lagos. In beiden Fällen
sammelten sie ihre Streitkräfte in kürzester Zeit und
gingen dann mit entscheidender Uebermacht vor,
wesentlich unterstützt durch ein zur Verfügung
stehendes westindisches Regiment. Bei Lagos wurde
das alte Prestige nur zum Teil wieder errungen;
der zweite und schwierigere Teil, die Ueberwindung
der feindseligen Egbas bei Abeokuta, harrt noch der
Erledigung.
Dahome.
Behanzin, der König von Dahome, erklärte
im April d. J. den Franzosen den Krieg, einfach
weil er die steigenden Zolleinkünfte der vertrags-
mässig an Frankreich abgetretenen Hafenplätze Porto
Nuovo, Kotona und Wydah in die eigene Tasche
stecken möchte; bekommt er doch dafür nur die
lumpige Entschädigung von 20000 Francs jährlich!
Seine Armee soll 14000 Mann mit 4000, freilich
sehr geringwertigen, Repetiergewehren zählen. Gegen¬
wärtig hält er bedrohlich die Franzosen in den drei
Küstenorten eingeschlossen; diese, etwas über 1500
Mann stark, stehen seit Ende Juni unter dem Kom¬
mando des Obersten Dodds, welcher in 20 Feld¬
zügen reiche Kriegserfahrung in Senegambien und
Tongking sich erworben, und haben als Rückhalt
eine Anzahl von Kriegsschiffen, denen die Blockade
der Küste übertragen ist. Drei Millionen Francs hat
die französische Kammer für den Krieg bewilligt;
das wird kaum genügen, ebensowenig die geringe
Truppenzahl. Denn wenn es auch gelingt, bis zum
September, der einzigen für Operationen günstigen
Jahreszeit, in strenger Defensive in den Küstenplätzen
sich zu halten, so stehen doch dann dem Vormarsch
durch die von grossen Sümpfen bedeckte Ebene in
einem von Fiebern verpesteten Klima bis zur Er¬
oberung der Hauptstadt Abome ganz ausserordent¬
liche Schwierigkeiten entgegen.
Togo und Kamerun.
Die folgenden Zahlen beweisen das stetige Ge¬
deihen dieser Kolonien.
Togo.
Einnahmen aus
Zöllen
Steuern
Summe
M.
M.
M.
April bis Oktober
1891 .
49000
11 773
(>0773
Oktober 1891 bis April 1892
73 208
12 393
85 601
Etatsjahr 1891/92
122208')
24 166
146 374
1891.
Jan.-April
April-Okt.
Okt.-Jan.
Summe
Der Wert der Einfuhr
betrug in Mark . .
300 000
751 600
702 000
1 753 600
Der Wert der Ausfuhr
betrug in Mark . .
418 000
1 110000 ]
[ 232 000
2 760000
Gesamtwert der Ein-
und Ausfuhr ....
718000
1 862 600 1
[ 934 000
4513600
Kamerun.
1891.
Jan.-Okt. Okt.-Jan. Summe
Der Wert der Einfuhr be¬
trug in Mark . . . 3321000 1226000 4547000
Der Wert der Ausfuhr be¬
trug in Mark . . . 3582000 724000 4306000
Gesamtwert der Ein- und-
Ausfuhr.6903000 1950000 8853000
Die Einnahmen aus Zöllen
und Steuern betrugen in
Mark. 256000 145400 402 ooo 2 ).
In Kamerun waren 1891 1 66 Europäer, dar¬
unter 109 Deutsche, ansässig. Der officielle Bericht
schätzt die Zahl der eingeborenen Bevölkerung des
Kamerunbeckens (Dualla, Bakwiri und Bamboko) auf
65000 Seelen, was mit den Angaben bei Wagner
und Supan nahezu übereinstimmt.
Französisch-Kongo.
Dybowski, beauftragt, Gewissheit über die
Ermordung Crampels 3 ) bei El Kuti sich zu ver¬
schaffen, war am 25. Oktober 1891 von Bangi am
Ubangi aufgebrochen, traf am 22. November in Ya-
banda mit einem Senegalesen, einem der letzten Be¬
gleiter Crampels, zusammen und erhielt die Be¬
stätigung der Todesnachricht, ferner von einem
gefangenen Mohammedaner die Mitteilung, dass El
Kuti unmittelbar benachbart bei Dar Runge liege
(also zwischen 8 und 9 0 n. Br.). Dybowski warf
einige muselmännische Horden über den Haufen,
konnte aber nicht weiter als bis Mpoko Vordringen
wegen Mangels an Lebensmitteln. Am 1. Dezember
entschloss er sich zur Umkehr nach Brazzaville und
Heimfahrt nach Europa; er übertrug Maistre die
Aufgabe, am Kemo, einem Zufluss des Ubangi (nord¬
westlich von Bangi), welcher vorher von Brunache
und Ponel als schiffbarer Strom bis 6° ii' n. Br.
und 19 0 33' ö. L. Gr. erforscht worden war, Sta¬
tionen zu errichten. Wichtig ist die von Dybowski
festgestellte geographische Thatsache, dass sich die
*) Im Etatsjahr 1890/91 betrug die Einnahme aus den
Zöllen 82 948 Mark.
2 ) Im Etatsjahr 1889/90 betrugen sie 200000 Mark.
„ „ 1890/91 „ „ 287000
S ) Vgl. »Ausland« 1892, Nr. 23, S. 363.
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Afrikanische Neuigkeiten.
499
Wasserscheide zwischen dem Bahr Kuta und Ubangi,
also zwischen Schari und Kongo in dem Raum zwischen
Yabanda und Mpoko (6° 50' n. Br. und 20° ö. L. Gr.)
befindet.
Savorgnan de Brazza hat von der Station
Woso aus weitere Fortschritte den Sangha aufwärts
gemacht; er erreichte Anfang Januar 1892 auf dem
für Dampfbarkassen noch immer schiffbaren Flusse
den Ort Bania (4 0 30' n. Br.). Ist sein Vorgehen
auch ein langsames, so hat er doch für weitergehende
Forschungen eine feste Basis errungen, und das wurde
reichlich belohnt, als er am 4. April 1892 seinem
Landsmann M iz o n bei der Insel Comasa (3 0 40' n. Br.)
die rettende Hand bieten konnte. Mizon, im Sep¬
tember 1890 aus Frankreich abgereist, hatte bekannt¬
lich seine Absicht, vom Binüe aus eine politisch¬
merkantile Mission nach Kuka am Tsad-See zu unter¬
nehmen, aufgeben müssen und sich dann rasch ent¬
schlossen im Dezember 1891 von Jola in Adamaua
in südöstlicher Richtung gegen den mittleren Kongo
gewandt. Nur von acht Eingeborenen begleitet,
durchzog er als friedlicher Wanderer eine Wegstrecke
von mindestens 800 km in vier Monaten in einem
grösstenteils unerforschten Land. Von seinen Er¬
lebnissen und Erfahrungen ist noch nichts in die
wissenschaftlichen Zeitschriften übergegangen, nur
die kurze Notiz, dass er die Wasserscheide zwischen
den Zuflüssen des Binüe und denen des Kongo in
der Gegend zwischen dem 6. und 7. 0 n. Br. an¬
getroffen. Die Verträge, welche er unterwegs ab¬
geschlossen, berühren vorläufig die Entwickelung von
Kamerun wenig; denn die einzig für uns schwer
ins Gewicht fallenden, die etwa in Adamaua ver¬
einbart wurden, besitzen keine internationale Gültig¬
keit, da die betreffenden Gebiete westlich vom 15. 0
liegen, also nach dem Abkommen mit Frankreich
in die deutsche Interessensphäre fallen.
Kongo-Staat.
Den finanziellen Schwierigkeiten des Kongo-
Staates, welcher nach der »Times« mit einem Defizit
von über 5^2 Millionen Mark für 1891 abschliesst,
versucht man in dem Budget für 1892 entschiedener
als bisher zu begegnen. Abgaben und Gebühren,
Export- und Importzölle wurden gesteigert. In Ein¬
nahme werden gestellt:
Zuschuss von Belgien .... 1600000 Mark,
„ vom König von Belgien 160400 „
Landverkäufe, Abgaben, Gebühren 1463000 „
Zölle. 562000 „
Summe der Einnahmen 3785400 Mark.
Unter den Ausgaben nimmt die höchste Stelle
jene für die Schutztruppe ein: 1308640 Mark. Der
Verwaltungsapparat kostet 330800 Mark.
Der Wert des Exportes betrug 1891:5 176000 Mk.
Eine wirtschaftliche Besserung der Privatunter¬
nehmungen ist zu erwarten aus der im April erfolgten
Vereinigung der belgischen »Soci£t6 anonyme du Haut
Congo« mit der französischen Firma Daumas und mit
der »Compagnie des caoutchoucs du Kassai« in Brüssel.
Die beiden ersteren hatten sich bisher bekämpft.
Das Kapital der Societ£ bildet die eigentliche
Basis, an dem die anderen durch Bezug von Aktien
beteiligt werden; die Soci£te übernimmt den Trans¬
port der tropischen Produkte vom Ursprungs- oder
Erwerbsort bis nach Europa; die Compagnie du
Kassai koncentriert ihre Thätigkeit ganz auf die
Gewinnung von Kautschuk und Elfenbein im Inneren.
Damit ist der kostspielige Zwischenhandel der Neger
ausgeschlossen; daraus geht auch hervor, in welchem
Umfang die Schiffbarkeit des Kongo und seiner Zu¬
flüsse besteht und thatsächlich ausgebeutet wird; die
Soci£t£ besitzt auf und an diesen Gewässern 12 Dampfer
und 30 Stationen.
Die grosse Katanga-Expedition Le Marineis,
welche am 23. Dezember 1890 Lusambo, an der
Mündung des Lubi in den Sankurru (5 0 s. Br.),
verliess, am 10. April 1891 Mukurru, die Residenz
Msiris, erreichte, am n. Juni den Rückmarsch an¬
trat und am n. August 1891 wieder in Lusambo
eintraf, bereichert unsere geographischen Kenntnisse
mit folgenden Einzelheiten: Das Land der Kalunde
am oberen Sankurru ist stark bevölkert und ausge¬
zeichnet kultiviert; der Luembe fliesst unter 6° 30's. Br.
in den Sankurru, und nicht in den Lomami; die
Quellen dieses Flusses (Lomami-Lubilasch) liegen
1140 m ü. d. M. bei 8° 45" s. Br. und 24 0 55' ö. L. Gr.,
seine ganze Länge beträgt daher 1200 km; die links¬
seitigen Zuflüsse des oberen Lualaba, darunter der
Lubidi (nicht Luburi), befinden sich östlich vom
25. 0 ö. L.; die Bergkette zwischen Lualaba und
Lufira, südlich vom Upämba-See, erhebt sich bis zu
1300 und 1650 m; das Jahr in Katanga zerfällt in
eine Regenzeit (Oktober bis März) und Trockenzeit
(April-September); das Klima ist sehr gesund und
wegen der starken nächtlichen Abkühlungen erträg¬
lich; Wild und namentlich Elefanten gibt es in zahl¬
reichen Herden; massenhaft kommt aber auch die
Tsetsefliege vor, so dass Viehzucht unmöglich ist;
das ausserordentlich fruchtbare Land wird von einer
spärlichen, doch kräftigen und intelligenten Bevölke¬
rung fleissig bebaut; nur Msiri war bisher die Geissei
der eigenen Unterthanen; er trieb Sklavenhandel im
grossen nach Bihe und nach Osten an die Araber. Sein
im Anfang 1892 erfolgter gewaltsamer (?)Tod wird die
kulturelle Ausbeutung Katangas wesentlich erleichtern.
Auch Stairs’ Katanga-Expedition erreichte ihr
Ziel, indem sie, im Mai 1891 von Bagamoyo aus¬
gegangen, Ende November d. J. in der Residenz
Msiris eintraf und dort eine Station errichtete. Aber
auf dem Rückweg starb nicht nur Kapitän Bodson,
sondern auch Stairs selbst (im Juni 1892 an der
Chinde-Mündung des Zambesi), so dass Marquis
de Beauchamp und Dr. Moleney als die einzig
Ueberlebenden nach Sansibar zurückkehrten.
(Schluss folgt.)
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
500
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
Ein Beitrag zur Geschichte der Erdkunde.
Von Emil Wisotzki (Stettin).
(Fortsetzung.)
Eine höchst wichtige Frage drängt nun zur
Erörterung, nämlich die Frage nach dem Verbleib
der zum Teil gewaltigen Wassermassen, die von den
Flüssen in die Meere hineingeführt werden: »ne
terrae copia aquarum affluentium obruerentur«. Viel¬
fach ist dieser Gegenstand erörtert worden. Für das
Schwarze Meer war der Verbleib ja ganz klar; auch
für die Ostsee, wenigstens für diejenigen Forscher,
welche eine kräftige Ausströmung in das offene Meer
annahmen.
Was das Mittelmeer betrifft, so konnte man sich
darüber beruhigen, so lange auch hier ein vermeint¬
licher, in den Ocean austretender Oberflächenstrom
existierte. Gerhard Johannes Vossius erkannte,
wie wir schon oben bemerkten, hierin geradezu einen
Beweis göttlicher Weisheit, eine Ansicht, zu der er
sicherlich nicht allein kam durch den ausgesprochenen
Zweck seines Werkes, die böse Welt hier zu Gott
zu führen. Andere dachten gewiss ebenso wie er.
Als man sich aber in dieser Annahme getäuscht
sah, als man vielmehr die Existenz einer oceanischen
Einströmung anerkennen musste, was sehr schwer
fiel, da war guter Rat teuer, die Situation hatte sich
wesentlich verschlimmert. Man griff auf Vorstellungen
des Altertums und des Mittelalters zurück, die übri¬
gens sich stets behauptet hatten, und konnte beruhigt
weiter schlafen.
Es tritt an uns somit die Aufgabe heran, zu
untersuchen, welcher Art denn diese Vorstellungen
gewesen.
Nachdem schon der unvergessliche Oskar
Peschei vorangegangen, hat dann Karl Neumann
darauf hingewiesen, dass Griechenlands Karstphäno¬
mene eingewirkt haben auf gewisse geographische
Anschauungen des Altertums. Er sagt: »Wir müssen
uns vergegenwärtigen, wie ungemein häufig und
wie auffallend das Phänomen aufgesogener und unter¬
irdisch fortlaufender Flüsse den Griechen sich darbot,
um zu begreifen, dass sie über den unterirdischen
Zusammenhang von Flüssen nicht selten Vermutungen
aufstellten, über deren ausschweifende Kühnheit wir
lächeln. Gewisse Uebereinstimmungen in der natür¬
lichen Beschaffenheit oder den Namen, in den Kulten
der Anwohner genügten ihnen, weit von einander
entfernte Flüsse für identisch zu halten und sie durch
einen hypothetischen Lauf unter ausgedehnten Län¬
dern, ja sogar unter Meeren in Verbindung zu setzen«.
Karl Neumann fügt eine Reihe von Beispielen
hinzu und schliesst: »Ganz unbedenklich griff man
bei fern an den Grenzen des Wissenshorizontes lie¬
genden Gewässern, wie beim Schwarzen Meere und
dem Kaspi-See, zur Annahme unterirdischer Kom¬
munikationen 1 ). Das sind Vorstellungen, vor deren
*) Aristoteles, Meteor., I, 13, 29.
Abenteuerlichkeit wir erschrecken müssten, wenn wir
uns nicht daran erinnerten, dass die Griechen ähn¬
liche Phänomene in einem kleinen Maasstab zahlreich
vor Augen hatten, und sie deshalb auch in grösserem
für möglich hielten *).« Diese Theorie ist auf das
Mittelalter übergegangen, von demselben in seiner
Weise ausgebildet,bzw.erweitert. KonradKretsch-
mer hat in seiner trefflichen Schrift über die physische
Erdkunde im christlichen Mittelalter auch diesem
Gegenstände seine lebhafte Aufmerksamkeit zuge¬
wendet. Er weist die Abhängigkeit des Mittelalters
hierin vom Altertum nach, zeigt aber auch gleich¬
zeitig, welchen Einfluss darauf die Stelle in der
Heiligen Schrift (Genesis I, 10): »Und diese Samm¬
lung der Wasser nannte er Meere« gehabt habe,
wie auch die Wirkung des Satzes beim Prediger
Salomo (I, 7), wo es heisst: »Alle Wasser laufen
ins Meer, noch wird das Meer nicht voller, an den
Ort, da sie herfliessen, fliessen sie wieder hin«.
Kretschmer belehrt uns, dass das Mittelalter
als verbindende Glieder zwischen Meer und Quelle,
als gemeinsame Ursache dafür, dass das Meer, welches
alltäglich durch eine Unzahl von Flüssen gespeist
wird, dennoch nicht überfliesst, folgende Lehr¬
meinungen aufgestellt:
1. dass die Süsswasserbestandteile zum Teil von
der Sonnenhitze aufgesogen,
2. zum Teil durch die eigenartige Wirksam¬
keit des Salzes in nichts aufgelöst werden,
3. dass ein Teil des Meerwassers in die Erde
sickert und infolge der Durchseihung durch das Erd¬
reich ausgesüsst zu den Quellen zurückgelangt, von
denen es einst ausgegangen.
Die letzte dieser drei Vorstellungen interessiert
uns hier besonders. Kretschmer zeigt nun in Be¬
zug auf sie, dass dieselbe zu einem komplizierten
und weit verzweigten System ausgebildet worden.
»Das Vorhandensein subterraner Wasserverbindungen,
welche an verschiedenen Orten richtig beobachtet
wurden, fand schliesslich eine allzu ausgebreitete
Anwendung, indem nicht nur alle Meere, Seen,
Sümpfe u. s. w. in stetiger unterirdischer Verbindung
mit einander stehen sollten, sondern sogar die ge¬
samte Festlandsmasse wurde als von Wasseradern
durchzogen gedacht, die bald als breite Kanäle,
bald nur als feinste Kapillarspalten das feuchte Ele¬
ment dem Erdreich zuführen, wodurch dieses einem
mit Wasser vollgesogenen Schwamme vergleichbar
wurde«. Nicht verwundern dürfen wir uns deshalb,
bei mittelalterlichen Schriftstellern, wie z. B. bei
Albertus Magnus, die Vorstellung grosser, unter¬
irdischer, wassererfüllter Hohlräume zu finden: »sub
montibus et locis altis sunt vastae concavitates the¬
sauros et copias habentes plurimarum aquarum« 2 ).
Diese Anschauung hat sich, wie wir noch sehen
*) Physikalische Geographie von Griechenland von Neu-
mann-Partsch, Breslau 1885, S. 254 f.
2 ) Pencks geographische Abhandlungen, Wien 1889, IV,
1, S. 78 und folg.
D igitized b
Google
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
werden, erhalten während des 16., 17. Jahrhunderts,
ja bis in die Mitte des 18.
Man endet das geographische Mittelalter mit
dem Anfänge des 15. Jahrhunderts. Mit Recht hat
noch in diesen Tagen der Meister auf dem Gebiete
der Geschichte der Erdkunde, Sophus Rüge, sich
hierfür gegenüber Hugues ausgesprochen, der erst
den Ausgang desselben dafür gelten lassen wollte.
Ich kann mich den Gründen, die Rüge dafür bei¬
bringt, nicht verschliessen; dafür sprächen das Wieder¬
bekanntwerden des Ptolemäus und der Anfang
planvoller systematischer Entdeckungsreisen unter
der Leitung Heinrichs des Seefahrers. Aber wenn
das auch der Fall, so ist damit der mittelalterliche
Geist aus der Geographie noch lange nicht ge¬
bannt. Denn wie auf politischem, findet auch auf
wissenschaftlichem Gebiet nur ein allmähliches Los¬
ringen von früheren Zuständen und Anschauungen
statt. Das Charakteristikum des Mittelalters ist die
Gebundenheit, die Abhängigkeit von der Autorität
des Altertums und der Heiligen Schrift. Wenn nun
auch diese Autorität mit dem Anfänge des 15. Jahr¬
hunderts manche Einbusse zu erleiden beginnt, so
ist sie doch in dieser Zeit durchaus nicht vernichtet
worden. Sie herrscht noch das ganze 15., 16., ja
bis tief ins 17. Jahrhundert hinein. Noch im 18. Jahr¬
hundert sind einzelne Spuren zu finden. Selbst die
geistreichsten Männer bleiben unter dem Joch des
geschriebenen Buchstabens; die Bücher stehen zwischen
den Menschen und der Natur und machen diese un¬
sichtbar. Man sucht auch die Erfahrungskenntnisse
nur in Büchern. Man schrieb Geographien, die eine
erstaunliche Büchergelehrsamkeit darthun, grössten¬
teils nur aus alten und mittelalterlichen Citaten be¬
stehen, die als beweiskräftige Autoritäten ins Feld
geführt werden. Dabei ist selbstverständlich nicht
zu leugnen, dass einzelne Anfänge der erwachenden
geistigen Unabhängigkeit sich schon hier und da
früh zeigen, aber das sind nur vereinzelte Blitze.
Das erwachte Leben geht gleich wieder unter, er¬
drückt durch die alte gewohnte Art, die eigene
Meinung auf Grund wirklicher Naturbeobachtung
(wenn diese überhaupt stattfand) der Buchstaben¬
überlieferung unterzuordnen. Erst im 17. Jahrhundert
tritt die Befreiung von der Autorität, die Unabhängig¬
keit des Geistes von der Ueberlieferung allgemeiner
hervor. Anstatt z. B. Aristoteles zu citieren, be¬
nutzte man eigene Erfahrung und Beobachtung. Es
trat eine Scheidewand gegen die Büchergelehrsam¬
keit ein, man verschmäht sie und will ausschliess¬
lich mit eigenen Augen sehen. Graf Marsigli z. B.
weist Bücher als Quellen geradezu zurück, er ver¬
langt nur eigene Beobachtung. Ja man könnte fast
behaupten, dass erst das Zeitalter der Aufklärung
das letzte Brett des Zaunes abgebrochen hat, hinter
welchem sich der mittelalterliche Geist verschanzt
hatte 1 ). Das Zeitalter der Aufklärung bedeutet auch
*) Man vergleiche B. G. Niehuhrs Geschichte des Zeit
Ausland 1892, Nr. 32.
501
für die Geographie die definitive Auflösung des mittel¬
alterlichen Geistes.
Der Slowene Popowitsch hat in seinen Unter¬
suchungen vom Meere 1750 geradezu mit Rücksicht
auf das Zeitalter der Aufklärung, in dem man sich
befände, dazu aufgefordert, sich nun endlich mittel¬
alterlichen Träumereien ganz zu entschlagen und der
vernünftigen Naturbetrachtung sich zuzuwenden.
Viele Erscheinungen in der Entwickelung der
Geographie dürften, wie ich auf Grund langjähriger
Arbeiten auf dem Gebiete der Geschichte unserer
Wissenschaft glaube behaupten zu können, geeignet
sein, das oben Gesagte zu illustrieren. In seiner
ganzen Wahrheit tritt es uns auch entgegen bei dem
uns hier beschäftigenden Gegenstände, der Lehre von
den Strömungen in den Meeresstrassen. Wie schon
oben bemerkt, erhielt sich die Vorstellung des Alter¬
tums und des Mittelalters über die unterirdische Ver¬
bindung der Meere unter einander und zwischen
Meer und Quelle, sowie auch die Annahme grosser
unterirdischer, wassererfüllter Hohl räume während
des 16., 17. Jahrhunderts, ja bis ins 18. hinein, um
einerseits bei gewissen Meeresbecken den sich da¬
selbst trotz des Zuflusses wasserreicher Ströme fin¬
denden Salzgehalt und andererseits den Umstand zu
erklären, dass trotz desselben Grundes keine Ueber-
flutung herumliegender Landesteile stattfinde.
Wir können hier nur einige Beispiele anführen.
Dass Lionardo da Vinci das Kaspische Meer
und den Pontus unterirdisch verband, ist schon weiter
oben berührt worden.
Petrus Gyllius erklärte die ihm durch Fischer
bekannt gewordene Thatsache einer Unterströmung
im Bosporus durch die Annahme, dass sich daselbst
befänden »quosdam abyssos et voragines, in quarum
altitudinem contrariis fluctibus praecipitia agantur,
eaque demergantur« *).
Konrad Vorst lässt das Wasser des Oceans, als
des »promptuarii omnis humiditatis«, zu den Quellen
»per varios et sinuosos terrae aufractus« gelangen 2 ).
Giovanno Botero, den wir noch weiter unten
vorteilhaft kennen lernen werden, glaubt unserer
Frage begegnen zu können mit dem Hinweis: »Gott
habe dem Wasser tausend Wege geöffnet, uns un¬
bekannt, durch welche es ohne Gewalt sich zu den
Spitzen der Berge erhebe« 3 ).
Der bereits citierte Paulus Merula nennt als
Gründe für eine nicht eintretende Ueberflutung fol¬
gendes :
1. die Grösse des Oceans sei so kolossal, dass
das durch Flüsse zugeführte Wasser dagegen gänz¬
lich verschwinde,
2. das bittersalzige oceanische Wasser verzehre
das süsse Wasser,
alters der Revolution, I, Hamburg 1845, S. 43 und folg. Ein¬
zelne der oben genannten Sätze sind direkt hieraus genommen.
1 ) A. a. O., Fol. 3114.
2 ) Theses physicae etc., Herbornae 1591, § 65.
3 ) Le Relationi del Mare etc., Venet. 1599, p. 247.
64
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
3. die Wolken zögen einen grossen Teil des
Wassers an sich,
4. teils führten die Winde es weg, teils ver¬
dunste es durch die Sonnen wärme,
5. durch unterirdische, verborgene Kanäle ge¬
lange das Meerwasser, auf seinem Wege ausgesüsst,
wieder zu den Quellen.
Aber von diesen fünf bisher, wie er bemerkt,
angegebenen Gründen setzt er in praxi nur den letzten
in Wirksamkeit. Er weiss mit dem durch Wolga
u. s. w. dem Kaspischen Meer zugeführten Wasser
nichts anderes anzufangen, als es durch unterirdische
Kanäle zum Pontus abzuführen. »Quae igitur la-
buntur in Caspium voragine quadam subterranea
ex illis carceribus recipiuntur in Pontum«. Jedoch
wollen wir nicht verschweigen, dass er den Träume¬
reien eines am Nordpol befindlichen Schlundes, zu
welchem in vier Kanälen die oceanischen Wasser
abgeführt würden, um wieder in den Quellen ihre
Auferstehung zu feiern, gänzlich fern steht; ja er
giesst über diese die ganze Schale seines Spottes
aus *).
Wenn Gerhard Johann Vossius im Jahre 1641
noch in einem Abfluss der überschüssigen Mittel¬
meergewässer zum Ocean die Rettung der Mittel¬
meerländer infolge göttlicher Weisheit erblicken
konnte, so war John Greaves 1646 hierzu nicht
mehr imstande. Er hatte mit eigenen Augen die
Zuströmungen sowohl aus dem Pontus wie aus dem
Ocean durch die Gibraltar-Enge beobachtet. Deshalb
gab’s für ihn nur einen Ausweg: »wherefore I ima-
gine it to be no absurdity in philosophy to say that
the earth is tubulous, and that there is a large pas-
sage under ground from one sea to another«. An¬
derenfalls müsste ja auch das Kaspische Meer über¬
fluten und schon längst ausgesüsst sein. Greaves
glaubt seine Spekulation stützen zu können durch
die Bemerkung, er habe im Mittelmeer bei einer
Messung noch in 1045 Faden keinen Grund ge¬
funden 2 ).
Sein Zeitgenosse Georges Fournier erklärt
es für eines der grössten Wunder, dass das Kaspische
Meer trotz so reicher Wasserzufuhr nicht wachse
und über seine Ufer trete. Aristoteles habe dies
schon bemerkt und deshalb einen grossen unter¬
irdischen Kanal nach dem Schwarzen Meere hin an¬
genommen. Dasselbe aber sei auch der Fall mit an¬
deren Meeren, überhaupt mit allen »mers int£rieures«.
So erhalte auch das Mittelmeer nicht nur grossen
Zuwachs durch zahlreiche Flüsse, sondern auch von
Seiten des Schwarzen Meeres. Ja auch der Ocean
l ) Cosmographia generalis, 1605, p. 137, 141, 165 und
folg. Uebrigens findet sich dieser nordpolare Schlund nicht erst
bei dem von Merula citierten englischen Minoriten aus Oxford,
sondern schon Adam von Bremen bemerkt (Hamburgische
Kirchengeschichte, IV, 39), dass der Erzbischof Adalbert darüber
genaueren Bericht erhalten habe.
a ) Pynunidographia etc., London 1646, in a Collection of
voyages etc., London 1752, p. 644 folg.
sende in dasselbe mehr Wasser hinein, als er von
dorther zurück erhalte. Wenn man ausserdem be¬
denke, dass, wie ältere Geographen behaupten, einst
ein Spanien und Afrika verbindender Isthmus vor¬
handen gewesen, so könne es keinem Zweifel unter¬
liegen, »que dans cette mer il y a quelques canaux
souterrains, par lesquels cette mer se decharge soit
dans la Mer Rouge, soit par quantit£ de prodigieuses
sources que nous remarquons en divers lieux de
PAfrique et de PEurope«. Dasselbe sei auch der
Fall z. B. mit der Ostsee, denn anderenfalls müsste
ja der Ausfluss durch die Sunde zur Nordsee mit
mindestens derselben Schnelligkeit erfolgen, wie die
Strömung in Flüssen, gegen welche die Schiffe nur
schwer ankämpften. Uebrigens seien auch schon
ältere Schriftsteller seiner Ansicht gewesen.
Dass dieser Grund der richtige, gehe auch weiter
noch daraus hervor, dass diese »mers interieures«
ohne Gezeiten wären, deren wichtigste Ursache sei
»le bouillonnement que la lune cause dans la mer«.
Fournier versucht die Erscheinung plausibel zu
machen durch den Vergleich eines Mittelmeeres mit
einem beständig über Feuer stehenden Topf Wasser
oder Milch; »s’il y avait au fond quelque canal, par
lequel Peau 011 le laict se peut escouler, bien que
vous y versassiez continuellement autant qu’il en
sortirait par en bas, ce bassin toute fois, quoy que
demeurant sur le feu continuellement, ne se rem-
plirait jamais, et ne s'esleuerait en bouillons, tant
parce que la froideur nouvelle occuperait le feu, et
que le poids de Peau tombante en bas pour s’ecouler,
rabaterait les vapeurs qui voudraient s’esseuer pour
le fair gonfler«. Wenn man ihn fragen würde, wo
denn dergleichen »abysmes« seien, so antworte er:
1. sie seien notwendig, müssten also auch sein,
2. sie befänden sich an so tiefen Stellen, dass
sie an der Oberfläche nicht bemerkbar,
3. einige thatsächliche Beispiele könne man leicht
nennen.
Wir übergehen dieselben, bemerken nur noch,
dass er sonderbarerweise bei dem Mittelmeer nicht
die Verdunstung zur Erklärung heranzieht, obwohl
er doch äquatorwärts gerichtete Meeresströmungen
durch eine Niveaudiff'erenz erklärt, entstanden einer¬
seits durch starke äquatoriale Verdunstung, anderer¬
seits durch kräftige polare Niederschläge. Wir fügen
zu seiner weiteren Ehrenrettung hinzu, dass er hier¬
bei von polaren Erdschlünden nichts wissen will:
»que les ignorans feignent estre en ces quartiers« *).
Wir wenden uns zu Varenius. Derselbe hat
an verschiedenen Stellen seines Werkes Stellung zu
unserem Gegenstände genommen, so bei der Be¬
handlung der Tiefe der Meere. Nirgends sei die¬
selbe unendlich, wenn er auch durchaus nicht leugnen
wolle »in profundis alveis quasdam quasi voragines
vel alios subterraneos meatus esse«. An einer an¬
deren Stelle heisst es, das Wasser, welches die Quellen
l ) Georges Fournier, Hydrographie etc., 338—355, 362.
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I.)ic Strömungen in den Meeresst l assen.
503
beständig ins Meer sendeten, müsste notwendiger¬
weise zu ihnen zurückkehren, entweder »per sub-
terraneos meatus« oder auf andere Weise. Nichts
hindere die Annahme mehrerer solcher unterirdischer
Kanäle. Aber er fügt weiter kritisch hinzu: »etsi
admittamus meatus illos subterraneos, tarnen non
ideo concedendum quoque est quod ad aliam alvei
oceani partem progrediantur sive in eam exeant«.
Zur Hälfte jedoch zieht er diesen Satz zurück, in¬
dem er sofort wieder die Möglichkeit zugesteht. Er
beantwortet deshalb die Frage, weshalb der Ocean
trotz so starken Zuflusses nicht grösser werde, nicht
bloss mit der Verdunstung, sondern auch mit unter¬
irdischen Gängen, durch welche das Wasser aus dem
Ocean zu den Quellen zurückkehre*). Die Ver¬
dunstung ist ihm in keiner Weise hinreichend, um
der Zufuhr durch die Flüsse auch nur annähernd
das Gleichgewicht zu halten. Wollte man leugnen,
»occulto itinere maris aquam subire terras et in
transitu in sinceram aquam transire«, so »ne cogi-
tari quidem posse, quomodo mare non augeatur in
immensum« 2 ). Es Hessen sich noch viele derartige
Beispiele anführen, als Beweis dafür, dass Varenius
unterirdischen Kanälen nicht ganz abhold gewesen 3 ).
Der ebenfalls schon weiter oben genannte Li-
bertus Fromondus widmet das fünfte Buchseiner
»Meteorologica« den Erscheinungen der Wasserwelt.
Er unterscheidet sofort Wasser, welches unterirdisch
verborgen ist, und oberflächliches. Jenes laufe dahin
in verborgenen Gängen oder ruhe in grossen Hohl¬
räumen. Die Heilige Schrift und Plato sind ihm
hierfür Gewährsmänner. Auch ihm bedeuten diese
unterirdischen Kanäle Vorkehrungen gegen die Ge¬
fahr oceanischer Ueberfüllung. Dass er aber auch
der Verdunstung ihren Anteil hierbei zuerkennt,
dürfte daraus ersichtlich sein, dass nach ihm die
Wassermassen der Flüsse doch wesentlich atmosphä¬
rischen Ursprungs sind 4 ).
Mehr noch vertraute auf die Wirkungen unter¬
irdischer Verbindungen der Jesuit Baptista Ric-
cioli. Derselbe war zwar auch der Ansicht, dass
ein Teil des zufliessenden Wassers wieder durch
Verdunstung dem Meere entzogen werde, was aber
durchaus nicht hinreiche, um eine Ueberflutung zu
verhindern. In Wirklichkeit leisteten dies unter¬
irdische Kanäle »per quos partim agitatione et im-
pulsu maris, partim attractione facta, aquae redeunt
ad lacus, fontes, aliasque scaturigines, et partim ele-
vatione facta vi subterraneorum ignium«. Seine Haupt¬
stütze ist der schon weiter oben genannte biblische
Satz: »alle Flüsse laufen ins Meer, und doch fliesst
es nicht über; denn an ihren Ursprungsort kehren
sie zurück, um von neuem zu fliessen« 5 ).
! ) Varenius, Geographia generalis, 1671, p. 143, 145,
147, 149, 161.
*) A. a. O., p. 226, 150.
3 ) p. I99, 200, 209—211, 215, 216, 227, 293, 3OI.
4 ) London 1656, p. 269, 330.
5 ) Geographia reformata, Bononiae 1661, Fol. 450.
Wohl ihren Höhepunkt hat diese ganze graue
Theorie erreicht bei Athanasius Kircher, der
seinem geophysikalischen Werke sogar den Titel
»Mundus subterraneus« auf die Stirne drückte. Wir
müssen versuchen, uns möglichst kurz zu fassen.
Kircher unterscheidet einen dreifachen Kreislaut
der Gewässer:
1. den »generalis«. Der Ocean strömt vom Nord¬
pol »per viscera« des Erdballes und tritt wieder beim
Südpol heraus;
2. den »specialis«. Alle Meere stehen mitein¬
ander durch unterirdische Kanäle in gegenseitiger
Verbindung;
3. den »particularis«. Das Meer gibt durch unter¬
irdische Kanäle reiche Wassermassen ab an gewaltige,
unter den Berg- und Gebirgsmassen befindliche Hohl¬
räume. Diese heissen »Hydrophylacia« und speisen
ihrerseits Quellen, Flüsse und Seen; unter diesen
wieder vor allen solche mit Zufluss, aber ohne sicht¬
baren Abfluss. Die durch Verdampfung den Flüssen
zugeführten Wasserschätze seien ganz ungenügend
zu deren Erhaltung.
Was den »motus particularis« betrifft, so dachte
sich Kircher unter allen Isthmen solche Kanäle,
z. B. unter dem von Suez, so dass hier eine Ver¬
bindung des Mittelmeeres mit dem Roten Meer her¬
gestellt wurde. Das Kaspische Meer hatte »subter-
ranea commercia« mit dem Schwarzen und Persi¬
schen Meer, die Ostsee ausser der sichtbaren Ver¬
bindung mit der Nordsee noch zwei unsichtbare,
eine solche mit dem Nordatlantischen Ocean und
eine zweite mit dem Weissen Meer.
Die Einheit des Oceans sei nicht bloss eine ober¬
irdische, sondern werde vor allem auch durch unter¬
irdische »reciproca circulatio«, »per mutas aquarum
communicationes« hergestellt*).
Von anderen Schriftstellern fügen wir nur noch
hinzu Johannes Herbinius, welcher vermeinte,
über diese »occultae semitae« nicht mehr bloss aus
Kircher, sondern durch die Vernunft selbst belehrt
zu sein 2 ).
So gelangen wir ins 18. Jahrhundert. Da be¬
gegnet uns auf dem alten Schauplatze, um nur
einige bedeutendere Männer zu nennen, im Jahre
1712 der berühmte Engelbert Kämpfer, der in
den Jahren 1683 —1687 als schwedischer Legations¬
rat von Schweden bis an den Persischen Meerbusen
gereist war.
Er beginnt zwar seinen Bericht über das Kas¬
pische Meer mit einer lebhaften Kritik des Atha¬
nasius Kircher. Derselbe habe von »gurgites
verticosi, spectabiles quidem et in maris superficie
comparentes«, durch welche das überschüssige Wasser
»horrendo tumultu« zum Schwarzen und Persischen
Meere abgeführt werde, so lange geredet, dass sogar
Reisende, die dieses Meer besuchten, aber sicherlich
') Amsterdam 1665, p. 78, 85, 87, 112, 122, 128, 233 etc.
*) A. a. ü.
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50 4
Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
nichts dergleichen gesehen, ihm zustimmten, wahr¬
scheinlich um nicht zu Hause der Nachlässigkeit bei
ihren Beobachtungen geziehen zu werden. Wenn
Eingeborene diesen Reisenden zustimmende Ant¬
worten gegeben, so gibt Kämpfer hierfür eine ganz
vortreffliche Erklärung. Noch heute ist dieselbe
belehrend: »est haec sub illo coelo hominibus aliis
modestia et gratificandi Studium, ut quaesitis semper
annuant; aliis morositas, ut balbutientium pertaesi
se expediant facilius, si id affirment interrogati, quod
non intelligunt vel nesciunt«.
Ihm seien diese »gurgites« reine Wahngebilde.
Die Anwohner hätten ihm das zugeschworen, ebenso
die Seeleute, welche das Kaspische Meer befuhren,
auch er habe davon nichts bemerken können auf
seiner Seefahrt. (Fortsetzung folgt.)
Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
Von C. Ballod (Jena).
(Schluss.)
Die Mandiocawurzel verlangt einen trockenen,
am liebsten sandigen oder kiesigen Boden, sie be¬
vorzugt steile, sonnige Hänge, missrät dagegen leicht
an der Schattenseite der Berge, sowie auf schwerem,
lehmigen Boden oder in den fetten Flussauen. Aus der
Mandiocawurzel werden durch Abschaben der Knollen,
Zerreiben zu einem Brei, Auspressen des giftigen
Saftes unter einer starken Presse, endlich Rösten in
einer rotierenden Trommel das Mandiocamehl be¬
reitet, welches die Brasilianer zu allen Mahlzeiten
anstatt Brot nehmen, der Geschmack erinnert an
Sägespäne, mit heissem Wasser zu einem Brei an¬
gerührt an rohe Klösse. Sehr nahrhaft ist dieses
Mehl nicht, da es ausser Holzfaser, die in einem
beträchtlichen Prozentsatz enthalten ist, fast nur
Stärkemehl enthält. Vier Kilo Wurzeln liefern ge¬
wöhnlich ein Kilo Mehl. Die Erträge sind nicht
genau zu bestimmen, doch ist es sicher gewaltig
übertrieben, wenn Stutzer 20000 Pfund Farinha
vom Morgen *) = 160000 Kilo Wurzeln pro Hektar
rechnet oder Sellin gar 1800 Kilo Wurzeln pro Ar 1 2 )
— 180000 pro Hektar annimmt (an Rüben erntet
man in Deutschland durchschnittlich 25 000 und nur
auf bestem Boden bis zu 40000 Kilo pro Hektar,
Kartoffeln durchschnittlich 10000, im besten Falle
20000 Kilo pro Hektar). Andere Autoren, z. B. Wo 1 de¬
in ar Schultz (S. 182) geben dagegen zu niedrige
Ziffern an, er rechnet 320 Alqueiren Farinha von
10000 Quadrat-Brassen Land = 10000 Kilo Wurzeln
pro Hektar, das dürfte nur in den verhältnissmässig
wenig fruchtbaren Ländereien von Donna Francisca
zutreffen. Im allgemeinen werden für guten Boden
wohl die Angaben von Simmonds richtig sein, wo¬
nach 10000 Quadrat-Brassen (= 4,8 ha) Land mit
40000 Mandiocapflanzen bestanden, 80000 Pfund
1 ) Stutzer, Das Itajahythal, S. 54.
2 ) Sellin, Brasilien, I. T., S. 174.
Mehl geben *), was 33 300 Kilo Wurzeln pro Hektar
entspricht. Damit stimmen einigermaassen die An¬
gaben von Gülich, der 46000 Kilo Wurzeln pro
Hektar Ertrag rechnet 2 ) und meine persönlichen
Erkundigungen. Die Mandiocawurzel bietet den
Vorteil, dass man sie das ganze Jahr frisch aus der
Erde holen kann, was mit den übrigens ebenfalls gut
fortkommenden Rüben nicht der Fall ist.
Die wertvollste Kulturpflanze in Santa Catharina
ist unstreitig der Kaffeebaum, nur ist derselbe gegen
Frost sehr empfindlich, jedenfalls empfindlicher wie
das Zuckerrohr, nicht umgekehrt, wie v. Tschudi 3 )
und nach ihm sogar Wappäus 4 ) behauptet. Am
Nordarm des Tubaräo wird an den Berglehnen über¬
all noch mit gutem Erfolge Zucker gebaut, während
die Kaffeesträucher in den geschütztesten Lagen, an
Häusern u. s. w. vom Frost leiden, so dass die
Beeren vor der Zeit schwarz werden und abfallen.
Sicher ist der Kafteebau nur an der Küste und auf
den Inseln, doch wird er noch an den nördlichen
Hängen, der Sonnenseite der Küstenflüsse gepflanzt,
in den Thälern erfriert er. Am Itajahy kommt er
noch einfe beträchtliche Strecke in der Kolonie Blu-
menau hinauf fort und es könnte dort jedenfalls be¬
deutend mehr Kaffee gepflanzt werden, als es jetzt der
Fall ist, wo Kaffee noch eingeführt wird. In Donna
Francisca steht dem Anbau die geringwertige Boden¬
qualität entgegen, auch scheinen daselbst die Hügel
weniger frostsicher zu sein, wie die am Itajahy. Am
Tubaräo wird an den Berghängen noch bis zur Ein¬
mündung des Nordarmes Kaffee gepflanzt, ja er
kommt selbst an einigen geschützten Hügelhängen
am Ararangua noch fort. Der Kaffee reift in Santa
Catharina allerdings unregelmässiger als im mittleren
Brasilien, auch die Erträge sollen geringer sein, doch
hat man in Blumenau Erträge von 6—8 Pfund Kaffee
pro Baum erzielt, also kaum weniger als in den
besten Kaffeelagen von Sao Paulo; wo die klima¬
tischen Bedingungen es zulassen, ist der Kaffeebau
von allen Kulturen die lohnendste. Der Kaffeebaum
verlangt aber auch sorgfältige Behandlung, er muss
öfters (in S. Paulo 5 — 6mal jährlich) von Unkraut
gereinigt werden, wobei das in den Zwischenräumen
der Bäume gewachsene Unkraut abgehackt und an
die Baumscheiben angehäuft werden muss. In Säo
Paulo werden bei der Verpflanzung von 1—2jährigen
Pflänzlingen öfters bis zu 1 cbm grosse Baumlöcher
ausgehoben und nachher mit lockerer Erde, Laub,
Dünger angefüllt, welche Sorgfalt in Donna Francisca
auf notorisch schlechtem Boden unbekannt ist. Die
Erträge betragen pro Hektar ä 1000 Bäumen in voller
Tragfähigkeit (nach dem sechsten Jahr) 900—3000
Kilo je nach Boden und Behandlung. Eine Arbeiter¬
familie hat in den Kaffeeprovinzen gewöhnlich 3 bis
4000 Bäume in Behandlung.
1 ) Simmonds, Tropical Agriculture, London 1877, S. 350.
2 ) Deutsche Kolonialzeitung 1886, S. 416.
3 ) J. v. Tschudi, Reisen in Südamerika, III. Bd., S. 357.
4 ) Wappäus, Brasilien, Leipzig 1871, S. 1809.
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Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
5<>5
Nächst dem Kaffee ist das Zuckerrohr die lohnendste
Kulturpflanze. Am besten gedeiht es auf dem Alluvial¬
boden am Unterlauf der Flüsse, tiefer im Lande und
auf den höher gelegenen Ländereien müssen einiger-
maassen frostsichere, vorzugsweise östliche und nörd¬
liche Hänge ausgesucht werden. Ein geringer Frost
beschädigt übrigens bei dicht stehendem Zuckerrohr
nur die Blätter und Spitzen des Rohres, selten das
Rohr selbst, so z. B. tritt am Nordarm des Tubaräo
jeden Winter Frost auf, trotzdem erzielen die Kolo¬
nisten daselbst schönen Zucker. Nach Spielberg 1 )
kommen in Tucuman Fröste bis zu 6° C. vor, wo¬
bei auf dichten Zuckerrohrfeldern nur die Spitzen
des Rohres erfrieren. Indessen sind doch auch im
"Küstengebiet von Santa Catharina weite Gebirgsteile
im Innern für Zuckerrohr zu kalt oder haben einen
zu schlechten Boden. Eine grössere Zuckerfabrik
mit neueren Einrichtungen gibt es bloss in der Kolonie
Donna Francisca, sonst wird das Rohr noch durch¬
weg nach uralter Art zwischen drei hölzernen Walzen,
die durch ein von Ochsen bewegtes Göpelwerk
(stellenweise auch durch ein Wasserrad) in Bewe¬
gung gesetzt werden, ausgepresst, dabei geht ein
grosser Teil des Saftes unbenutzt verloren, man ge¬
winnt höchstens 4—5 °/o vom Rohrgewicht an Zucker,
während eiserne Walzen eine Ausbeute von 7 — 8 °/o
gewähren; mittels des Diffusionsprozesses lässt sich
der Ertrag sogar auf 12—13 °/o steigern, allein da¬
zu sind vervollkommnete Einrichtungen in grösseren
Anlagen notwendig. Es ist wohl sicher, dass wenn
die Gewinnung des Rohrzuckers ebenso sachgemäss
betrieben würde wie die des Rübenzuckers, eine
Konkurrenz des letzteren mit dem Rohrzucker auf
dem Weltmärkte kaum möglich wäre, da der Saft
des Zuckerrohrs viel weniger auszuscheidende fremde
Bestandteile enthält als der Rübensaft, daher leichter
zu verarbeiten ist, ausserdem liefert Zuckerrohr auf
gutem Boden bedeutend höhere Erträge als die Rübe.
Man rechnet in der eigentlichen Tropenzone bis zu
100000 Kilo Rohertrag pro ha, gegenüber 40000
Kilo Rüben auf bestem Boden. In Santa Catharina
freilich dürften im Mittel kaum über 50000 Kilo Rohr
pro Hektar geerntet werden; Woldemar Schultz
(S. 185 f.) rechnet sogar nur 320 Arroben (4800 Kilo)
Zucker von 4,8 ha Land, also höchstens 25000 Kilo
Rohr, auch dies dürfte nur für mittelmässige Lände¬
reien stimmen; J. v. Tschudi 2 ) rechnet im Itajahy-
thal durchschnittlich 50 Arroben (750 Kilo) Zucker,
nebst einer Pipe (480 1 ) Branntwein vom preussi-
schen Morgen, gleich etwa 60000 Kilo Rohr pro ha,
auf gut gedüngtem Auenboden sogar um 50°/o mehr.
Der Zuckergehalt des Rohrs dürfte zwar geringer
sein als in der eigentlichen Tropenzone, wo er mit¬
unter auf 18—22°/o steigt, allein unter 15 °/o dürfte
er, ähnlich wie in Tucuman nicht sinken, damit
kommt er immer noch dem Zuckergehalt guter
*) Deutsche Kolonialzeitung 1885, S. 145.
a ) Reisen durch Südamerika, Bd. III, S. 395.
Rüben gleich, übertrifft aber den Durchschnittsge¬
halt derselben. Gegenwärtig wird (abgesehen von
Donna Francisca) nur Rohzucker erzeugt; der aus¬
gepresste Saft wird nämlich in offenen Pfannen, die
bis zu 2 m Durchmesser haben, eingedickt, dann
in grosse Tröge mit durchlöchertem Boden gegossen,
damit der Syrup abfliessen kann. Auf diese Art
können 2—3 Menschen, bei starkem Holzverbrauch,
kaum 100 Kilo Rohzucker täglich herstellen. Der
Syrup und oft auch schon der Saft des Zuckerrohrs
wird mittels sehr primitiver Einrichtungen zur Be¬
reitung eines Branntweins von schwachem (8—i6°/o)
Alkoholgehalt, des Cacha^a benutzt. Dieser Cachaca
hat jung einen unausstehlichen Fuselgeschmack, wird
aber mit der Zeit besser. Auch der Zuckerrohr¬
anbau wäre in Santa Catharina noch einer bedeu¬
tend grösseren Ausdehnung fähig, erzeugt doch das
kleinere Natal in Südafrika, das ähnliche klimatische
Bedingungen aufweist, 25 000 Tons Zucker jährlich,
Santa Catharina schwerlich auch nur den vierten
Teil davon. Tüchtige Kolonisten am Bra^o do Norte
erzielen trotz ihrer unvollkommenen Einrichtungen
mitunter 3—500 Arroben (ä 15 Kilo) Zucker, nebst
entsprechenden Mengen Cachaca.
Grosse Hoffnungen hat man früher auf den
Tabakbau gesetzt, allein Südbrasilien erzeugt keine
hochwertige Sorte; Blumenauer und Santa Cruz
Tabak wertete 3—4 Milreis (6—8 M.) die Arrobe
(15 Kilo), während Bahiatabak kaum unter 15 Mil¬
reis zu haben ist. Allerdings mag ja die Kultur
und Behandlung der Blätter nicht sachgemäss genug
sein, mit dem wertvolleren Tabak aus dem nörd¬
lichen Brasilien wird der südbrasilische indessen nie
konkurrieren können. Dabei verlangt der Tabak
fruchtbaren Boden, den er schnell erschöpft. Die
Mittelerträge sollen in Blumenau 900—1200 Kilo
fertige Blätter pro Hektar betragen.
Für Baumwolle ist das Klima wohl zu gleich-
mässig feucht, es fehlt an einer, wenn auch nur
kurzen Trockenzeit, wie in Säo Paulo, die zur Reife
der Baumwollenstaude nötig ist; auch der ihr zu¬
sagende sandige Boden ist zu wenig vertreten. Für
den Hausbedarf wird die Baumwolle von manchen,
namentlich italienischen Kolonisten gezogen.
In der Mitte der 80er Jahre setzte man auch
auf Ramie (Chinagras), der auf dem Schwemmlande
der Flüsse vortrefflich gedeiht, grosse Hoffnungen,
allein es fehlt noch an einer im Handel erhältlichen
geeigneten Entfaserungsmaschine. In Blumenau sollte
gegenwärtig eine Fabrik für Ramieverarbeitung an¬
gelegt werden. Viel geredet wurde früher über den
Anbau von »hochwertigen« Droguen 1 ), allein was für
hochwertige Droguen gezogen werden könnten, wäre
noch nachzuweisen. Süd- und sogar mittelbrasi¬
lianische Vanille enthält fast kein Vanillin, sogar
J ) Cf. W. v. Hundt, Santa Catharina, Einleitung; Julius
Jencke, Ackerwirtschaft in Südbrasilien; Deutsche Kolonial¬
zeitung 1885, Nr. 6 und 7.
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50 6
Der Staat Santa Catharina in Südbrasilien.
die nordbrasilianische ist nicht konkurrenzfähig*),
brasilianischer Copaivabalsam ist zu dünnflüssig, von
Sassaparilla wird wenigstens in Deutschland nur die
Hondurassorte zugelassen 2 ). Die Chinarinde enthält,
wie bereits früher erwähnt, kaum Spuren von Chinin,
auch der Cocastrauch, den man in Säo Paulo an¬
gepflanzt hat, lieferte ein ähnliches Resultat wie der
Chinabaum: es fehlte den Blättern das Cocain. So¬
gar der echte Theestrauch kommt in Brasilien schlecht
fort, in Säo Paulo gibt es mehrere Theeplantagen,
darunter eine im Municipium Itü von 500000 Bäumen
(cfr. Kärger, Brasil. Wirtschaftsbilder S. 300), der
brasilianische Thee wertete 1890/91 im Lande nur
2—2V2 Milreis das Kilo, während der eingeführte
indische oder chinesische den dreifachen Preis hatte.
Der brasilianische Thee ist, wie bereits T s c h u d i
ganz richtig bemerkt 3 ), äusserst bitterlich und regt
dabei weit stärker auf als der chinesische; in Europa
würde er daher keinen Absatz finden. Es mag sein,
dass das gleichmässigere feuchte Klima des Küsten¬
striches von Santa Catharina dem Thee besser zu¬
sagt, als das von Säo Paulo, allein es fehlt vorläufig
noch alle praktische Erfahrung darüber. Was den
in Südbrasilien überall auf dem schlechtesten Boden,
vorzugsweise des Hochlandes, vorkommenden Mate¬
strauch (Ilex paraguayensis) anlangt, so wird der
aus seinen Blättern durch Dörren und Zermahlen
zu Pulver bereitete Mat£ nur in den Laplata-Ländern
und Chile abgesetzt; in Europa ist er unverkäuf¬
lich, zumal er einen von dem Dörren im Walde
über offenem Feuer herrührenden rauchigen Ge¬
schmack besitzt. Gut behandelt und sorgfältig in
einem Ofen gedörrt, ist er allerdings besser und
dürfte den geringeren Sorten des chinesischen Thees
nicht viel nachstehen, allein in Europa dürfte er
doch schwerlich viel Anklang finden. Anpflanzungen
würden bei dem niedrigen Preise (er kostete 1890
in den Hafenstädten höchstens 3 Milreis die Arrobe)
sich kaum lohnen, da er auf dem Hochlande häufig
genug vorkommt, oft ganze Holzbestände bildend.
Die Jesuiten haben ihn im vorigen Jahrhundert aller¬
dings anpflanzen lassen, allein sie hatten an ihren
bekehrten Indianern Arbeiter, die ihnen nichts
kosteten.
Es bliebe vielleicht noch der Weinbau übrig,
allein der Erzeugung einer guten Sorte stellt das
gleichmässig' feuchte Klima von vornherein eine un¬
günstige Prognose. Thatsächlich kommt in Santa
Catharina nur die amerikanische Rebe, nicht die
europäische fort; die ersten Ansiedler der Insel Santa
Catharina, die aus der Insel Madeira kamen, werden
es wohl an Versuchen mit ihrer heimatlichen Rebe
nicht haben fehlen lassen. Die gewöhnlich ange¬
pflanzte amerikanische Isabelltraube gibt zwar einen
bedeutenden Ertrag, allein die Beeren reifen un-
gleichmässig und haben einen fuchsigen Geschmack,
*) Export 1887, S. 107.
2 ) Ebenda, S. 108.
3 ) Reisen durch Südamerika, l»d. IV, S. 106.
so dass der daraus bereitete Wein, namentlich wenn
die unreifen Beeren nicht ausgelesen sind, kaum
besser ist als Essig, wozu auch die ungünstige Reife¬
zeit der Beeren mitten in der heissen Jahreszeit, und
infolge dessen, zu schnelle Gährung beiträgt. In
Säo Paulo hat man mit einigen anderen nordameri¬
kanischen, spät reifenden Reben bessere Erfolge er¬
zielt, allein das Klima des Hochlandes von Säo
Paulo ist auch trockener als das des Küstengebietes
von Santa Catharina, welches schwerlich jemals
Wein ausführen wird. Gegenwärtig gibt es daselbst,
namentlich bei italienischen Kolonisten, wohl einzelne
Weinlauben, nicht aber grössere Anpflanzungen.
Reis wird gegenwärtig in grösserem Maasstabe fast
nur in Donna Francisca angebaut, woselbst sich
auch eine grössere Reismühle befindet. Geerntet
werden 24—64 hl an rohem Reis pro ha; beim Ent-
schälen fällt die Hälfte als Bruchreis und Abfall weg,
welcher letztere indessen als gutes Viehfutter ver¬
wendbar ist. Jedenfalls verdiente der Reis des hohen
Preises wegen, der in Brasilien dafür bezahlt wird
(1890: 12 Milreis = 24 M. pro Sack von 60 Kilo),
grössere Beachtung als das bis jetzt der Fall ist. Der
in Massen importierte indische Reis ist von geringerer
Qualität als der brasilianische. Kolonisten, die sich
nicht selbst Reisentschälungsmaschinen anschaffen
können, bringt der Reisbau allerdings wenig Vor¬
teil, da sie ihn gewöhnlich zum halben Preise ver¬
kaufen müssen, als wenn sie ihn selbst entschälen
könnten.
Vortrefflich gedeihen die Bananen und Orangen.
Die an der Küste gelegenen Ortschaften verschiffen
bedeutende Mengen von Bananen nach den Laplata-
Staaten. Dem Export von Orangen stehen die Aus¬
fuhrzölle und die komplizierten Transportverhältnisse
entgegen, auch fehlt es noch an grösseren Anpflan¬
zungen; eine kleine Orangenpflanzung hat dagegen
fast jeder Kolonist. Wenn Dr. Mayr meint, die
Orangen und Trauben aus feuchten und feucht¬
warmen Gebieten erreichen nie den Wohlgeschmack
und das Aroma solcher, die in trocken warmen Ge¬
genden gewachsen sind *), so stimmt das wohl für
die Trauben, aber nicht für die Orangen von Santa
Catharina, da sie an Aroma und Wohlgeschmack
schwerlich den sizilianischen oder tangerischen nach¬
stehen und somit wohl einen wichtigen Exportartikel
liefern könnten. Aus dem Saft der Orangen wird
durch Zusatz von Zucker und Gährenlassen ein Wein
hergestellt, der gut abgelagert, nicht so übel ist,
jedenfalls dem aus Trauben hergestellten Erzeugnis
weit überlegen ist.
Die Bevölkerung; Schlussfolgerungen.
Was die Urbewohner des Landes, die Bugres,
betrifft, so gehören sie nach Dr. P. Ehrenberg 2 )
zur Ur-Ges-Gruppe, sie nennen sich selbst Sokleng.
*) Dr. H. Mayr, Die Waldungen von Nordamerika,
München 1890, S. 104.
-) Petermanns Mitteil. 1891, S. 116.
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Der Staat Santa Catharina in Südbrasilieti.
Von manchen Autoren bind sie mit den ßotokuden
verwechselt worden, letztere tragen jedoch Holz¬
pflöcke, die Bugres spindelförmige Holzzierrate. Ihre
Hautfarbe ist ein Rotbraun; bei einigen Kindern,
die von dem Direktor der Kolonie Grao Para er¬
zogen wurden, war Hautfarbe und Typus mongolen¬
ähnlich. Die Jesuiten sollen sie zu zähmen und zu
bekehren verstanden haben, gegenwärtig stehen sie
jedoch Brasilianern wie Kolonisten feindlich gegen¬
über, überfallen gern vereinzelte, schlecht bewaffnete
Ansiedler und werden dann auch, wo sie sich nur
sehen lassen, von den Ansiedlern wie wilde Tiere
niedergeschossen. In Blumenau sollen seit dem Be-
• stehen der Kolonie io—12 Ansiedler von ihnen
getötet sein, je ebensoviel in Theresiopolis und
Azambuja. Nach Angaben der Vermessungsbeamten
der Kolonie Grao Para soll es an der Mailuzia,
ihrem Hauptsitz, noch circa 2 — 3000 Bugres
geben.
Deutsche Kolonisten und deren Nachkommen
mag es in Santa Catharina circa 50000 geben,
Brasilianer portugiesischer Abstammung wohl 2 bis
3 mal soviel, Neger und Mischlinge sind nicht sehr
zahlreich. Italienische Kolonisten mag es jetzt an
15000 geben. Die deutschen Kolonisten bewahren
ihre Nationalität da, wo sie in dichten, kompakten
Massen beisammen sitzen, in Blumenau, Donna
Francisca, nicht aber in den Städten oder den Kolo¬
nien, wo sie viel mit Brasilianern in Berührung
kommen; da werden zwar nicht die ersten Ein¬
wanderer, wohl aber deren Kinder und Enkel bald
zu Brasilianern.
Mit der Schulbildung ist es nicht zum besten
bestellt; es gibt zwar von der Regierung subven¬
tionierte Schulen, allein die sind wenig zahlreich,
und die Kolonisten sind meist gezwungen private
Schulverbände zu bilden und Lehrer anzustellen.
Da jedoch kein Schulzwang besteht, somit nicht
alle Eltern ihre Kinder in die Schule schicken und
die meisten Kinder nur auf kurze Zeit die Schule
besuchen, da die Lehrer auch nicht durchweg zu
den tüchtigsten Elementen gehören, woran zum Teil
auch die kärgliche Besoldung schuld ist (manche
Lehrer bekommen kaum 30—40 M. monatlich), so
ist im allgemeinen selbst in den grossen deutschen
Kolonien, Blumenau und Donna Francisca, in denen
je zwei wöchentliche Zeitungen erscheinen, ein Bil¬
dungsrückschritt unverkennbar; sehr schlecht steht
es mit Theresiopolis und Bra<;o do Norte, wo kaum
je eine Schule besteht und dabei von 6—700 Kolo¬
nistenfamilien zusammen 1890 auf drei Zeitungs¬
exemplare abonniert wurde! Grao Para und Azam¬
buja hatten je eine schwach besuchte Schule.
In deutschen kolonialfreundlichen Kreisen ist
öfters auf den blühenden Zustand der deutschen
Kolonien in Südbrasilien hingewiesen worden, ihre
Entwickelungsfähigkeit und Geeignetheit für deutsche
Auswanderer betont worden. Was jedoch die er¬
zielten materiellen Resultate betrifft, so halten sic
507
keinen Vergleich aus mit denen, die in anderen,
von Engländern besiedelten subtropischen Kolonien,
Australien und dem Kaplande erzielt worden sind.
Während Australien auf den Kopf der Bevölkerung
einen jährlichen Handelsumsatz (Import und Export)
von 800 Mark aufweist und auch das Kapland, wenn
man die allein produzierende europäische Bevölke¬
rung in Betracht zieht, kaum davor zurücksteht,
beträgt der Jahresumsatz in dem reichsten brasilia¬
nischen Kaffeestaat Säo Paulo kaum 250 Mark per
Kopf; in den deutschen Kolonien Blumenau und
Santa Cruz (in Rio Grand) kaum 100—150 Mark
[Export und Import von Blumenau betrug 1889 bei
20000 Einwohner je etwa 640 Contos (1 */* Million
Mark)]; nur in dem am günstigsten situierten Säo
Louren^o in Rio Grande, Bra$o do Norte und Theresio¬
polis in Santa Catharina erhebt sich der Umsatz bis
zu 300 M. [Theresiopolis hatte 1884 bei 350 Kolo¬
nistenfamilien etwa 30S Contos (500000) Ausfuhr *),
ähnlich situiert ist Bra^o do Norte]. Woran liegt
das ? Inferiorität der Deutschen gegenüber Engländern
anzunehmen, geht kaum an, da deutsche Kolonisten
in englischen Kolonien und Nordamerika vor den
Engländern nicht zurückstehen. Es müssen also
andere Gründe maassgebend sein und diese sind: der
verschiedene Entwickelungsgang und die öffentlichen
Zustände 2 ). Die englischen Kolonien entwickeln sich
mehr von innen heraus, die Kolonisten gingen aus
eigener Initiative hin und siedelten sich an, wo es
ihnen gerade passte. Die Regierung schenkte ihnen
keinen Pfennig, dafür aber konnten die ersten An¬
kömmlinge sich die geeignetsten und am günstigsten
gelegenen Ländereien aussuchen, von denen sie je¬
doch nur eine bestimmte Fläche, die sie bewirt¬
schaften konnten (in Nordamerika bekanntlich 160
Acres = 64 ha), occupieren durften, so dass die
nachrückenden Ansiedler sich immer an die ersten
unmittelbar anschlossen. Um die Kosten der An¬
siedelung aufzubringen und noch darüber Gewinn
Cf. Export 1885, Nr. 21.
*) Die meist untaugliche Leitung der Kolonien, der Mangel
an Beispiel und Anspornung trägt mit die Schuld, dass der
deutsche Kolonist verhältnismässig wenig zur Hebung des Landes
beigetragen hat; er ist zwar fleissiger und arbeitstüchtiger als
der Brasilianer, in der Bodenbearbeitung und augh sonst in vielen
Beziehungen ist er aber auf die Kulturstufe der Brasilianer herab¬
gesunken — analoge Verhältnisse finden wir ja wieder bei den
deutschen Kolonisten in Südrussland (cf. dazu den Artikel von
Seeberg, »Ausland», S. 348 d. J.). Wenn in englischen Kolo¬
nien, sowie in Nordamerika der deutsche Kolonist nicht zurück¬
geblieben ist, so ist das auf den Einfluss der Umgebung zurück-
zuführen und der beste Beweis dafür, dass es nicht genügt,
Kolonisten aus alten Kulturländern unter kulturell niedriger
stehenden Leuten sich ansiedeln zu lassen, damit letztere auf
eine höhere Kulturstufe gebracht werden, sondern bei der Ver¬
schiedenheit der Verhältnisse der einzelnen Länder muss erst
durch Leitung und Beispiel dafür Sorge getragen werden, dass
die Kolonisten nicht selbst auf eine tieferen Standpunkt herab¬
sinken. Dass die Deutschen in Nordamerika nur da am meisten
leisten, wo sie mit Amerikanern zu konkurrieren haben, berichtet
auch Prof. Sering (Die landwirtschaftl. Konkurrenz Nordamerikas,
Leipzig 1887, S. 487).
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jo8
Der Staat Santa Catharina in Sttdbrasilien.
zu erzielen, erhoben sich die Kolonisten im regen
Wetteifer miteinander zu äusserster Kraftanstren¬
gung ; um Arbeit zu sparen, wurden vervollkommnete
Geräte und Maschinen eingeführt. Die nachfolgen¬
den Einwanderer konnten?, soweit sie unvermögend
waren, bei den älteren Ansiedlern stets Arbeit gegen
angemessenen, meist nicht niedrigen Lohn finden,
so dass sie die Wirtschaftsweise kennen lernten, und
wenn sie sich selbständig gemacht hatten, nun eben¬
falls den gesehenen Beispielen und Vorbildern nach¬
zueifern bestrebt waren. Vor allem aber wurde in
englischen Kolonien für billige Transportbedingungen
und leichte Angliederung an den Weltverkehr ge¬
sorgt. Anders in Brasilien zu Anfang dieses Jahr¬
hunderts; da geschah die Kolonisation durch äussere
Ursachen, die Regierung oder Gesellschaften mit
Regierungsunterstützung siedelten die Kolonisten an.
Alles günstig gelegene und am besten geeignete Land
war zw T ar noch lange nicht besiedelt, aber es war
von früher her quadratmeilen weise von verschiedenen
Besitzern eingezogen worden. Die Kolonien wurden
fast immer tief im Urwalde, an ungünstigen und
ungeeigneten Punkten, z.Th. auf schlechten Ländereien
angelegt. Die Leitung der Kolonien war gewöhnlich
nachlässig, fast nie besassen die leitenden Persön¬
lichkeiten landwirtschaftliche Fachkenntnisse, konnten
also den Kolonisten kein Beispiel und Vorbild geben,
noch weniger fanden sie solche an den brasiliani¬
schen Bewohnern. Man zahlte den Kolonisten, um
ihnen die Ansiedelung zu erleichtern, wohl Subsi-
dien, oder iiess sie die nötigen Landwege bauen,
die Zahlungen geschahen in der Regel unregel¬
mässig, mit einem Wort: die Ansiedler wurden syste¬
matisch demoralisiert. Die durch den schwierigen
Transport auf schlechten Landwegen benachteiligten
Produkte wurden durch unsinnig hohe Eisenbahn-
und Dampferfrachten noch mehr entwertet und um
dem Unsinn die Krone aufzusetzen, wurden Aus¬
fuhrzölle, auch interprovinziale und municipale ein¬
geführt. Infolge der hohen Spesen und Transport¬
kosten u. s. w. waren die Preise aller Produkte auf
den Kolonien so niedrig, dass es sich nicht lohnte,
Hilfsarbeiter anzustellen, damit fiel Beispiel und An¬
spornung für spätere Ankömmlinge weg, es setzte
sich ein bequemer Schlendrian fest, sich mit geringen
Leistungen zu begnügen, wie man sie an den Bra¬
silianern sah, ja manche Kolonieleiter, namentlich
in Donna Francisca, waren geradezu ängstlich be¬
müht, den Kolonisten klar zu machen, sie könnten
nur geringe Landstücke, höchstens io—20 Morgen,
bewirtschaften! In der That entfielen nach Wap-
päus (S. 1821 und 1825) 1868 in Donna Francisca
auf eine Kolonistenfamilie durchschnittlich 2 l ji ha
Kulturland, 2 1 /« ha Weide, in Blumenau 2 ha Kul¬
turland, 1 V-t ha Weide; 1886 soll es in Blumenau
18000 ha Kulturland und Weide gegeben haben,
also 6 ha pro Familie, auf 20 Kolonistenfamilien
entfiel ein Pflug! Wo die Absatzbedingungen günstig
waren, haben es manche Kolonien trotz schlechter
Wege zu tüchtigen Leistungen gebracht, so Theresio-
polis, dessen Kolonisten in dem 1—2 Tagereisen
entfernten Desterro um 50°/o höhere Preise erhalten,
als die von Blumenau. (Von den bis 1863 einge¬
wanderten circa 600 Familien waren der ungenügen¬
den und schlechten Ländereien wegen 1884 nur
noch 350 Familien da.) In Donna Francisca sind
nach Tschudi bis 1860 circa 8000 Kolonisten ein¬
gewandert 1 ), jedoch kaum der dritte Teil geblieben;
auch später ist ein grosser Teil der Einwanderer
nach Curityba und Säo Paulo fortgezogen, da die
Ländereien die schlechtesten des Staates sind 2 ), der
Verdienst auch gering ist. Wenn nach den bei
Lange (»Südbrasilien«) angeführten Tabellen die
12317 Einwanderer, die von 1856—1882 daselbst
ankamen, mit den 912 früheren Ansiedlern 1882 zu
19825 angewachsen waren, so hat hier wohl der
Gewährsmann von Prof. Lange, Dr. Doerffel in
Joinville, die Zahl der Fortgezogenen von der der
Eingewanderten abgezogen, somit repräsentiert die
angeführte Einwandererziffer bloss die ansässig ge¬
wordenen.
Alle Kolonieanlagen kosteten der Regierung
Unsummen, so z. B. das relativ am besten verwaltete
Blumenau bis 1880 circa 3000 Contos (6 Mill. M.).
Damit waren 3000 Familien ansässig gemacht und die
erforderlichen Wege gebaut. Für die Kolonie Brusque,
die ziemlich mittelmässigen Boden enthält, sind noch
grössere Mittel aufgewandt mit bedeutend gringerem
Erfolge, der Export betrug 1889: 202 Contos gegen¬
über 640 in Blumenau. Azambuja soll 900 Contos
gekostet haben, Grao Para 600. Die mit diesen
grossen Regierungsmitteln gebauten Wege sind
einfache Landstrassen, unchaussiert, nicht einmal mit
Kies überfahren und daher bei jedem Regenguss
fast unpassierbar, eine chausseeartige Strasse von
etwa 100 km Ausdehnung ist mit einem Aufwande
von über 1000 Contos von Joinville nach Sao Bento
auf dem Hochlande gebaut worden. Für leichtere
Angliederung an den Weltverkehr ist jedoch so gut
wie nichts geschehen, Hafen- und Flusskorrektionen
sind nicht unternommen worden, auch wo sie mit
geringen Mitteln ausführbar gewesen wären, z. B.
eine kurze Strecke im Itajahy, wo ein Felsriegel den
Fluss durchquert, wäre mit verhältnismässig geringen
Kosten (20—30000 M.) zu verbessern gewesen und aul
diese Art Blumenau für Küstendampfer erreichbar
geworden. So aber sind die Transportbedingungen
unglaublich kompliziert. Der Kolonist von Blumenau
muss seine Produkte eine, bis zwei Tagereisen weit,
bis zum Stadtplatz zu Wagen fahren, dort werden
sie auf einen kleinen Flussdampfer von 90 cm Tiefgang
*) Reisen durch Südamerika, Bd. III, S. 362.
*) Nach Wappäus (S. 1821 und 1825) war die Pro¬
duktion in Blumenau 1868 auf 2198 ha um etwa 20°/o geringer
als auf den 1996 ha Kulturland in Donna Francisca, das notorisch
unvergleichlich schlechteren Boden hat. Es ist dies also ein
klassisches Beispiel für die Verlässlichkeit brasilianischer sog.
statistischer Angaben.
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Der Stdat Santa Catharina in Sudbrasilien.
geladen und flussabwärts nach der Mündung bei dem
Hafenort Itajahy gebracht. Daselbst werden die Pro¬
dukte auf einen Küstendampfer umgeladen, der sie nach
der Hauptstadt Desterro bringt, wo allein ein Haupt¬
zollamt sich befindet, dort werden sie verzollt und
nochmals auf einen anderen Küstendampfer umge¬
laden, der zwischen Montevideo und Rio de Janeiro
fährt. Ein- bis zweimal im Monat wird Itajahy aller¬
dings von Küstendampfern angelaufen, die direkt
bis Rio fahren, allein da sich in Itajahy nur ein
Nebenzollamt, Mesa de rendas, befindet, wenigstens
bis 1891 befand, so können nur wenige Produkte,
vorzugsweise Holz, direkt abgefertigt werden. So
kommen die Transportkosten nach Rio de Janeiro
zwei- bis dreimal so hoch wie die von Europa nach
Brasilien; für einen Sack (60 Kilo) bezahlt man ge¬
wöhnlich 1,6 Milreis Fracht bis Rio = 53 M. per
Ton. Und doch hätten die biederen Blumenauer
für dasselbe Geld, das ihnen 1880 ihr kleiner acht-
zehnpferdiger Flussdampfer Progresso kostete (circa
50—60000 M.), sich bequem einen Küstendampfer
von etwa 200 Tons anschaffen können, der, wenn
auch nicht direkt bis Blumenau, so doch bis Gaspar
(16 km unterhalb) hätte gelangen können, dem
weiteren Verkehr hätte eine Dampfjolle genügt. Auf
diese Weise wäre Blumenau, wenn auch auf dem
Umwege über Desterro in direkte Verbindung mit
Rio gesetzt. Aber es lag wohl im Interesse der
Kaufmannschaft keine bequeme direkte Verbindung
zu haben, denn dann hätte es ja auch manchen Kolo¬
nisten einfallen können, ihre Produkte nach Rio zu
bringen und die Kaufleute hätten ihren, trotz hoher
Spesen und Zölle, gewinnreichen Zwischenhandel ver¬
lieren können. Gegenwärtig haben fast alle Pro¬
dukte in Blumenau (und auch in den südlichen
Kolonien Azambuja u. s. w.) kaum den halben
Wert wie in Santos oder Rio, die auf einem Küsten¬
dampfer bequem in 2—3 Tagen erreichbar sind.
Um ein Beispiel anzuführen: wenn ein Sack (60 Kilo)
Mais in Rio 6 Milreis kostet, bezahlt man am Tubaräo
oder in Blumenau 2—2 1 /«; für eine Arrobe (15 Kilo)
Speck 4—5 Milreis 5 während sie in Rio 10 — 12
kostet. Der Exportzoll für in andere Provinzen
(oder, wie man jetzt sagt, Staaten) gehende Waren
betrug in Santa Catharina io°/o vom Werte 1 ), die
Tarifierung ist jedoch regelmässig zu hoch, so dass
man noch mehr zahlte; für Mais bezahlte man z. B.
0,4—0,5 Milreis pro Sack Zoll, wenn der Preis
bloss 2—3 Milreis betrug. Für ins Ausland gehende
Waren erhebt die Centralregierung 9 °/o Exportzoll,
die Regierungen der Einzelstaaten 4°/o> Santa Catharina
5°/o, wobei natürlich die Tarifierung auch zu hoch
ist. Dazu kommt noch 1—2°/o Zuschlagszoll, den
die Municipalverwaltungen einziehen. Eine Grund¬
steuer besteht dagegen nicht, diese wäre gegen das
Interesse der Grossgrundbesitzer, die den maass¬
gebenden Einfluss ausüben; von Einführung einer
*) Cf. Export 1884, S. 584.
5°9
solchen Grundsteuer ist zwar oft die Rede gewesen,
namentlich vor gerade bevorstehenden Deputierten¬
wahlen, um die Stimmen der Kolonisten zu gewinnen,
nachher blieb aber alles beim alten. Sehr schlimm für
die Entwickelung des Landes wirkt auch der Mangel
eines Fachbeamtentums, die Beamten wechseln bei
jedem Parteiumsturz, die Gouverneure (oder früher
Provinzialpräsidenten) können aber auch jederzeit
ihnen missliebige Beamten ohne den geringsten Grund
entlassen, -wenn sie gerade deren Posten einem
Günstling oder Verwandten zuzuwenden für gut
finden. Natürlich sorgt da ein jeder Beamter nur
für den Augenblick; Maassregeln, die von dem einen
getroffen werden, werden von dem Nachfolger ge¬
wöhnlich aufgehoben. Kenntnisse oder Bildung braucht
kein Beamter zu besitzen, ja sie sind ihm oft geradezu
gefährlich. Selbst die Schullehrer der Regierungs¬
schulen und die Justizbeamten stehen und fallen
mit ihrer Partei, daher gibt es ein Recht nur für
die Parteigenossen, fast nie für die Gegenpartei.
So lange die Beamtenkorruption bestehen bleibt,
so lange nicht für billige und bequeme Kommuni¬
kationsmittel gesorgt wird, solange die interprovin¬
zialen Ausfuhrzölle, die den Fleiss besteuern und die
Faulheit protegieren, bestehen bleiben und nicht
durch eine vernünftig verteilte Grundsteuer ersetzt
werden, ist an einen grösseren Aufschwung in Santa
Catharina nicht zu denken. Gerade an diese schwer¬
wiegenden Missverhältnisse ist in letzter Zeit bei der
Empfehlung von Südbrasilien für Auswanderer viel
zu wenig gedacht worden. Freilich könnten schon
grosse kapitalkräftige Gesellschaften, die reell und
sachverständig kolonisieren wollten, zunächst die
besten unbesiedelten Privatländereien am unteren
Itajahy und Ararangua ankauften und parzellierten,
für bequemen, raschen und billigen Transport der
Produkte sorgten, viel ändern, allein gerade daran
fehlt es und wird höchst wahrscheinlich auch für
die Zukunft fehlen. An Kolonisations- und Eisen¬
bahngesellschaften freilich fehlt es nicht, namentlich
die Einführung der Republik hat darin einen grossen
Aufschwung gebracht, wie diese Gesellschaften ge¬
leitet werden und worauf sie basieren, darüber ein
Beispiel: 1890 wurde eine Eisenbahn vom Estreito
(gegenüber Desterro) nach Blumenau und zugleich
vom Hafen Säo Francisco nach Blumenau konzes¬
sioniert. Von Blumenau sollte die Bahn nach dem
Hochlande weitergeführt werden und mit einigen
Zweiglinien zusammen 2000 km Länge haben, wo¬
bei für 30000 Milreis pro Kilometer 6 °/o Zinsen¬
garantie gewährt wurde. Nun würden schon die
circa 100 km lange Strecke Estreito-Blumenau, zu¬
sammen mit der eben so langen Säo Francisco-Blu-
menau, da sie über mehrere ungemein steile, bis zu
1000—1200 m hohe Bergketten führen, die garantierte
Gesamtsumme von 60 Millionen Milreis sicher ver¬
schlingen, dabei wären diese Strecken vollkommen
überflüssig, da der Itajahyfluss und die See viel
billigere und bequemere Verbindung gewährt. Auch
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5io
Geographische Mitteilungen.
die weiteren Strecken würden sicher in einem Men¬
schenalter noch nicht die Betriebskosten für eine
Vollbahn aufbringen. Tertiärbahnen oder höchstens
billige Sekundärbahnen wären vielleicht am Platze
gewesen. Allein für zweckmässige, solide Anlagen,
durch die man nicht im Handumdrehen reich wer¬
den kann, trifft man in Brasilien wenig Verständnis,
— den Leitern solcher Gesellschaften aber, wie die
eben erwähnte, kommt es ja im Grunde auch nur
darauf an, von der Regierung augenblickliche Vor¬
teile zu erlangen und die Aktien unterzubringen;
was aus den Unternehmungen selbst wird, ist ja
schliesslich gleichgiltig.
Wenn in Deutschland vielfach dem Erlass von
der Heydt (durch den 1859 die Auswanderung von
Preussen nach Brasilien erschwert wurde) die Schuld
zugeschrieben wird, dass Südbrasilien nicht eine
starke deutsche Bevölkerung habe, so beruht das
auf optimistischer Täuschungoder Unkenntnis der that-
sächlichen Verhältnisse. Seit den letzten 15 Jahren
begünstigt die brasilianische Regierung durchaus nicht
mehr die deutsche Einwanderung, da sie das Auf¬
streben und Erstarken des deutschen Elementes fürch¬
tete; anstatt der Deutschen wurden Italiener ein¬
geführt. Nun sind aber alle Kolonien in Brasilien
von der Regierung oder doch von Privatleuten mit
Regierungsunterstützung angelegt worden. Ohne
Regierungsunterstützung konnten daher keine Ein¬
wanderer angesiedelt werden; der Bildung von land¬
wirtschaftlichen Lohnarbeitern sind aber die Ver¬
hältnisse ungünstig. Alsdann ist zu beachten, dass
überall, wo die Kolonien vernünftig angelegt und
reell geleitet wurden, es durchaus nicht an deutschen
Einwanderern gefehlt hat. Es ist hier an die Kolonie
Säo Louren^o in Rio Grande zu erinnern, wo trotz
Erlass von der Heydt, vorzugsweise Preussen
(Rheinländer und Pommern) angesiedelt sind. Diese
Kolonie bietet eben die günstigsten Absatzverhält¬
nisse in Rio Grande do Sul. Im Gegensatz dazu
konnte Donna Francisca, trotzdem es die Vergünsti¬
gung hatte, jährlich 1000 Kolonisten zu ermässigten
Fahrpreisen von Hamburg einzuführen, nicht empor¬
kommen — einfach, weil der Boden schlecht und
auch die Leitung unbefriedigend war. Kolonisten,
denen es gut geht, sind eben in der Regel bestrebt,
ihre Verwandten und Bekannten nachkommen zu
lassen, und da hilft denn kein Auswanderungsver¬
bot, kein Erlass von der Heydt, es wird doch
umgangen. Wo dagegen die Verhältnisse ungünstig
sind, da hilft keine Reklame, die Einwanderung
hört von selbst auf. Für Brasilien kommt noch in
Betracht, dass namentlich in der letzten Zeit das
nativistische, der Einwanderung feindliche Element,
auch unter den Beamten maassgebenden Einfluss ge¬
wann und die Einwanderer vielfach systematisch
oder vielmehr unsystematisch zu demoralisieren und
zu Grunde zu richten suchte, wie das besonders 1890
bei der Masseneinwanderung von Deutschen und
Polen hervortrat. Wären die Verhältnisse in Süd¬
brasilien der Entstehung eines Neudeutschland, von
dem Kolonialenthusiasten schwärmen, günstig ge¬
wesen, so hätte sich ein solches bereits gebildet;
die Auswanderung von Deutschland nach Brasilien
begann in diesem Jahrhundert, nicht später als die
nach Nordamerika; auch der Unterschied der Ent¬
fernung kommt nicht in Betracht, denn die brasi¬
lianische Regierung gewährte häufig Passage zu er¬
mässigten Preisen oder gar völlig freie Reise. Dass
dennoch die Erfolge in der Kolonisation verhältnis¬
mässig gering sind, liegt an den eigentümlichen
Verhältnissen, die ich hier mit berührt habe. Dass
namentlich Santa Catharina in näherer Zukunft einen
grösseren wirtschaftlichen Aufschwung nehmen werde,
ist nach allen Anzeichen wenig wahrscheinlich.
Geographische Mitteilungen.
(Ten Kates Reisen in der Südsee.) Da wir
in unserem Aufsatze »Forschungsreisen in Niederländisch-
Ostindien« *) auch die Untersuchungen des noch jugend¬
lichen, aber sehr verdienstvollen niederländischen An¬
thropologen Dr. H. F. C. ten Kate besprochen haben,
wollen wir hier in aller Kürze einige Notizen über seine
weiteren Reisen und Pläne mitteilen, wie dieselben aus
zwei in der Zeitschrift des Niederl. Geogr. Vereins ver¬
öffentlichten Briefen bekannt geworden sind.
Nachdem ten Kate seine Untersuchungen im Auf¬
träge des Königi. Niederl. Geogr. Vereins beendet hatte,
fuhr er am 23. September 1891 von Koepang (Timor)
nach Soerabaja, um sich dort auf einen mit Zucker be¬
ladenen Dampfer nach Australien ein zu schiffen. Am
4. November erreichte er über Cheribon, durch die Bali-
Strasse und an Kap Leenwin vorbei, Melbourne, fort¬
während durch das Fieber gequält. Er stellte hier,
sowie in Sidney, Brisbane und der Umgebung dieser
Städte einige Untersuchungen an, besuchte auch die
Blue Mountains und bekam endlich am 24. Dezember
die sehnsüchtig erwartete Gelegenheit, sich in Sidney
auf einem deutschen Postdampfer nach den Südsee-Insein
einzuschiffen. Unterdessen hatte er von dem »Kon.
Instituut voor de taal-, land- en volkenkunde van Neder-
landsch-Indie« in S’Gravenhage eine Einladung erhalten,
an Stelle des verstorbenen Prof. Wilkcn die Inseln
Boeroe, Ceram und die Südwester ethnographisch zu
untersuchen. Obwohl geneigt, diesen Antrag zu ac-
ceptieren, zweifelt er es in seinem letzten Briefe (vom
13. Februar 1892) an, ob seine Gesundheit es ihm er¬
lauben werde.
Die erste von ihm besuchte Südsee-Insel war
Tongatabu, wo er am 1. Januar 1892 in Nukualofa an¬
langte. Er durchkreuzte die ganze Insel, die aber von
einem ethnographischen Standpunkte aus wenig Merk¬
würdiges bietet. »Die Mission hat alles vernichtet«,
schreibt ten Kate. Interessant müssen die riesigen
steinernen Gräber unweit Mua sein, sowie andere mega-
lithische Monumente aus alter Zeit. Anthropologisch
bilden die Tonganer grösstenteils einen Uebergangs-
typus zwischen Polynesiern und Negroiden. Es muss
eine starke Mischung mit Melanesiern, vor allem mit
Fidjiern, stattgefunden haben. »Je mehr ich sehe, desto
l ) Siehe diese Zeitschrift, 1892, Nr. 1, 2 und 3.
Digitiz ed b) ,GoogIe
Litteratur.
5 11
verwickelter scheinen mir die Rassenfragen Insulindes
und Oceaniens zu sein.« — Am 18. Januar segelte er
nach Apia (Samoa) über, wo er nur anderthalb Tage
verblieb. Die Samoaner stimmen der Hauptsache nach
mit den Tonganern überein, sind aber anthropologisch
viel reinere Polynesier; auch haben sie viel weniger
durch die »Bildung« gelitten als die Bewohner von
Tonga und Tahiti. — Am 27. Januar landete er darauf
in Papeete auf Tahiti. Die Insel ist nach ihm wirklich
schön mit ihren »majestätischen Bergspitzen, grünen
Thälern und brausenden Flüssen«, die Bewohner aber
müssen seit Wallis, Bougainville und Cook körper¬
lich stark abgenommen haben. »Wirklich schöne, ausser¬
ordentlich kräftig entwickelte Individuen von beiden
Geschlechtern sind hier jetzt fast ebenso selten als auf
Tonga.« Da ten Kate von seiner Ankunft in Papeete
an besonders heftig vom Fieber ergriffen wurde, konnte
er auf Tahiti noch nicht viel ausführen. Erhoffte aber
bald eine Exkursion durch die Insel, sowie auch durch
die Halbinsel Taiarapu antreten zu können. (Mitteilung
von H. Zondervan in Bergen-op-zoom.)
(Aus Borneo.) Wie Lord Elphinstone, der Di¬
rektor der »North Borneo Company«, berichtet, ist das
frühere Piratenwesen an der Küste, sowie die Kopfjägerei
(head-hunting) im Inneren der grossen Insel Borneo
jetzt vollständig unterdrückt. Auch die Sklaverei —
dank den protestantischen und katholischen Missionen —
hat fast gänzlich aufgehört. Das Gebiet der Gesellschaft
umfasst 80540 qkm mit einer auf 175000 Köpfe ge¬
schätzten Bevölkerung. Unter Tabak standen im letzten
Jahre 265 000 ha Land, und es wurden gute Sorten
produciert. Diese blühende Industrie hat jedoch durch
die Mac Kinley-Bill der Vereinigten Staaten von
Nordamerika sehr gelitten, und man befürchtet daraus
noch weitere Nachteile für die Pflanzer. Im Bette ver¬
schiedener Flüsse wurde Gold gefunden. Die öffentlichen
Einnahmen steigern sich kontinuierlich, im Jahre 1891 be¬
trugen sie 69759 £ gegen Ausgaben von 72292. Mit
China besteht ein lebhafter Handelsverkehr. Die Haupt¬
stadt Sandakan zählt 6350 Einwohner, meist Chinesen.
(Mitteilung von H. Greffrath in Dessau.)
(Zur Guanahani-Frage.) Wie der Engländer
Mr. Gibbs aus dem Originaljournale von Columbus
nachweisen zu können glaubt, fand die erste Landung
des Columbus auf der Westseite des Atlantischen
Oceans nicht, wie gewöhnlich angenommen wird, auf
St. Salvador oder Cat Island (Bahamas), sondern auf
Grand Turk, Turks Islands (Bahamas) statt. Für
sicher erwiesen darf diese Behauptung, die eben nur
eine neue Hypothese aufstellt, natürlich noch nicht gelten
(vgl.auchS.495). (MitteilungvonH.GreffrathinDessau.)
Litteratur.
Communications de l’observatoire magnetique de
Copenhague. Par Adam Paulsen, Directeur de l’institut
meu?orologique de Dänemark. Copenhague, Bianco Luno
(F. Dreyer), 1892. 68 S. gr. 8°.
In der interessanten Einleitung wird bemerkt, dass 1649
ein gewisser Hermann Luchtemacher erstmalig die magne¬
tische Deklination in der dänischen Hauptstadt bestimmt hat,
und zwar zu 1 l /a 0 (östlich). 23 Jahre später fanden Bartholin
und Picard, welch letzterer damals seine bekannte Reise zur
Untersuchung des Observatoriums Tycho Brahes machte, 3 0 35'
(westlich), wahrscheinlich unrichtig, wenn man nach der von
D’Arrest für die säkulare Veränderung der Missweisung ge¬
gebenen Formel zurückrechnet. Seit 1786 (Bugge) liegen regel¬
mässige Messungen dieses Elementes vor, und auch für Neigung
und Stärke sind seit 1820 (Hansteen) von Zeit zu Zeit solche
vorgenommen worden.
Hierauf tritt Herr Paulsen in eine detaillierte Beschrei¬
bung der zum meteorologischen Institute gehörigen, von ihm
selbst eingerichteten geomagnetischen Warte ein, welche für ab¬
solute Beobachtungen mit einem Theodoliten von Bamberg
und einer Inklinationsbussole von Dover ausgerüstet ist. Für
Variationsbeobachtungen der horizontalen Komponente dient ein
Lamontsches Unifilarmagnetometer, und ebenso wird Lamonts
Verfahren angewendet, um die Schwankungen der vertikalen
Komponente zu verfolgen. Als Selbstregistratoren wurden die¬
jenigen von Mascart gewählt. Der Verfasser entwickelt kurz
die Theorie einzelner Apparate, verbreitet sich ausführlich über
die Temperaturkorrektionen, über die Ermittelung der Trägheits¬
momente und der Induktionskoefficienten und setzt überhaupt
seine Leser in den Stand, sich selber ein Urteil über die Zu¬
verlässigkeit der Bestimmungen zu bilden. Als Muster für jede
an ein wissenschaftliches Publikum sich wendende Charakteristik
eines Observatoriums ist in dieser Hinsicht die kleine Schrift
sehr zu empfehlen. Fortsetzung und Schluss derselben bilden
die bei den bisherigen Beobachtungsreihen vom Verfasser er¬
zielten Ergebnisse. Gegen das Ende des Jahres 1891 war die
Missweisung beinahe genau 11 °, die Inklination nicht ganz 69 °.
Auch von einigen anderen Gegenden Dänemarks berichtet der
Verfasser; wichtig dürfte sein, dass er auf der alten Granitinsel
Bornholm sehr starke magnetische Anomalien nachzuweisen ver¬
mochte.
Litteratur der Landes- und Volkskunde der Pro¬
vinz Schlesien. Zusaramengestellt von Prof. Dr. J. Part sch.
Heft 1. Ergänzungsheft zum 69. Jahresbericht der Schlesi¬
schen Gesellschaft für vaterländische Kultur. Breslau, G. P.
Aderholz’ Buchhandlung, 1892. IV und 92 S. gr. 8°.
In Nr. 18 dieses Jahrganges war von der Zusammenstellung
der landeskundlichen Litteratur der preussischen Lande die Rede,
welche auf Anregung von Prof. Hahn (Königsberg) von den
Herren Re icke und Schack vorgenommen worden war. Dieser
Schrift stellt sich die vorliegende zur Seite, welche von Prof.
Part sch redigiert ist und als ein neues, wertvolles Ergebnis
jener landeskundlichen Arbeiten anzusehen ist, zu denen vor
nunmehr genau zehn Jahren R. Lehmann den Anstoss gegeben
hat. Für Schlesien gerade war die Aufsuchung und Ordnung des
Materiales sehr mühsam, und es haben deshalb auch zahlreiche
Freunde der Sache — das Vorwort nennt ihre Namen sämtlich —
dem Werke ihre Unterstützung geliehen; diese Provinz besitzt
nämlich schon seit geraumer Zeit einen Mittel- und Sammelpunkt
für die Landeserforschung in der gelehrten Gesellschaft, welche
auch die Veröffentlichung der vorliegenden Schrift besorgt hat,
und eben aus diesem Grunde ist die Menge der Publikationen,
welche es sachgemäss zu registrieren galt, eine sehr beträchtliche
geworden. Mit den Grundsätzen, nach welchen Herr Part sch
die Einteilung dieses stattlichen Stoffes durchgeführt hat, können
wir uns nur vollkommen einverstanden erklären; wer sich die
Ueberschriften der einzelnen Abteilungen angesehen hat, wird
sofort wissen, wo er dies oder jenes aufzusuchen habe.
Als letzte Rubrik erscheint, worin wir eine nachahmens
werte Neuerung erblicken, der »Gebirgsmagnetismus«, zu dessen
näherer Kenntnis der Breslauer Physiker O. E. Meyer, zumal
an dem isolierten Zobtenberge, ein paar schätzenswerte Beiträge
geliefert hat. Es herrscht, wie man weiss, zur Zeit noch Meinungs¬
verschiedenheit darüber, ob man mit E. Naumann die von den
Gebirgen ausgehende Störung des Verlaufes der magnetischen
Kurven als etwas von der Gesteinsbeschaffenheit Unabhängiges
erkennen oder, wie die Engländer Thorpe und Rücker wollen,
darin nur eine Steigerung des altbekannten Gesteinsmagnetismus
sehen solle. Referent neigt entschieden der ersteren Auffassung
zu; solange aber beide Phänomene noch wohl oder übel zu¬
sammen betrachtet werden müssen, würde er Arbeiten wie die¬
jenige von Blesson über das polarmagnetische Verhalten ge¬
wisser schlesischer Felsarten lieber im letzten Abschnitte als im
geognostischen Teile verzeichnet wissen. Hier unterliegen sie
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512
Litteratur.
der Gefahr, unbeachtet zu bleiben, wogegen sie am anderen Orte,
unbeschadet der wissenschaftlichen Streitfrage, ob sie wirklich
dorthin gehören, leichter bemerkt und von dem, der sich dafür
interessiert, entsprechend verwertet werden können.
S. Günther.
Tangaland und die Kolonisation Deutsch-Ostafrikas.
Thatsachen und Vorschläge von Dr. Karl Kärger, Privat-
docenten an der landwirtschaftlichen Hochschule zu Berlin.
Berlin, Hermann Walther, 1892. 177 S. gr. 8°.
Erst kürzlich, in Nr. 14 dieser Zeitschrift, veranlasst durch
Wohltmanns Werk über die tropische Agrikultur, hatten wir
die Anregungen zu rühmen, welche aus der Kolonialbewegung
für die wissenschaftliche Entwickelung erwachsen. Denn nur
aus dem Interesse an bleibendem Besitz, nicht aber aus blossen
Forschungsexpeditionen der idealen, wissenschaftlichen Länder¬
kunde kommt es zu einem so intensiven Beobachten des Bodens
und seiner Verwendung, welches zu Hand- und Lehrbüchern der
Bodenkultur, seien sie allgemeiner Natur oder gar nur einem
eng begrenzten Kolonialland gewidmet, unerlässlich erscheint.
In letzterem Sinne nun arbeitete vor kurzem ein erprobter und
thatkräftiger Fachmann: Dr. Kärger veröffentlichte ein Buch
über die gesamte wirtschaftliche Benutzung eines Teiles von
Deutsch-Ostafrika, nämlich des Tangalandes, wobei er aber vor
allem durch Geographie des Bodens und dessen Kultivation, vom
Standpunkt des wissenschaftlichen Landwirtes aus dargelegt, sich
Verdienste erwirbt.
Kärger kam nach Ostafrika, bereits erfahren in Beurtei¬
lung tropischer Bodenkultur und ihrer Faktoren, namentlich durch
längeren Aufenthalt in Brasilien. Bei dem unvorteilhaften Gegen¬
sätze jener steppenreichen und wasserarmen Gebiete zu letzterem
Lande musste er vor Ueberschätzung des deutschen Kolonial¬
bodens im voraus sicher sein. Man durfte also schon deshalb
von ihm eine Darlegung erwarten, welche durch Gesinnungs¬
momente unbeeinflusst schildert, wenn es nicht schon durch die
fachkundige Gewissenhaftigkeit des Autors verbürgt wäre, dass
er Thatsachen allein wirken lassen wolle.
Bestimmt nun auch ein nur eng begrenzter Teil des weiten
Koloniallandes den Titel des Buches, so hat letzteres doch bereits
durch seine örtlich konkreten Angaben eine allgemeinere Be¬
deutung, weil die Gleichartigkeit des geognostischen und petro-
graphischen Baues wie des Klimas in den dortigen küstennäheren
Gebieten von den Thatsachen des Tangalandes und Usambaras aus
auch auf die Beschaffenheit der südlich angrenzenden Fortsetzung
des Landes schliessen lässt.
Sodann aber widmen sich fast zwei Dritteile des Gesamt¬
inhaltes der Belehrung über Arbeiten und Maassregeln, welche
als Ergebnisse des Wissens über tropische Agrikultur überhaupt
eine Anwendung auf Tanga, Bondei und Usambara finden. Andere
von Kärger erörterte wirtschaftliche Fragen, wie über die Lei¬
tung des Handels und über Förderung der Produktion von
seiten der Kolonialverwaltung, sind als Gegenstand von weiter
greifender Wichtigkeit nicht nur in Bezug auf Gesamtostafrika
von Belang.
Landstrich um Landstrich wird durchgesprochen. Kurz,
aber vollständig genug kennzeichnet Kärger die Ergiebigkeit der
Nutzpflanzen der Küstenniederung als eine für die Tropenzone ge¬
ringe : weder Kokos noch Bananen, nicht Ananas, nicht Maniok
verdienen das Lob reichlichen Gedeihens. Jedenfalls aber werden
die Anbauversuche gegenüber den dortigen Eigentümlichkeiten
der schwankenden Regenzeit erst nach längerer Fortsetzung
wesentliche Klarheit über einzelne wichtige Ansaaten zu bringen
haben, wie über Mais, Sesam, Baumwolle. Merkwürdig ist das
Vorkommen von Zuckerrohr, das an vielen Punkten wild in ver¬
einzelten Büscheln wächst, während diese Graminee im Pangani-
Thale von Arabern durch Sklaven im grossen gebaut wird.
Wichtig für die gesamte Kultur jener Gegenden erscheint
uns besonders die Empfehlung des Kaffeebaues durch unseren
Autor. Sowohl in dem von ihm geprüften Bondei, welches wir
nun als mittelgut in Bezug auf tropische Fruchtbodenbeschaffen-
heit zu bezeichnen haben, wie auch im nordwestlichen Usambara
wäre Boden dafür vorhanden. Diese Empfehlung leuchtet um
so mehr ein, als Kärger die vorhandene lehmig-sandige Roterde
nicht als dem Laterit schlechtweg zugehörig erkennt und eine
mächtige Auflagerung steinlosen Bodens als gegeben erklärt.
Wie schon Wohltraann den Lateritschrecken wesentlich abzu¬
schwächen sucht, so wird durch solche konkrete Charakteri¬
sierung eines anderwärts auch als dem Laterit nahe verwandt be-
zeichneten Bodens das Bedauern Über dessen Verbreitung einge¬
schränkt. Wir glauben, dass beim Vorrticken der Kultivation in
Afrika mittels Anbau mit perennierenden Pflanzen überhaupt das
Beklagen der Lateritflächen zurtickgehen muss, weil eben dann die
trostlose Beschaffenheit dieser Bodenart infolge der Beschattung
und Düngung durch das Laub nicht mehr existiert; der Boden wird
humos; eine humose Lateriterde aber gibt es in Wirklichkeit nicht.
Hat man aber erst für eine durch Güte und billigen Trans¬
port lohnende, jährlich sichere Ernte landeinwärts in weiterem
Umfange durch solchen Anbau vorgesorgt, dann ist von selbst
für die gesamte Bevölkerung in der Umgebung der Pflanzungen
eine höhere Gesittung erwirkt, da man ja nur mit der Arbeit von
Freien den betreffenden Erfolg erzielt, sowie auch naturgemäss
Ermutigung und Mittel zu anderen Kulturen sich anschliessen.
Es würde dies ein Fortschritt von unberechenbaren Folgen sein
gegenüber den bisherigen überaus armseligen und winzigen Kulti-
vationsergebnissen. Afrika besitzt in seiner Species des liberi-
schen Kaffees eine Pflanze, welche sowohl durch Ausbildung der
Frucht als durch deren Qualität es überaus erleichtert, auf sichere
Ernte in solchem östlichen Boden zu rechnen. Es dürfte also
zu erwarten sein, dass Kärgers Rat auch das Gehör von Unter¬
nehmern findet.
Nach allen Seiten hin würden letztere in seinem inhalts¬
reichen, durchaus praktischen Buche Anleitungen empfangen,
nachdem dieses zweifellos zu den lehrreichsten litterarischen Er¬
zeugnissen gehört, welche von der heutigen Kolonialbewegung
veranlasst worden sind.
München. W. Götz.
Das Gesetz über das Postwegen des Deutschen
Reiches vom 28. Oktober 1871. Erläutert von Dr. Otto
Dambach, Wirklichem Geheimem Ober-Post-Rat und Professor
der Rechte an der Universität zu Berlin. Fünfte, erheblich
vermehrte und veränderte Auflage. Berlin 1892, Verlag von
Th. Chr. Fr. Enslin.
Eine Besprechung im gewöhnlichen Sinne des Wortes ist
hier nicht nötig. Ein Werk von Otto Dambach in fünfter
Auflage gehört selbstverständlich zu den »Standard books«, gut
deutsch: zu den mustergültigen Büchern. Das W r erk war ver¬
griffen, und so musste zu einer neuen Auflage geschritten werden.
Dem gewissenhaften Verfasser genügte der Abdruck der vierten
Auflage nicht mehr, neuere Verfügungen und Veränderungen
mussten berücksichtigt werden. Verfasser sagt in dem Vorwort:
»Bei der vorliegenden fünften Auflage« — die vierte Auflage
erschien 1881 — »ist der Plan und die Anlage der früheren
Auflagen beibehalten worden; es sind aber selbstverständlich
nicht nur die inzwischen ergangenen zahlreichen Verfügungen
der obersten Reichs-Postbehörden (deren Benutzung dem Ver¬
fasser mit Rücksicht auf seine amtliche Stellung gestattet war)
berücksichtigt worden, sondern es haben auch Forschungen der
neuesten Litteratur auf dem Gebiete des Postrechtes und ins
besondere die vielfachen Entscheidungen des Reichsgerichts ein¬
gehende Verwertung gefunden. Der Umfang und der Inhalt des
Buches ist dadurch erheblich erweitert worden, so dass bei nur
sehr wenigen Paragraphen des Gesetzes die Erläuterungen un¬
verändert geblieben sind.«
Wenn das Buch auch hauptsächlich für den praktischen
Gebrauch für die Postbeamten abgefasst ist, so empfiehlt es sich
doch auch für Behörden und solche, die infolge ihrer Thätigkeit
viel mit der Post zu thun haben.
Diese neue Auflage wird als ein alter, treu bewährter Rat¬
geber empfangen werden. Das Register dient zur leichten und
schnellen Orientierung.
Berlin. Henry Lange.
Verlag der J. G. Cotta’sehen Buchhandlung Nachfolger
in Stuttgart.
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft ebendaselbst.
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Erdbebenprophezeiungen.*)
Von H. Habenicht (Gotha).
Eines der höchsten Ziele menschlichen Strebens
ist die genaue Vorausbestimmung zukünftiger Natur¬
ereignisse, besonders solcher, welche tief in die
Geschicke der Menschen eingreifen. Unter diesen
sind es gewisse Witterungserscheinungen und Erd¬
beben, unter letzteren hauptsächlich die grossen,
verheerenden, welche die Schicksale der Menschen
teilweise so stark beeinflussen, dass es uns nicht
verwundern kann, wenn wir seit den ältesten Zeiten
sich vielfach Gelehrte und spekulative Dilettanten
auf diesem Gebiete in Weissagungen versuchen sehen.
Besonders die letzteren, die Dilettanten, haben es bei
einigem Glück auch noch in der Gegenwart bis¬
weilen zu bedeutender Popularität gebracht. Dieser
Umstand dürfte sich wohl daraus erklären, dass die
moderne Wissenschaft, trotz ihrer unverkennbar
grossartigen Fortschritte auf zahlreichen Gebieten,
gerade auf diesem so wichtigen Felde wenig oder
keine Resultate aufzuweisen hat, welche ein grösseres
Publikum befriedigen können.
Die Leistungen der modernen Wetterwarten in
Bezug auf Witterungsprognosen für grössere Land¬
striche sind bisher nur mit einiger Sicherheit auf
den Zeitraum der nächstfolgenden 24 Stunden ge¬
glückt, wobei aber die Zahl der Treffer nach Aus¬
sage des Leiters der Hamburger Wetterwarte, Herrn
Dr. van Bebber, noch vielfach unbefriedigend ist.
Immerhin verdienen diese Erfolge alle Anerken¬
nung, von besonderem Nutzen sind die Sturm¬
warnungen. Die Versuche dagegen, welche bis-
*) Dass der Herausgeber in seiner Auffassung der geo-
dynamischen Probleme von dem Herrn Verfasser abweicht, letztere
aber gleichwohl für sehr beachtenswert hält, hat derselbe in
seinem »Lehrbuch der Physikalischen Geographie« (Stuttgart
1891) des näheren dargelegt.
Ausland 1893, Nr. 33-
her in der Erdbebenprognose gemacht wurden, haben
noch gar keinen nennenswerten Erfolg gehabt. Das
gilt auch von den Falb sehen Prophezeiungen. Es
ist Herrn Falb bisher nicht gelungen, das Eintreffen
eines Erdbebens in Bezug auf Ort. Zeit und Stärke
zugleich auch nur annähernd genau vorauszusagen.
Die Treffer Falbs auf diesem Feld reduzieren
sich bei eingehender Prüfung auf ein um einige
Prozent häufigeres Eintreffen von Beben in Nähe
der Syzygien (wo Sonne und Mond in einer gera¬
den Linie wirken), als in der Nähe der Viertel¬
stellungen des Mondes. Das war bereits vor Falb
bekannt, genügt aber bei weitem nicht zu einer
Voraussage. Gerade die stärksten Aeusserungen der
seismischen Kraft, die grössten, verheerendsten Erd¬
beben, wie das Lissaboner, sind meist nicht in die
Nähe von Syzygien gefallen. Durch wissenschaft¬
liche Untersuchungen wurde ausserdem bisher ge¬
funden, dass die Erdbeben im Winterhalbjahr der
Nordhemisphäre, also in der Jahreshälfte grösserer
Sonnennähe, häufiger auftreten als in dem anderen
Halbjahr. Dies gilt besonders von den Gegenden
in niederen Breiten. Das Gleiche haben einige
Forscher von dem Einflüsse des Mondes während
seiner Erdnähe behauptet. Ferner hat man manche
Linien in der Erdoberfläche und auf diesen wiederum
Punkte gefunden, auf welchen besonders die grossen,
verheerenden oder häufige Erdbeben auftreten. Ein¬
zelne Erdbebenstatistiker wollten ferner beobachtet
haben, dass Erdbeben häufig dann eintreten, wenn
tiefe barometrische Minima mit steilen Gradienten,
die Vorboten von Orkanen, über den betreffenden
Gegenden lagern; jedoch hat sich diese Annahme
nicht immer bestätigt. In Japan hat man die Erd¬
beben häufiger bei Ebbe als bei Flut auftretend
gefunden. Aber alle diese Anhalte geben keine
genügende Handhabe zur Erdbebenprognose.
Wenn man die erdbebenbegünstigenden Fak-
65
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Erdbebenprophezeiungen.
514
toren überblickt, so fällt auf, dass die Häufigkeit
der Beben stets dann grösser ist, wenn der Schwere
entgegenarbeitende Kräfte von aussen auf die Erde
einwirken; noch kein Beobachter oder Statistiker
hat, soweit uns bekannt, als allgemeine Regel ge¬
funden, dass die Erdbeben bei Sonnen- oder Mond¬
ferne, zur Zeit der Quadraturen, bei besonders hohem
Luftdruck mit grosser, gleichmässiger Ausbreitung,
Maxima aufweisen. Diese Thatsache ist um so auf¬
fallender, als sie im direkten Widerspruch mit der
modernen Schrumpfungstheorie steht, nach welcher
sich der Erdkern durch allmähliche Abkühlung ver¬
kleinern und die Erdkruste nachsinken soll, wobei
die meisten Erdbeben, die sogenannten tektonischen,
als Begleiterscheinungen dieses Schrumpfungsprozesses
gedacht werden.
Die Fluttheorie erscheint bei oberflächlicher Be¬
trachtung hier als willkommene Erklärung, aber das
Eintreffen von Erdbeben an Hochfluttagen und zur
genauen örtlichen Hochflutzeit ist so ausserordentlich
unregelmässig und unpünktlich, dass die Fachge¬
lehrten gewiss im Rechte sind, wenn sie die Falb sehe
Theorie ablehnen. Immerhin ist, wie auch von
manchen Gelehrten zugegeben wird, ein Körnchen
Wahrheit an der Falbschen Sache, und es entsteht
die Aufgabe, dieses Körnchen möglichst rein heraus¬
zuschälen.
Das Wesentliche, Gesetzliche vieler problema¬
tischer Naturerscheinungen ist zumeist an den mar¬
kantesten Kraftäusserungen derselben erkannt wor¬
den. Eine Statistik der Erdbeben, welche nur die
Häufigkeit der einzelnen Stösse und Vibrationen be¬
rücksichtigt, bringt z. B. die grössere Häufigkeit
der Erdbeben im Winterhalbjahr der Nordhemi¬
sphäre nur schwach zum Ausdruck. Für die süd¬
liche Erdhälfte, für welche weniger Material vorliegt,
ist man damit sogar teilweise zu dem entgegen¬
gesetzten Resultat gelangt. Das heisst, eine Zu¬
sammenstellung hat die grössere Häufigkeit der Erd¬
beben daselbst während der Monate April bis Sep¬
tember ergeben. Zieht man dagegen nur die grossen,
in ihren Wirkungen sich über weite Gebiete er¬
streckenden, besonders verheerenden Erdbeben, welche
ausser dem grössten Interesse noch den Vorteil bieten,
dass sie kaum unbemerkt bleiben, in Betracht, so
prägt sich die oben erwähnte Gesetzmässigkeit un¬
gleich schärfer aus. Von den 22 grossen Erdbeben,
welche mit Datum- oder Monatangabe in den beiden
(alten und neuen) Ausgaben von Berghaus’ Physi¬
kalischem Atlas enthalten sind, fallen 1 6 in die
Winterhalbjahre der Nordhemisphäre, und zwar die
verheerendsten, und von den sechs Beben, die in
den anderen Jahreshälften Vorkommen, sind einige
wahrscheinlich auf Einstürze zurückzuführen, wie
das grosse Einsturzbeben am »Ran of Catch« an
der Indusmündung. Diese würden also, der Zeit
ihres Auftretens nach, naturgemäss durch die ver¬
minderte Anziehung der Sonne zur Zeit ihrer Erd¬
ferne befördert worden sein. Aehnliche Verhältnisse
habe ich bei Durchsicht anderer Statistiken und Be¬
richte gefunden.
Die Fälle, in denen grosse Beben im April-
September-Halbjahr auftraten, liegen fast alle in
einer Zone, welche sich vom Roten (resp. Mittel-)
Meer und Kleinasien über Afghanistan nach China
erstreckt. Dieses ist aber genau der Landstrich, über
welchem im Sommer dauernd der niedrigste Luft¬
druck auf der ganzen Erde herrscht; also auch hier
dürfte die Veranlassung in einer Entlastung zu
suchen sein.
Diese Thatsachen widersprechen der Schrumpf¬
ungstheorie noch entschiedener als die Resultate der
allgemeinen Erdbebenstatistiken. Während nach dieser
Theorie unbedingt die Maxima an Häufigkeit und
Stärke in die Zeiten der Sonnenferne, Mondferne,
Quadraturen, hohen, weit und gleichmässig ver¬
breiteten Luftdruckes u. s. w. fallen müssten, findet
das Gegenteil, wie wir oben gesehen haben, statt.
Als Ursache der Erdbeben können selbstver¬
ständlich die äusseren entlastenden Kräfte nicht be¬
trachtet werden. Die Thatsache, dass die Maxima
der Erdbeben in längere Zeiträume fallen, in denen
solche Kräfte anhaltend wirken und dass sie häufig
in die Nähe solcher Tage fallen, an denen mehrere
derartige Kräfte Zusammenwirken, weist vielmehr
mit Bestimmtheit auf eine weitverbreitete, fortwäh¬
rend wirkende unterirdische, hebende Kraft als Ur¬
sache dieser gewaltigen Naturerscheinung hin, welche
durch die zeitweise stärkere Mitwirkung jener äusseren
Kräfte unterstützt wird. Wenn diese Annahme richtig
ist, so müssen die grossen Beben ganz besonders dann
eintreten, wenn mehrere Hochfluttage erster
und zweiter Ordnung (denn an solchen treffen
mehrere der bewussten Faktoren zusammen) i m
Winterhalbjahr in ununterbrochener Reihe
aufeinanderfolgen.
In der »Deutschen Rundschau für Geographie
und Statistik« (Wien, Hartleben), 1890. p. 264, habe
ich eine Zusammenstellung der bedeutenderen Erd¬
beben, nach der Stärke unterschieden, für den Zeit¬
raum vom Oktober 1888 bis ebendahin 1889 publi¬
ziert. In diesem Zeitraum kamen sieben grössere
Erdbeben vor, und zwar entfielen alle sieben auf
das Winterhalbjahr der nördlichen Erdhälfte. Da¬
von aber fielen wiederum fünf auf die Zeit von
Anfang Februar bis April, der einzigen Zeit des be¬
treffenden Jahres, in der mehrere (sechs) Hochflut¬
tage erster und zweiter Ordnung in ununterbrochener
Reihe aufeinanderfolgten.
Wir haben in diesem Jahre Gelegenheit,
den Wert dieser, hier zum erstenmale öffent¬
lich ausgesprochenenTheorie zu prüfen. Eine
Reihe von fünf solchen Hochfluttagen (mit
vierzehntägigen Intervallen) wird in die
Zeit von Anfang September bis Mitte No¬
vember fallen. In dieser Zeit würden wir
hiernach einige grössere Erdbeben zu erwar¬
ten haben.
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Afrikanische Neuigkeiten.
515
Es ist dies zwar auch nur eine nicht eben be¬
stimmte Prognose, aber wenn man berücksichtigt,
dass es nur wenige Linien der Erde und auf diesen
wieder nur einzelne Punkte sind, auf denen über¬
haupt bisher die Centren grosser Erdbeben lagen,
wenn es sich bestätigt, dass die Bewohner solcher
Gegenden in jenen Perioden, besonders zur Ebbe¬
zeit oder während und unmittelbar nach Perioden
anhaltenden niederen Luftdrucks gefährdet sind, so
dürfte darin immerhin ein Fortschritt zu erblicken
sein. Die hauptsächlich gefährdeten Gegenden sind:
Lissabon, Süd-Italien mit dem Centrum in Süd-
Kalabrien, einzelne Punkte im griechischen Archipel
und in West-Kleinasien, Bengalen, Sunda-Inseln, be¬
sonders Java, Philippinen, Teile von Japan, Kali¬
fornien, gewisse Punkte in Central-Amerika, den
Kleinen Antillen, Caracas, Quito und Punkte in
Peru und Chile (Arica, Concepcion). Eine genauere
Aufzeichnung der gefährdeten Linien und Punkte
hat der Verfasser in einer Weltkarte niedergelegt,
welche sich in der »Deutschen Rundschau für Geo¬
graphie und Statistik«, August 1889, findet.
Die Einteilung der Erdbeben in vulkanische
und nichtvulkanische ist kaum durchführbar. Die
Vulkane sind in ihrer geographischen Verteilung
ebenso an die grossen Bruchlinien der Erdrinde,
welche vorzugsweise mit den grossen Kettengebirgen
zusammenfallen, gebunden, wie die Erdbeben. Man
hat vielfach auffallenden Synchronismus und Anta¬
gonismus zwischen weit auseinanderliegenden grossen
Erdbeben und vulkanischen Erscheinungen beobachtet.
Die ältere Auffassung, nach welcher zwischen diesen
beiden Phänomen ein inniger Konnex besteht, hat
viel für sich. Gibt es doch auch moderne Geo¬
logen, die beide als Begleiterscheinungen ein und
derselben Kraft, nämlich der gebirgsbildenden, an-
sehen. Auch die Vulkanausbrüche sind nach einigen
Forschern etwas häufiger im Winter als im Sommer
der Norderdhälfte, auch sie sollen häufiger zu Zeiten
stattfinden, welche in der Nähe der Syzygien, als
zu solchen, welche* in der Nähe der Quadraturen
liegen, wie erst jüngst Prof. Palmieri auf Grund
seiner langjährigen Beobachtungen auf dem Vesuv
bestätigt gefunden hat.
Afrikanische Neuigkeiten.
(II. Folge.)
(April—Juni.)
Von Brix Förster (München).
(Schluss.)
Englisch-Ostafrika.
Am interessantesten wäre unter diesem Titel
gegenwärtig eine kritische Schilderung der Vorgänge
in Uganda. Da aber die Berichte der englischen
Offiziere noch fehlen (Anfang Juli) und ohne diese
jede Kritik eine einseitige wäre, so möchte ich mir
diesen voluminösen Stoff für eine besondere Be¬
arbeitung Vorbehalten. Nur so viel des Thatsäch-
lichen: Der schon seit Jahr und Tag glimmende
Hass zwischen katholischen und protestantischen
Wagandas brach am 24. Januar 1892 in Mengo in
offenen blutigen Kampf aus. Die Engländer stellten
sich an die Spitze der Protestanten und schlugen
und vertrieben die Katholiken. Mit diesen flohen
König Mwanga und ein Teil der französischen
Missionare; der Rest von letzteren fand gezwungenen
Schutz in dem englischen Fort Kampala. Feldwebel
Kühne von der Station Bukoba rettete sowohl den
König Mwanga und den Msgr. Hirth und seine
Getreuen vor der Wut der siegreichen Waganda,
als auch englische Missionare und englisches Eigen¬
tum vor der Wut der Katholiken. Schliesslich fanden
König Mwanga und die Franzosen Schutz in. der
Nähe von Bukoba, die katholischen Waganda vor¬
läufig Sicherheit in der Provinz Buddu.
Die Englisch-ostafrikanische Gesellschaft
hätte am liebsten gleich auf das kostspielige Ver¬
gnügen verzichtet, die Ordnungspolizei für jene schwer
erreichbaren Länder zu stellen, aus denen zur Zeit
nichts zu holen ist; allein sie hatte sich anfangs
dieses Jahres der Church Miss. Soc. gegen einen
Zuschuss von mehr als einer halben Million Mark
verpflichtet, vor Ablauf dieses Jahres ihre Truppen
aus Uganda nicht zurückzuziehen. Mit ihren Finanzen
steht es ziemlich trübe; wohl hat sie die ungeschmä¬
lerte Einkassierung sämtlicher Zölle gegen eine jähr¬
liche Rente von 227000 Mark durch einen mit dem
Sultan von Sansibar kürzlich abgeschlossenen Ver¬
trag sich gesichert; allein die Zolleinnahmen betrugen
1891 nicht mehr als 287320 Mark (1890: 214260
Mark) und die Ausfuhr erreichte 1890/91 nur die
Höhe von 2 Millionen Mark, während die Expedi¬
tionen nach dem Inneren, die Errichtung von Sta¬
tionen u. s. w. 1890 und 1891 über 2 Millionen
Mark verschlangen. Da der englische Kapitalist
gar keine Begierde nach den Aktien der Gesell¬
schaft offenbart, so muss der Staat England auf
irgend eine Weise helfend eingreifen, soll nicht
das grossartig angelegte Unternehmen allmählich
zerbröckeln.
Ganz anders verhält es sich mit Sansibar; hier
nimmt der Handel einen beträchtlichen Aufschwung.
Er nährt sich weniger von dem englisch-afrikani¬
schen Festland, als vielmehr von Indien, von den
Nelken-Inseln und von Deutsch-Ostafrika. In den
Hafen liefen 1891 153 Schiffe ein, darunter 32 deutsche
und nur 26 englische.
Die Ein- und Ausfuhr betrug 51 Millionen Mark,
aus und nach Deutsch-Ostafrika über 7 Millionen Mark.
Doch auch Sansibar droht eine wichtige Verände¬
rung: da der Preis der Nelken im stetigen Sinken
begriffen ist, nimmt die Kultur dieses Hauptproduktes
der Inseln ab und man muss auf andere Handels¬
pflanzen und andere Geschäftsleute, als die Araber,
bedacht sein.
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516
Afrikanische Neuigkeiten.
Deutsch-Ostafrika.
Gouverneur v. Soden hat einen entscheidenden
Schritt in der Organisierung der Civilverwaltung ge-
than: am i. März 1892 Hess er sämtliche Bezirks¬
hauptleute aus der Schutztruppe austreten und be¬
traute sie mit einer civildienstüchen Stellung. Der
1500 Mann starken Schutztruppe entnahm er 400 Mann
und überwies sie den Bezirksämtern von Tanga, Ba-
gamoyo, Dar es Salaam, Kilwa und Lindi als Polizei¬
soldaten. Grössere kriegerische Unternehmungen,
zu denen auch die Polizeitruppe herangezogen wer¬
den kann, bedürfen von nun an der Genehmigung
des Gouverneurs. Die Schutztruppe, aus den früheren
zehn Compagnien in sechs Compagnien zusammen¬
gezogen, wird in folgender Weise verteilt:
1. Compagnie: Massinde, Gondja und Kili¬
mandscharo,
2. „ Bagamoyo, Tabora, Bukoba,
3. „ Kilosa und Mpwapwa,
4. „ Kisaki,
5. „ Kilwa und Lindi,
6. „ Dar es Salaam.
Wie man sieht, bleiben nur zwei Compagnien
intakt an der Küste; die Thätigkeit des grössten
Teiles der Schutztruppe wird auf die Beherrschung
des Binnenlandes koncentriert; wohl ein Zeichen ge¬
steigerten Sicherheitsgefühles in den am Meere ge¬
legenen Landschaften.
Deutsch-Ostafrika besitzt jetzt eine geregelte
und beschleunigte Postverbindung zwischen der
Küste und dem Seengebiet. Nach dem Vertrag mit
der Firma Schülke & Mayr geht, vom Januar an¬
gefangen, den 6. jeden Monats eine Trägergruppe
als Postboten von Dar es Salaam über Tabora nach
dem Victoria-Nyanza ab und, vom 1. März ange¬
fangen, am 1. jeden Monats von Bukoba über Ta¬
bora zurück. Die ganze Wegstrecke soll in 50 Tagen
zurückgelegt werden. Danach muss ein am 1. April
von Bukoba abgegangener Brief spätestens Anfang
Juli in Deutschland eintreffen.
Die Betonnung der Einfahrt von Dar es Salaam
ist jetzt in so vortrefflicher Weise vollendet, dass
Admiral Pawelsz den Hafen von Dar es Salaam für
einen der allerbesten Ostafrikas erklären konnte; ohne
Lootsenhilfe vermögen selbst Kriegsschiffe hier ein-
und auszulaufen.
Die Einnahmen aus Zöllen, Licenzen u. s. w.
betrugen 1891 etwas über 1 Million Mark und im
Etatsjahr (April 1891 bis Ende März 1892) 1 324000
Mark; sie scheinen in einer erfreulichen Steigerung
begriffen zu sein; denn 1892 warf das sonst ver¬
kehrsarme erste Vierteljahr 302000 Mark ab, gegen
145000 Mark im Vorjahr. Dementsprechend hebt
sich auch der Warenverkehr; die Ostafrika-Linie allein
importierte und exportierte 1891 Waren im Werte
von nahezu 13 Millionen, wovon freilich nur 6 1 /-* Mil¬
lionen Mark Deutschland selbst zu gute kamen.
Von den Expeditionen der Schutztruppe
sind folgende hervorzuheben. Lieutenant Herrmann
und Dr. Schwesinger, im Dezember 1891 von
Bagamoyo mit dem Ablösungskommando für die
Stationen in Tabora und Bukoba aufgebrochen, hatten
Anfang Februar 1892 heftige, aber siegreiche Kämpfe
mit Masenta, Makenges Sohn, in Ugogo zu be¬
stehen und erreichten Tabora Ende März. Sie ver¬
standen es sofort, mit den mächtigen Arabern des
Ortes, welche über 300 Hinterlader und 5000 Vorder¬
lader verfügen, sich auf guten Fuss zu stellen, so
dass ein Ueberfall der Wanianiembe rasch zurück¬
geschlagen und der von allen Seiten verlassene Häupt¬
ling S i k i zur Unterwerfung gezwungen werden
konnte.
Energische Strafexpeditionen unternahmen Lieu¬
tenant Elpons gegen den Wagogohäuptling Kos-
sira im Februar, und im März Lieutenant Prince
von Kilosa aus über das Rufutugebirge gegen den
Häuptling von Mgunda, und Lieutenant v. Bülow
gegen die Mafiti in Chutu. Der Kriegszug, den der¬
selbe Lieutenant v. Bülow und Lieutenant Wolfrum
mit 160 Sudanesen gegen Meli, den Sohn des ver¬
storbenen Mandara, Sultans von Moschi, begonnen,
endigte am 10. Juni mit dem Tode der beiden Führer
und mit dem Verlust von etwa 90 Mann. Einzel¬
nachrichten über den Vorfall fehlen noch.
Aus dem Erlös der Antisklaverei-Lotterie wer¬
den bestritten: die Erforschung der Tiefenverhält¬
nisse des Victoria-Nyanza durch Baron Fischer, die
Errichtung einer Schiffswerfte an demselben See durch
Graf Schweinitz (vormals Bor che rt), der Trans¬
port des »Wissmann«- und des »Peters«-Dampfers,
endlich die Bereisung des Gebietes zwischen dem
Kilimandscharo und dem Victoria-See durch Dr. Bau¬
mann. Baron Fischer gelangte Anfang Mai an das
Südufer des Nyanza; der Zweck seiner Expedition
ist aber eigentlich verfehlt; denn der »Wissmann«-
Dampfer, für welchen dieser den See untersuchen
sollte, lässt Baron Fischer im Stich und gedenkt
anderswo zu schwimmen. Graf Schweinitz ist um
dieselbe Zeit mit 80 Sudanesen, 600 Trägern und
einem zerlegbaren Segelboot in Tabora eingetroffen;
Borchert musste schon in Mpwapwa wegen Krank¬
heit zur Umkehr sich entschliessen. Inzwischen ver¬
träumt der »Peters«-Dampfer, der am 25. Mai in
Hamburg nach Ostafrika verschifft worden, in den
Schuppen von Saadani thatenlos seine Tage und
zwar in der zum Transport geeignetsten Trocken¬
zeit! Niemand ist da, der ihn anrührt; vor Eintritt
der zweiten Regenzeit im Oktober wird man keine
Trägerkarawanen zusammenbringen, und dann wird
und muss man ihn erst recht liegen lassen. Werden
wohl schliesslich die für seinen Bau und Transport auf¬
gewendeten 300000 Mark genügen? Aehnlich merk¬
würdig gestaltet sich das Schicksal des »Wissmann«-
Dampfers. »Alles Heil für das Aufblühen des Han¬
dels im Binnenland Deutsch-Ostafrikas hängt davon
ab, dass ein deutscher Dampfer auf dem Victoria-
Nyanza schwimmt.« So klang es aus dem Aufrufe
— —id - Sie
Afrikanische Neuigkeiten.
zur Sammlung für den »Wissmann«-Dampfer aller¬
orten. Dieser wurde wirklich gebaut und abgeschickt;
nachdem er aber ein Jahr in Saadani gelagert, und
endlich Major v. Wissmann glücklich wieder nach
Sansibar zurückgekommen, da kam man zu der Ein¬
sicht, dass der weite Landtransport unüberwindlichen
Schwierigkeiten begegnen würde. »Also,« heisst es
im Juni d. J., »fort mit ihm, den Zambesi und Schire
hinauf über den Nyassa nach dem Tanganjika!«
Kann man ihn dann nicht über die Stevenson Road
fortschaffen, so mag der kleine »Pfeil« die Wellen
des Tanganjika durchschneiden und der grosse und
schwere »Wissmann« die englische Flottille auf dem
Nyassa vermehren, zum Nutzen der neugegründeten
deutschen Missionsstation »Wangemannhöhe«, im
nördlichsten Winkel des Sees! Wahrlich, wie viele
geistige und physische Arbeit, wie viele Geldmittel wer¬
den da an ein zerfahrenes Unternehmen verschwendet!
Einen wahren Nutzen, wenigstens für Erweiterung
unserer geographischen Kenntnis, wird uns das Anti¬
sklavereikomitee nur in der Expedition Dr. Baumanns
verschaffen. Dieser ausgezeichnete Reisende, abmar¬
schiert am 17. Januar von Tanga, gelangte über den
Manjara-See am 12. April zu den Kadoto-Bergen
am Speke-Golf des Victoria-Nyanza. Mehr als diese
paar Thatsachen wissen wir nicht über ihn; aber
sie geben uns die Aussicht, dass wir über eine Weg¬
strecke von etwa 500 km die ersten und besten Auf¬
schlüsse erhalten.
Am 15. Februar 1892 erschien zu allgemeinem
Erstaunen und zu allgemeiner Freude Dr. Stuhl¬
mann wieder in der Station Bukoba, beinahe nach
Jahresfrist seit dem rätselhaften Verschwinden Emin
Paschas. Das Rätsel über die damaligen eigent¬
lichen Absichten Emins ist freilich noch nicht voll¬
ständig gelöst. Man kann aus den jüngsten Berichten
Stuhlmanns nur vermuten, dass Emin zuerst die
für die Grenzregulierung wichtige und richtige Lage
des Mfumbiro-Gebirges erforschen wollte, dass er dann
seine alte Provinz wieder zu gewinnen trachtete und
dass er endlich, als seine früheren Soldaten sich
widerwillig erwiesen, beschloss, von den Quellen
des Uelle in direkt westlicher Richtung nach der
Westküste durchzubrechen. Im März 1891 von Bu¬
koba aufgebrochen, war er Anfang Mai an den Albert-
Edward-See gekommen und erreichte Ende Juli, zu¬
erst den Semliki abwärts, Undussuma 1 ). Hier blieb
er bis zum 10. August in vergeblichen Verhand¬
lungen mit den Aegyptern. Bis zum 2. 0 13'rückte
er dann in nördlicher Richtung; am 30. September
sah er sich hier wegen Hungersnot und feindseliger
Haltung der Eingeborenen zur Umkehr nach Un¬
dussuma gezwungen, wo ein grosser Teil seiner
Begleitung an den Pocken erkrankte und wo er am
10. Dezember Dr. Stuhlmann befahl, mit den ge¬
sunden Begleitern der Expedition nach dem Victoria-
! ) W. von Kavalli; nur auf der Karte zu Stanleys
»Im dunkelsten Afrika« zu finden.
Ausland 189a. Nr. 33.
517
Nyanza abzumarschieren. Emin selbst blieb krank
und halb erblindet zurück.
Die wissenschaftlichen Resultate dieser schick¬
salsvollen Expedition liegen zum grössten Teil auf
kartographischem Gebiete; vorläufig besitzen wir nur
eine kleine Kartenskizze über die Länder zwischen
Karagwe und dem Albert-Edward-See (v. Dankel-
mans Mitt. aus den deutschen Schutzgebieten, V,
2, S. 75). Ausserdem erfahren wir, dass der Mfum-
biro aus einer Kette vulkanischer, gegen 4000 m hoher
Bergkegel besteht, von der der westlichste, der Vi-
rungo, ein thätiger Vulkan ist und dass diese Ge-
birgsgruppe 1 0 20' bis 1 0 30' s. Br. und westlich
vom 30. 0 ö. L. liegt.
Deutsch-Südwestafrika.
Wieder beginnt man mit zwei kolonisatorischen
Versuchen und wieder mit unzureichenden Mitteln!
Eine »Siedelungsgesellschaft für Deutsch - Süd west-
afrika« wurde Mitte April in Berlin gebildet mit
60000 Mark Kapital. Es soll die Niederlassung in
der Umgegend von Klein-Windhoek dadurch er¬
muntert werden, dass Farmer, welche, mit 6000 Mark
in der Tasche, sich bereit erklären, hier Viehzucht
zu treiben und einen geringen Pachtzins zu zahlen,
unentgeltlich Land und zur ersten Einrichtung einen
Zuschuss von 3000 Mark erhalten. Mitte Juni ging
eine Anzahl Unternehmungslustiger nach der Walfisch-
Bai ab, während Graf P fei 1 schon früher nach der Kap-
Kolonie entsendet worden, um deutsche Kolonisten
zur Auswanderung nach Windhoek zu bestimmen.
Die »Kolonialgesellschaft für Südwestafrika« hat
sich im April mit dem Farmer Herr mann in Kubub
associert, um Viehzucht in grösserem Maasstab im
Bezirke Nomtsas (nördlich von Grootfontyn) zu be¬
treiben, in einem Landstrich, den Herrmann als
sehr fruchtbar gepriesen, von dessen üppigen Fluren
jedoch Schinz, der diese Gegend ebenfalls bereist
hat, nichts zu erzählen weiss. Ferner will die Ge¬
sellschaft 200000 Mark für eine Schäferei auf der
Khomashochebene, 50000 Mark für die Anschaffung
von Kameelen und 120000 Mark für Verbesserung
der Lüderitz-Bucht verwenden. Alles in allem braucht
sie 424000 Mark; da nun ihr Barvenflögen nur aus
250000 Mark besteht, so beabsichtigt sie durch Her¬
ausgabe neuer Anteilscheine ihr Betriebskapital zu
vermehren. So lauteten die Nachrichten Anfang Mai
— von da an herrschte beredtes Schweigen.
Südafrika.
Am meisten interessieren in diesem Teil des
Kontinents die Entwickelung und die Aussichten
der jüngsten englischen Kolonie in Maschona- und
Manika-Land. Zum richtigen Verständnis der dor¬
tigen Verhältnisse ist aber eine eingehende geogra¬
phisch-wirtschaftliche Betrachtung jener Landstriche
absolut notwendig, und diese bedarf eines grösseren
Raumes, als der Rahmen der »Afrikanischen Neuig¬
keiten« gestattet. Ich werde deshalb das Resultat
66
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ji8
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
meiner kritischen Untersuchungen in einem der
folgenden Hefte des »Ausland« ausführlich mitteilen.
In der Kap-Kolonie und in den Boers-Staaten
steigert sich offenbar die Neigung, der Schroffheit
der Rasseneigentümlichkeiten zu entsagen und auf
dem Boden der wirtschaftlichen Interessen ein Ein¬
verständnis zu erzielen. Die Engländer im Kap-
parlament verzichten auf die ihnen von Exeter Hall
aufgedrungene Verhätschelung der Farbigen und be¬
schlossen im Juni d. J., das aktive Wahlrecht von
einem höheren Einkommen und von einer, wenn
auch geringen Schulbildung abhängig zu machen.
Damit ist dem Vordringen des Kaffernelementes in
die politische Sphäre ein fester Damm entgegen¬
gesetzt worden und die aristokratische Stellung der
Weissen gesichert, Grundsätze, welche bisher die
Boers allein gegen die nivellierende und humani¬
sierende Politik der englischen Regierung hartnäckig
verteidigten. Andererseits öffnet Transvaal jetzt seine
jungfräulichen Gauen dem Bau von Eisenbahnen im
Süden und Nordosten. Noch vor Jahresschluss soll
die erste Lokomotive, von Port Elizabeth aus Süden
kommend, ihren Einzug in Johannesburg, vielleicht
auch in Pretoria halten; auch die Delagoa-Bahn wird
bis zu diesem Zeitpunkt die Grenzen der südafrika¬
nischen Republik weit überschritten haben. Welches
Vertrauen Europa und speciell England in die Ent¬
wickelungsfähigkeit des holländischen Gemeinwesens
und in den Reichtum jener Länder besitzt, beweist
der Umstand, dass die am 29. Juni durch Roth¬
schild emittirte Eisenbahnanleihe von 50 Millionen
Mark mehrfach überzeichnet wurde. Der Beitritt
sämtlicher südafrikanischer Staaten zu einem Zoll¬
verein wird sicherlich durch den gesteigerten Ver¬
kehr beschleunigt werden. Momentan wirft die eng¬
lische Regierung noch einen Prügel dazwischen mit
der Weigerung, Swasiland, das Transvaal als Preis
einer Zollunion verlangt, ganz an die Boers zu über¬
lassen. Aber bei dem einmütigen Wunsche der
Minister der Kap-Kolonie, durch diese Cession end¬
lich in ein festes und freundschaftliches Verhältnis
zu Transvaal zu kommen, ist in absehbarer Zeit die
Beseitigung sämtlicher Hindernisse zu erwarten.
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
Ein Beitrag zur Geschichte der Erdkunde.
Von Emil Wisotzki (Stettin).
(Fortsetzung.)
Aber die Frage: wo bleibt das gewaltige von
den Flüssen zugeführte Wasserquantum? zwingt zu
einer Antwort. Nach jener Kritik ist man über die¬
selbe zu staunen berechtigt. Kämpfer hofft von
der Wahrheit sich nicht zu weit zu entfernen, wenn
er einen »abyssum subterraneum« annimmt, durch
welchen das Kaspische Meer mit dem Ocean in
Verbindung stünde. Und nun werden wieder alle
jene Hallucinationen aufgewärmt, die wir schon
kennen gelernt. Dem sehr richtigen Einwurf, den
man ihm machen könne: wenn das der Fall, so
müsste das Kaspische Meer schon längst ausgesüsst
sein, tritt er mit der schwächlichen Bemerkung ent¬
gegen, das sei ja dann auch der Fall mit den »gur-
gites verticosi«. Wer es wolle, möge es bestreiten!
Dass eine Verbindung bestehe, beweise der Satz:
»omnia flumina intrant in mare, et mare non re-
dundat, ad locum unde exeunt flumina, revertuntur,
ut iterum fluant«. Wie diese Verbindung hergestellt
sei, dies »mysterium sapientissimus mortalium rex
non explicavit« 1 ).
Fünf Jahre später, 1717, erschienen die Berichte
Tourneforts über seine Orientreise. Derselbe hielt
oberflächliche Ausströmung durch den Bosporus für
in keiner Weise hinlänglich zur Erklärung des Ver¬
bleibes der gewaltigen Wassermassen, die dem Pontus
durch die Flüsse zugeführt würden. Wirklich im¬
stande hierzu zu sein, erschienen ihm nur unter¬
irdische Kanäle, die vielleicht Europa und Asien
durchsetzten und in die Landmassen eintretende
Sickerwasser, die dann irgendwo in der Ferne ent¬
weichen. Er stützt diese Erklärung durch Hinweis
auf den menschlichen Körper, dem die Transpiration
mehr Feuchtigkeit entziehe wie augenfälligere Ent¬
leerungen 2 ).
Dass die unterirdische Kanalisation aber auch
sonst wohl noch ihre Vertreter gehabt, geht hervor
aus der Bemerkung Jakob Jurins, des Herausgebers
der geographia generalis des Varenius im Jahre
1712, dass diese Theorie von den »meisten« als
sehr schwer erklärlich, als unmöglich, ja als unnötig
verworfen werde 3 ).
Noch im Jahre 1750 fordert der Slowene Po¬
powitsch in seinem noch weiter unten heranzu¬
ziehenden Werke, wie schon oben bemerkt, auf,
diese Theorie fallen zu lassen, als dem Geiste des
Zeitalters der Aufklärung nicht mehr entsprechend,
und noch 1753 hielt es der Bischof von Bergen,
Pontoppidan, für nötig, gegen Kircher mit be¬
sonderer Bezugnahme auf den »Maelstrom« zu pro¬
testieren 4 ).
Selten dürfte eine Spekulation sich so zäh durch
zwei Jahrtausende erhalten haben, und nicht etwa
ihr Leben kümmerlich fristend, sondern stets in
*) Amocnitates exoticae etc., Lemgoviae 1712, p. 253—257.
2 ) Relation d’un voyage du Levant, II, Lyon 1717, p. 404.
3 ) A. a. O., p. 12. Hier möchte ich mir erlauben, die
Historiker der Meteorologie aufmerksam zu machen auf die von
Jakob Jurin, Soc. Reg. Secret., erfolgte »Invitatio ad ob-
servationes meteorologicas communi consilio instituendas, seorsim
impressa 1724 Londini«. Ad Collect. Act. Erud., quae Lipsiae
publicantur missa, t. IIX, Int. IX. Dass diese »invitatio«, deren
Schicksal ich nicht weiter verfolgt habe, die aber sicherlich ihren
historischen Wert hat, in Hell man ns Repertorium sich nicht
genannt findet, ist nicht weiter auffallend. Aber auch in Trau¬
müllers Schrift »Die Mannheimer meteorologische Gesellschaft«,
Leipzig 1885, findet sie sich nicht erwähnt.
4 ) Versuch einer natürlichen Historie von Norwegen, I. Teil,
deutsch von Scheiben, Kopenhagen 1753, S. 139.
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Die Strömungen in den Meercsstrassen.
519
vollster Wucherung wie diese geophysikalische Hal-
lucination 1 ).
Wir haben weiter oben diese Frage als eine
höchst wichtige bezeichnet. Und mit Recht! Denn
von ihrer richtigen Beantwortung hing mit ab die
richtige Antwort auf die Frage nach den Ursachen
der bisher allein bekannten Oberflächenströmungen.
Verdunstung und etwaiger oberflächlicher Abfluss
wurden im allgemeinen als in keiner Weise ver¬
mögend angesehen, den Zufluss einmündender Ströme
auszugleichen, daher griff man zu dem Mittel unter¬
irdischer Abzugskanäle. Eine Erklärung z. B. der
Gibraltarströmung war von diesem Standpunkt aus
ganz unmöglich.
Erst das richtige Verständnis für das Verhältnis
zwischen Verdunstung und Zufluss konnte hier klä¬
rend und lösend wirken. Das Verdienst, hier ein-
gegriflen und damit freie Bahn geschaffen zu haben
für eine Reihe wichtiger geographischer Fragen, ge¬
bührt keinem geringeren als Edmund Halley. Der¬
selbe unternahm im Jahre 1687 auf Grund eines
Experimentes eine Schätzung der Quantität der dem
Ocean durch die Sonnenwärme entzogenen Wasser¬
menge und verglich diese mit der dem Ocean durch
die Flüsse zum Ersatz wieder zugeführten. Die
Lösung dieser hochbedeutenden Aufgabe, eine der
frühesten, welche uns auf dem Gebiet der rechnen¬
den Geographie begegnen, setzt, wie man sofort er¬
kennt, ihrerseits wieder voraus die Existenz einer
Methode zur Bestimmung der durch Flüsse wegge¬
führten Wassermassen. Diese Methode hatte aber
bereits das 17. Jahrhundert angegeben. Schon vor
einigen Jahren habe ich in meiner Schrift »Haupt¬
fluss und Nebenfluss« dieser Frage meine Aufmerk¬
samkeit zugewendet. Da mir aber unterdes neues
historisches Material zugeflossen ist, so sei es ge¬
stattet, hier den Gegenstand zusammenzufassen.
Bei Peschei (Geschichte der Erdkunde. Zweite
Auflage, München 1877, P- 7*>9) wird Riccioli
»der erste Naturforscher genannt, welcher 1672 aus
der Breite, der mittleren Tiefe und der Geschwin¬
digkeit eines Stromes seine Wasserfülle berechnete.«
Wie Peschei diese Behauptung aufstellen konnte,
erscheint unerfindlich, mit Rücksicht auf die Stellen
bei Riccioli selbst (Geographia et hydrographia
reformata. Bononiae 1661. Fol. 244—248.443—450).
In der neueren historischen Litteratur zur Geographie
ist seitdem nichts weiter hierfür beigebracht worden.
Nun findet sich aber schon in dem »Opus
ScipionisClaramontii CaesenatisdeUniverso«,Co-
loniae Aggrippinae 1644, p. 134, die Frage beant-
J ) Wir haben oben schon kurz angedeutet und betonen
es hier noch besonders, dass selbstverständlich einzelne bedeutende
Geister sich ferne gehalten haben von solchen Wahnvorstellungen.
Ich nenne hier vor allem Isaak Vossius, der in seinem treff¬
lichen Buche »De Nili et aliorum fluminum origine, Hagae-
Comitis 1666,« immer wieder darauf hinwies: »frustra a non-
nullis fingi lacus subterraneos«. Er fand in den atmosphärischen
Vorgängen die notwendigen Bindeglieder.
wortet: »Quo abeat tanta aqua, quae in mare ex-
currit, et tarn cito«. Eine Vorstellung von der Grösse
dieser Wassermasse versucht der Verfasser zu ge¬
winnen an der Hand einer Berechnung der vom
Arno und dann der vom Amazonas gelieferten
Massen, bei welchen die Geschwindigkeit berück¬
sichtigt wird. Aber schon 16 Jahre früher, 1628,
hat Benedetto Castelli, monaco Cassinense, in
seiner Schrift: »Deila misura dell’ acque correnti« *)
neben Breite und Tiefe eines Flusses seine Geschwin¬
digkeit als notwendigerweise mit heranzuziehenden
Faktor eingeführt. Castelli bemerkt, man habe
bisher stets nur Breite und Tiefe berücksichtigt, die
Länge aber vernachlässigt, vielleicht weil man die¬
selbe bei einem Flusse gewissermaassen für unbe¬
grenzt gehalten, und deshalb für unfassbar. Aber
dieselbe sei hier nichts anderes, als die Geschwin¬
digkeit in einer gewissen Zeit. Humphreys und
Ab bot (Reports upon the Physics and Hydraulics of
theMississippi. Philadelphia 1861 p. 185) sind die ein¬
zigen in der neuen Litteratur, welche Castelli an¬
erkannten : »he first introduced the velocity as an
element in estimating the discharge of a river.«
Aber sowohl diese beiden Amerikaner, wie auch
Castelli und ebenso der Verfasser dieser Abhand¬
lung, als er jenen beistimmte, haben geirrt. Denn
schon 1598 versuchte Giovanni Botero die von
den Flüssen ins Weltmeer geführte Wassermasse zu
berechnen. Er legte die Donau zu Grunde: »il
Danubio b largo nella sua maggior ampiezza un
miglio, profondo otto, ö dieci braccia, corre conti¬
nuamente, e fa tre miglia almeno per hora. l’anno
contiene otto mila settecento ottanta quattro höre,
adunque il Danubio condurra al mare, venti sei
mila 352 miglia d’aequa della sudetta profonditä,
in un’ anno.« Wie gross, ruft Botero aus, wird
nicht seine Wassermasse in 1000, 2000, 5000 Jahren
sein? Und was solle er reden von den anderen
Strömen, Dwina, Wolga, Ganges, Maragnon, La
Plata? Ihre Wassermassen würden schon 1000 Welt¬
meere, nicht bloss Mittelmeere, ausgefüllt haben. 2 )
Uebrigens wird nach meinem Dafürhalten der
Wert des Castellischen Werkes an sich in keiner
Weise hierdurch alteriert, aber die Priorität des Ge¬
dankens der Einführung der Geschwindigkeit als
Vertreterin der Länge wird Castelli doch wohl an
Botero abtreten müssen. Uebrigens dürfte auch
vielleicht ein Zeitgenosse Boteros, nämlich J. Bap¬
tist a Aleotti, welcher als Hydrotechniker im
Dienste des Papstes Clemens VIII. (1592—1605)
stand, hier genannt werden müssen, doch ist dieser
mir litterarisch nicht bekannt geworden, trotz man¬
cher Bemühung. Dass vielleicht schon der geniale
Lionardo da Vinci (f 1519) (The litterary
works compiled and edited from the original manu-
scripts by Jean Paul Richter, vol. I. London 1883.
1 ) Terza edizione, Bologna 1660, p. 57.
2 ) Relationi del mare, Venetia 1599, p. 247. Die Vor¬
rede ist von 159S.
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520
Die erste Anwendung der gnomonischen Kartenprojektion.
§. 384 vol. II. §. 1023 und 1084) hierher zu zählen,
habe ich schon in der oben genannten älteren Ar¬
beit gezeigt; doch steht derselbe ja mit seinen An¬
sichten mehr ausserhalb der schriftlich fixierten Ent¬
wickelung.
Auf die betreffenden Resultate ihrer Berech¬
nungen hier einzugehen, erscheint nicht nötig. Wir
konstatieren nur, dass Edmund Halley hier bereits
den Weg vorgezeichnet fand. In Bezug auf den
zweiten Punkt, auf die Berechnung der Verdunstung,
war das nicht der Fall. Hallev bemerkt selbst, dass
er hier ganz ohne Vorläufer sei, was ich nicht im
stände bin, augenblicklich weiter zu kontrollieren.
Auf Grund eines Versuches nahm er die tägliche
Verdunstung gleich V 10 Zoll an, was für einen
Quadratgrad (69 engl. Meilen = i°) 33 Millionen
Tons ergäbe. Er gab dann dem Mittelmeer eine
Fläche von durchschnittlich 40 Grad Länge und
4 Grad Breite, also im ganzen 160 Quadratgrade;
infolge dessen verliere dieses durch Verdunstung
täglich 5280 Millionen Tons. Dass diese Summe
nicht zu gross sei, ersehe man besonders daraus,
dass der die Verdunstung ausserordentlich beför¬
dernde Wind noch gar nicht in Rechnung ge¬
stellt sei.
Für die Berechnung der dem Mittelmeer durch
die Flüsse zugeführten Wassermasse, legt er die
Themse zu Grunde, welche täglich 20 300000 Tons
Wasser liefere. Wenn man nun auch annehme,
dass die neun wichtigsten Flüsse (Ebro, Rhone,
Tiber, Po, Donau, Dniester, Dnieper, Don und Nil)
je zehnmal so viel Wasser lieferten wie die Themse,
so ergäbe das für sie alle zusammen doch erst eine
Wassermasse von 1827 Millionen Tons. Durch die
Verdunstung verliere also das Mittelmeer beinahe
dreimal mehr, als ihm durch die Flüsse ersetzt
werde x ).
So war mit einem Schlage die Rolle, welche
Verdunstung und Zufluss für die Lage der Ober¬
fläche des Mittelmeeres bis auf diese Zeit gespielt
hatten, in ihr gerades Gegenteil verkehrt worden.
Während bisher unterirdische Abzugskanäle für das
überflüssige Wasser konstruiert werden mussten, um
die Anwohner in Bezug auf eine Ueberflutung zu
beruhigen, war man jetzt gezwungen, für Zufuhr
zu sorgen, um einem allmählichen Verschwinden
des Mittelmeeres und damit dem Verluste aller Seg¬
nungen desselben vorzubeugen.
Von selbst ergab es sich von jetzt ab, in jener
ausserordentlich starken Verdunstung des eigentlichen
Mittelmeerbekens die Ursache einer Niveaudifferenz
zu erblicken, zwischen letzterem einerseits und At-
*) An estimate of the quantity of vapour raised out of
the sew by the warmth of the sun; derived from an experiment
shown bcfore the Royal Society by Ed. Ha Hey. Philos. Trans¬
act. 1687. nuinb. 189. Halley beabsichtigte, die Bedeutung
seiner Untersuchung für die Quellenbildung und für den Gibmltar-
strom später noch auseinander zu setzen. Ersteres hat er ge-
than, ob letzteres, ist mir unbekannt geblieben.
lantischem Ocean resp. Pontus andererseits, und in
dieser Niveaudifferenz wieder die Veranlassung zu
finden für die Einströmungen atlantischen und poli¬
tischen Wassers durch die Strasse von Gibraltar und
den Bosporus ins Mittelmeer. Und ebenso konnte
es von jetzt ab keinem Zweifel mehr unterliegen,
dass die Ausströmung baltischen Wassers zur Nord¬
see hin durch die dänischen Sunde umgekehrten Ver¬
hältnissen, einem Ueberwiegen der Zufuhr durcli Flüsse
über die Abfuhr durch Verdunstung zuzuschreiben
sei. Für die Erklärung der Oberflächenströme in
den genannten Meeresstrassen war das unerschütter¬
liche Fundament in seinen Prinzipien gelegt wor¬
den. Was folgte, waren weiter nichts als feinere
Ausgestaltungen, schärfere Fassungen dieser Grund-
läge 9.
Aber auch für die Unterströmungen begann in
denselben Jahren eine neue Zeit. Mit einemmal
wurden sie für Bosporus, Gibraltarstrasse und dänische
Sunde behauptet, um nicht zu sagen erwiesen, und
zwar von verschiedenen Seiten her.
Die drei hier zu nennenden Männer: Richard
Bolland, Thomas Smith und Graf Ferdinando
Marsigli sind Zeitgenossen Halleys, haben aber
noch vor diesem ihre Beobachtungen und Erfahrungen
gesammelt, so dass sie zum Teil wenigstens noch
in der Sprache der alten Schule reden, die von der
starken Verdunstung im Gebiet des Mittelmeeres
nichts wusste.
Kapitän Richard Bolland schreibt unter dem
24. Juli 1675 in seinem Tagebuch 2 ): in der Strasse
von Gibraltar befinden sich zu beiden Seiten, im
Norden und im Süden, ein- und ausgehende Ge¬
zeitenströme, zwischen diesen aber ein beständig
aus dem Atlantischen Ocean ins Mittelmeer eintre¬
tender Strom, wenn nicht etwa ganz besonders starke
Winde hindernd dazwischen treten. Trotz aller
gegenteiligen Behauptungen halte er daran fest, ge¬
stützt auf neunjährige eigene Erfahrung. Ebenso
fliesse eine bedeutende Wassermenge aus dem Pon¬
tus durch den Bosporus hin, ganz zu schweigen
von den zahlreichen Flüssen.
(Fortsetzung folgt.)
Die erste Anwendung
der gnomonischen Kartenprojektion.
Von S. Günther.
In seinem neuen Werke über Kartenprojektions¬
lehre, über welches der Leser weiter unten einen aus-
*) Andere bald erfolgende zahlreiche Berechnungen der
Verdunstung und der Wasserzufuhr durch Flüsse übergehen
wir hier.
2 ) ®A draught of the straights of Gibraltar with some ob
servations upon the currents thereunto belonging«, enthalten in
»A Collection of voyages and travels some now first printed from
original manuscripts, others now first published in englisli«,
vol. IV, London 1752, Fol. 777 u. folg.
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Die erste Anwendung der gnomonischen Kartenprojektion.
521
führlichen Bericht vorfindet, bezeichnet Breusing 1 )
die centrale oder gnomonische Projektion als
eine solche, welcher lediglich ein astronomisches,
nicht aber auch ein eigentlich geographisches Inter¬
esse zukomme. Trotzdem wir Breusings Autorität
im allgemeinen gerne anzuerkennen bereit sind, er¬
achten wir diesen Ausspruch doch nur als bedingt
richtig, denn mag auch die Bedeutung der in der
fraglichen Projektion gehaltenen orthodromischen
Seekarten — unser Gewährsmann nennt sie die
gradwegigen — vom Nichtnautiker überschätzt
werden, so beweist doch das Vorgehen der prak¬
tischen Amerikaner, dass der Seemann von solchen
Karten unter Umständen einen ganz guten Gebrauch
machen kann 2 ). Die Entstehung dieses Netzent¬
wurfes wurde von dem Schreiber dieser Zeilen auf
Leibniz zurückgeführt a ), allein, wie Breusing 4 )
zeigen konnte, lässt sich dieses Abbildungsverfahren
schon zwölf Jahre vor dem Erscheinen jener Leib¬
niz sehen Abhandlung nachweisen. »Der Schiffs¬
kapitän Samuel Sturmy in seinem Werke ,The
Mariners Magazine*, London 1679 fol., zeigt, wie
man mit Hilfe einer Tangentenskala ein orthodromi-
sches Gradnetz entwirft, und gibt die Zeichnung für
einen Kreisquadranten in Polarprojektion bis zu 13 0
Breite . . . 5 ). Als Erläuterung legt er darin den
Hauptbogen zwischen Lundy Island und Barbados
nieder.« Wir werden nun darzuthun haben, dass
der Gedanke, eine Kugelfläche perspektivisch vom
Mittelpunkte aus auf Berührungsebenen zu über¬
tragen — und zwar nicht bloss für die Anfertigung
von Sonnenuhren, sondern recht eigentlich aus
kartographischen Motiven —, noch um ein
gutes Stück älter ist; allerdings war es, und darin
hat wieder Breusing unzweifelhaft recht, in erster
Linie das astronomische Bedürfnis, welchem
diese Methode entsprang. Allein nachdem einmal
das Eis auf diese Weise gebrochen war, musste ja
die geographische Anwendung ganz von selbst
*) Breusing, Das Verebnen der Kugeloberfläche für Grad¬
netzentwürfe, Leipzig 1892, S. 13.
2 ) Für den nördlichen und südlichen Atlantik, sowie auch
für den nördlichen Pacifik sind im Jahre 1891 durch den Hydro¬
graphen der Vereinigten Staaten, Richardson Clover, ortho-
dromische Segelkarten herausgegeben worden. Vgl. Weyer,
lieber eine neue Ausgabe der amerikanischen Seekarten in gno-
monischer Projektion für das Segeln im grössten Kreise, Ann.
d. Hydrographie u. Marit. Meteorologie, 20. Jahrg., S. 185 ff.
Es wird betont, dass auf diesen Karten die Kursmessung mit
einer alles Frühere weit Ubertreffenden Leichtigkeit und Ge¬
nauigkeit vollzogen werden kann.
3 ) Günther, Die gnomonische Kartenprojektion, Ztschr.
d. Gesellsch. f. Erdkunde zu Berlin, 18. Band, S. 139.
4 ) Breusing, a. a. O., S. 12.
5 ) Folgendes sind die Worte des Engländers: »You may
set down therein the two places, you are to sail between, ac-
cording to their latitudes and longitudes and then only by your
ruler draw a straight linc from the one place to the other wliich
will represent the great circle, which passeth between those
places, and will cross those degrees of longitude and latitude,
which you must sail by.*
nachfolgen 4 ). Wir überzeugten uns nachträglich,
dass R. Wolf, der treffliche Historiker der Astro¬
nomie, eine Andeutung in diesem Sinne gemacht
hat 2 ); doch ist dieselbe nur ganz unbestimmt, da
Wolf offenbar das in Rede stehende Werk nicht
selbst vor Augen gehabt hat (auch der Name des
Autors ist unrichtig geschrieben). Es verlohnt sich
daher wohl, die Frage einmal eingehender zu erörtern
und Näheres über die bewusst erste Anwendung
der gnomonischen Projektion mitzuteilen.
Der Schriftsteller, welchen wir im Auge haben,
ist der als Verfasser verschiedener mathematischer
Schriften in damaliger Zeit sehr geachtete Jesuit
Grienberger 3 ). Im Jahre 1612 Hess derselbe ein
Werkchen drucken, dessen sehr weitschweifiger Titel *)
von dem wesentlichen Inhalte sofort eine ziemlich
ausreichende Vorstellung gibt. Allerdings ist den
Textesworten der Einleitung zufolge das Original
in seiner ursprünglichen Gestalt ein reines Tabellen-
x ) Es ist die Vermutung ausgesprochen worden, dass über¬
haupt die ersten rationellen Versuche, ein Bild von Himmel und
Erde zu entwerfen, ganz von selbst von der Mittelpunkts¬
perspektive ausgegangen sein müssen (D’Avezac, Coup d’oeil
historique sur la projection des cartes de la g^ographie, Bull,
de la soc. göogr., 1863, S. 464). An das angebliche Weltbild
des Anaximander darf man freilich dabei, wie wir jetzt wissen,
nicht denken, denn es kann kaum einem Zweifel mehr unter¬
liegen, dass der genannte jonische Philosoph die Kugelgestalt
der Erde nicht gekannt und nicht gelehrt hat.
2 ) Wolf, Geschichte der Astronomie, München 1877, S. 387.
8 ) Christoph Grienberger war 1561 zu Hall (bei
Innsbruck) geboren und wurde, nachdem er früh in den Orden
getreten war, an verschiedenen Orten als Lehrer der mathema¬
tischen Wissenschaften verwendet und docierte etwa von 1600
an zu Rom, wo er 1636 verstarb. Seine Trigonometrie, seine
Euklid-Ausgabe, seine Arbeit über Brennspiegel bezeugen seine
geistige Regsamkeit; auch wissen wir, dass er beteiligt war an
den tiefsinnigen geometrischen Studien seines Ordensbruders
Gregorius a St. Vincentio (s. Kästner, Geschichte der
Mathematik, 3. Band, Göttingen 1799, S. 223, 231 ; Cantor,
Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, 2. Band, Leipzig
1892, S. 776). Während seines Aufenthaltes in Rom verkehrte
er in inniger Freundschaft mit seinen Ordensbrüdern Clavius
und Seheiner, und es ist zu mutmaassen, dass er, wie letztere!
dies that (vgl. v. Braunmühls Scheiner-Biographie, Bamberg
1891), ebenso auch in dem gegen Galilei geführten Prozesse
keine letzterem günstige Rolle gespielt hat, da sich nun einmal
die ganze Gesellschaft Jesu durch den grossen Naturforscher be¬
leidigt glaubte. Ursprünglich scheint er für Galileis Ent¬
deckungen entschiedene Hochachtung bekundet zu haben, und
dieser selbst erkannte ihn als »vortrefflichen Mathematiker« an
(K. v. Gebier, Galileo Galilei und die Römische Kurie, I. Band,
Stuttgart 1876, S. 45, 73).
4 ) Nova imaginum caelestium prospectiva, ex mundi centro
in diversis planis globum caelestem tangentibus per tabulas parti-
culares, caelo ac accuratioribus Tychonianis observationibus quam
simillima; olim Romae circa annum MDCXII. calculo ac de-
lineatione R. P. Christophori Grienbergeri Oeno-Halensis
e Societate Jesu elaborata, nunc denuo opera atque impensis
A. R. D. Hieronymi Ambrosii Langenmantel. Canonici ad
S. Mauritium etc. in gratiam matheseos cultorum in lucem producta.
Augustae Vindelicorum. Typis Koppmayerianis MDCLXXIX. —
Ganz irrig fasst das Wesen dieses Werkchens Mädler auf (Ge¬
schichte der Himmelskunde, 1. Band, Braunschweig 1872, S. 255),
indem er der Meinung Raum gibt, es sei darin von den soeben
durch Galilei mit dem neuen Fernrohre gemachten Entdeckungen
die Rede.
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522
Die erste Anwendung der gnomonischen Kartenprojektion.
werk gewesen, und erst Kircher hatden Schlüssel |
zu diesen Tafeln gegeben. Da jedoch selbstredend
die Erläuterungen Kirchers von denjenigen nicht
verschieden sind, welche Grienberger, wenn über¬
haupt ein Kommentar von ihm beabsichtigt gewesen |
wäre, hätte geben müssen, so verschlägt es wenig, i
ob die kurze Einführung von dem einen oder anderen
der beiden Gelehrten herstammt.
Das erste Kapitel hebt hervor, dass die nun zu
lehrende Art, den gestirnten Himmel abzuzeichnen,
eine völlig neue sei, und dass Grienberger, wenig¬
stens sei dies Kirchers Ansicht gewesen, keinen
Vorgänger gehabt habe. Nicht in die Himmels¬
kugel, wie sonst wohl, sei das Projektionscentrum
verlegt, sondern in den Mittelpunkt der zu jener
koncentrischen Erdkugel; so bekomme, da ja der
Radius der achten Sphäre ein sehr grosser sei, jeder
Beschauer beim Betrachten der Karte ganz denselben
Eindruck, als wenn er das Firmament selber ansehe.
Als Bildebene wird fürs erste diejenige gewählt, welche
die Himmelskugel im (sichtbaren) Pole berührt; dann
projicieren sich also sämtliche Parallelkreise wieder
als Kreise, sämtliche grösste Kreise als grade
Linien. Es wird dann zunächst ein geometrisches
Schema angelegt, wie es unsere Figur zur Anschau¬
ung bringt. Der Mittelpunkt des Rechteckes G ist
der Nordpol; um ihn als Centrum ist der nördliche
Polarkreis konstruiert, auf welchem der Nordpol F
der Ekliptik liegen muss; die Grade GF entspricht
dann dem Kolur der Solstitien, eine in G auf ihr
senkrecht stehende Grade dem Kolur der Aequi-
noktien. Die längere Rechtecksseite ist parallel ge¬
nommen dem gradlinigen Bilde jenes Hauptkreises,
welcher durch den Pol und einen Kardinalpunkt der
Ekliptik hindurchgeht 2 ), wie dies auch in unserer
Zeichnung ersehen werden kann. Damit ist also
auch die Lage der Graden B C und ebenso die der
zu ihr senkrechten Graden DE festgelegt. Nach¬
dem diese Bestimmungen getroffen sind, lässt sich
alles, was der Kommentator in umständlicher und
nach unseren Begriffen auch unklarer Weise vorträgt,
folgendermaassen kurz zusammenfassen:
Durch den Pol der Ekliptik als Anfangs¬
punkt wird ein rechtwinkeliges Koordinaten¬
system so gelegt, dass die -V-Achse der kür¬
zeren, die 1 -Achse der längeren Seite des
einsch Hess enden Rechteckes parallel verläuft. I
Für jeden Stern, der überhaupt in die Stern¬
karte aufgenommen werden soll, ist aus der
Tafel Ordinate (»distantia recta«) und Abscisse
(»distantia transversa«) zu entnehmen; dadurch
ist der Ort des Sternes selbst bestimmt 8 ).
*) Vgl. A. Kircher, Ars magna lucis et umbrae, Amster¬
dam 1671, lib. VI. Es hat sich aber auch dieser grosse Sammler
auf eine Gebrauchsanweisung beschränkt, ohne dem Rechnungs¬
verfahren Grienbergers weiter nachzugehen.
2 ) Diese Linie wird bei Langenmantel höchst unpassend
»Meridianus imaginis« genannt, während doch die Bildlinien
aller Meridiane im Pole zusammenlaufen müssen.
3 ) Eigentlich beziehen sich die Zahlen nicht auf den Pol
| Dies ist, wie man erkennt, eine Anwendung
des Koordinatenbegriffes in aller Form, lange vor
Descartes, dem man die erste klare Auffassung
dieser Art der Ortsbestimmung zuzuschreiben pflegt.
| Nur die Unterscheidung der zwei Seiten einer graden
i Linie, auf welcher ein fester Punkt angegeben ist,
durch Vorzeichen ist Grienberger noch unbekannt,
und er muss sich demzufolge mit Umschreibungen
behelfen: bei den Ordinaten wird gesagt, ob sie
oben oder unten, bei den Abscissen, ob sie rechts
oder links aufzutragen sind.
Das Diagramm, welches wir hier reproducieren,
enthält nur gewisse Sternbilder des nördlichen Him¬
mels, für welche es sich empfahl, die Bildebene
durch den Himmelspol hindurchzulegen. Handelt
es sich um andere Teile des Firmamentes, so
wird man auch besser eine andere Berührungs¬
ebene wählen. Im übrigen aber bleibt das Ver¬
fahren das gleiche: zuerst wird das Achsenkreuz
konstruiert, und alsdann werden die Koordinaten
abgetragen, so wie sie aus der Grienb erg ersehen
Tafel sich ergeben.
Leider bleiben wir ganz darüber im unklaren,
wie die jedenfalls sehr mühselige Berechnung der
Tabellen erfolgt sein mag. Man kann nur annehmen,
dass Grienberger dieselbe Formel gekannt habe,
welche wir selbst zu diesem Zwecke angegeben
haben 1 ): aus den sphärischen Koordinaten irgend
der Ekliptik selbst, sondern auf einen Punkt, der für jeden Einzel¬
fall besonders ausgemittelt werden muss und »vertex asterismi«
genannt wird. Doch handelt es sich da ersichtlich nur um eine
einfache Parallel Verschiebung des Achsensystems.
l ) Günther, a. a. O., S. 145.
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Geographische Mitteilungen.
523
eines Punktes der Kugelfläche die orthogonalen
Koordinaten seines Bildpunktes in der Kartenebene
herzuleiten. Mit sphärischer Trigonometrie jeden¬
falls muss wohl vertraut gewesen sein, wer an diesen
— selbst unter dem Gesichtspunkte der Gegenwart —
umständlichen Kalkül heranzutreten wagte.
Bildliche Darstellungen sind der Langen*
mantelschen Ausgabe des Grienbergerschen
Werkchens nicht beigegeben, mit Ausnahme jener
einen Skizze, welche lediglich als Paradigma dienen
sollte (s. Figur). Reichlichen Ersatz hierfür bietet
eine andere Schrift des Autors, welche wir im
Originaldrucke*) vor uns liegen haben. Sie gibt
in 28 Einzelkärtchen die Abbildung des ganzen
Himmelsgewölbes und die Zahlentafeln, welche zu
deren Konstruktion notwendig waren, enthält sich
aber gänzlich jedes Hinweises auf die Wege, welche
zu der Berechnung jener Tafeln geführt hatten. Nur
in der Vorrede, die auch deshalb Beachtung verdient,
weil in ihr Galileis Verdienst um die Förderung der
Astronomie willig anerkannt wird (s. o.), erhalten
wir eine kurze Darlegung der Gründe, welche
Grienberger veranlasst haben, von den üblichen
Darstellungen des gestirnten Himmels abzugehen;
aber auch diesmal tritt der eigentlich neue Grund¬
gedanke ganz zurück, und das astrognostische
Moment, der Wunsch, Anfängern die Kenntnis
der Sternbilder zu vermitteln, spielt die Hauptrolle.
Grienberger war sich kaum bewusst, dass
er in die Kartographie ein neues Princip hinein¬
getragen hatte, und die Verwertung desselben für
terrestrische, für geographische Zwecke, lag ihm,
dem Astronomen, noch gänzlich ferne. Dies kann
natürlich nicht hindern, ihn, wie er es verdient, als
den eigentlichen Erfinder der gnomonischen oder
gradwegigen Abbildung zu ehren, der zudem
die Theorie dieser Abbildung, wie seine Karten er¬
sehen lassen, bis in ihre Einzelheiten beherrscht haben
muss.
Geographische Mitteilungen.
(Die Schwerkraft in den Alpen.) Ueber die
höchst eigentümlichen Anomalien, welche die Verteilung
der Schwere in unmittelbarer Nähe des Hochgebirges
erkennen lässt, hat Oberstlieutenant v. Sterneck mit
l ) Catalogus veteres affixarum longitudines ac latitudines cum
novis continens. Imaginuin caelestium prospectiva duplex. Altera
rara ex polis mundi, in duobus hemisphaeris aequinoctialibus,
per tabulas ascensionum rectarum et declinationum. Altera nova
ex mundi centro, in diversis planis globum caelestem tangentibus,
per tabulas particulares. Utraque caelo et accuratioribus Tychonis
observationibus quam similiima. Christophori Grienbergeri
Oeno-Halensis, e Societate Jesu, calculo ac delineatione, elaborata.
Romae, apud Bartholomaeum Zoanettum, MDCXII. Das
Jahr 1612 ist somit recht eigentlich (s. o.) das Geburtsjahr der
neuen Methode, eine Kugelfläche auf die Ebene zu übertragen.
Man sieht, dass »das alte Verfahren« der stereographischen Pro¬
jektion entspricht, und dass der Autor keinen Zweifel hegt, er
lehre wirklich »ein neues Verfahren«, wie es sich denn auch in
der That verhält.
seinem geistvoll erdachten Pendelapparate, der noch
allen Teilnehmern des Wiener Geographentages in guter
Erinnerung sein wird, ausgedehnte Messungen angestellt,
wobei ihm von den beiden für seine Zwecke sehr günstig
gelegenen Sternwarten München und Padua wirksame
Hilfe geleistet ward. Indem für verschiedene alpine
und den Alpen benachbarte Flachland-Orte die Ab¬
weichung der Schwerkraftskonstante von jenem Werte
ermittelt ward, welchen sie theoretisch an dem be¬
treffenden Punkte haben sollte, fand sich, dass, schon
von München an, unter dem grössten Teile der Alpen
ein Massendefekt existiert, der mehr und mehr zunimmt,
wenn man längs der Linie der Brennerbahn von Norden
nach Süden fortschreitet. Am bedeutendsten und zwar
ziemlich gleichbleibend ist die Mächtigkeit des Defektes
zwischen den Stationen Wörgl und Franzensfeste, dann
nimmt dieselbe ab, und von San Michele bis Mattareljo
(südlich von Trient) lässt sich ein langsames Aus keilen
konstatieren, so dass gegen Rovereto hin sogar eine
Massenanhäufung dafür eintritt. Dieselbe setzt sich bis
in die Po-Ebene hinein fort, um später wieder, bei
Mantua und Borgoforte, von einem Bezirke geringerer
Massenattraktion abgelöst zu werden. Es versteht sich,
dass auch in westöstlicher Richtung die Massenvertei¬
lung keine gleichmässige sein kann, und zwar scheint
innerhalb Tirols die Stelle, unterhalb deren die Ver¬
minderung der Masse einen Maximalwert erreicht, in
der Nähe der Stadt Lienz (im Pusterthale) gelegen zu
sein. Anhäufungen von specifisch schweren Stoffen sind
bei starken Lokalanziehungen als wahrscheinlichster
Grund anzunehmen, während die Defekte auf die Ent¬
stehung von Hohlräumen, in welche dann Masse von
geringerer Dichte nachdrang, zurückzuführen sein dürften.
Für die Lehre von der Gebirgsbildung bieten diese
Resultate der Arbeiten v. Sternecks (und Helmerts)
mindestens dasselbe Interesse, wie für die mathemati¬
sche Geographie als solche. (Separatabdruck aus dem
11. Bande der »Mitteilungen des k. k. militärgeographi¬
schen Institutes«, Wien 1892.)
(Fischerei im Nördlichen Eismeere.) Seit
einiger Zeit ist eine ziemlich lebhafte Agitation im
Gange, veranlasst durch den Polarforscher Kapitän Bade,
dass deutsches Kapital sich energisch an der Hochsee¬
fischerei in den nördlichen Gewässern beteiligen solle;
vgl. auch unsere Besprechung der Schrift von L. Crem er
in Nr. 12 dieser Wochenschrift. Gegen diese Be¬
strebungen legt nun neuerdings einen ernsten Protest
ein der bekannte Zoologe Kükenthal in Jena, dem die
Verhältnisse in jenen Gegenden aus gründlicher eigener
Anschauung bekannt sind. Nutzfische finden sich, so
stellt derselbe fest, in dem Meere zwischen Norwegen
und Spitzbergen nur in verschwindender Zahl, die Bären-
Insel vielleicht ausgenommen, die aber trotzdem von
den rührigen skandinavischen Fischern so gut wie ganz
gemieden wird. Grund davon sind die sehr ungünstigen
klimatischen Verhältnisse dieses Eilandes, wo heftige
Stürme, dicke Nebel und eine Fülle von Treibeis Zu¬
sammenwirken, 11m dem Landen, wie dem dauernden
Aufenthalte Schwierigkeiten entgegenzustellen. Wenn
die »Amely« im Sommer 1891 hier nur wenig Eis vor¬
fand, so war dies ein ganz ungewöhnlich günstiger Um¬
stand. Auch an anderweiten Seesäugetieren und an
Vögeln sind nicht annähernd so reiche Schätze vor¬
handen, wie Bade annimmt, und die Hoffnung, auf
Bären-Insel oder Spitzbergen reichhaltigere Kohlenlager
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524
Litteratur.
ausbeuten zu können, erscheint gleichfalls zur Zeit als
völlig illusorisch. Kükenthal rät somit von der Be¬
teiligung an einem so wenig sicheren Gewinn verheissen-
den Unternehmen entschieden ab.
Ganz auf dieselbe Seite stellt sich auch ein anderer
Fachmann, der in der Fischereifrage gründlichst be¬
wanderte Geograph Linde mann in Bremen. Er er¬
kennt die Argumente Kükenthals als vollkommen be¬
rechtigte an und warnt dringend davor, dem erwachenden
deutschen Unternehmungsgeiste Bahnen vorzuschreiben,
die zu einem Misserfolge führen müssen, wogegen beim
Anschlüsse an eine der schon bestehenden Bremer Fisch-
dampferrhedereien oder auch an die Emdener Gesell¬
schaft für Häringsfischerei etwas Gedeihliches für die
öffentliche Wohlfahrt und den eigenen Beutel zu er¬
warten sei. (Naturwissenschaftl. Wochenschrift, VII. Bd.,
Nr.. 26; Weser-Zeitung vom 5. Juli 1892.)
(Columbus-Feier in Hamburg.) Für den be¬
vorstehenden 12. Oktober, als den Tag, an welchem
das Geschwader des Entdeckers die Insel Guanahani
erreichte, hat die Geographische Gesellschaft in Ham¬
burg eine grosse Festlichkeit in Aussicht genommen.
Vormittags um 11 Uhr am genannten Tage findet die
Festsitzung im grossen Saale des Konzertsaales statt, und
zwar hat Geh. Admiralitätsrat Dr. Neumayer, Direktor
der Deutschen Seewarte, die Gedächtnisrede übernommen.
Abends um 8 Uhr aber wird in den sämtlichen Sälen
des Sagebielschen Etablissements ein »historischer Fest-
aktus« abgehalten werden, von dem, insbesondere was
Pracht und Korrektheit der Kostüme anlangt, Unge¬
wöhnliches erwartet werden darf. Eine Columbus-
Festschrift, für welche Rüge, Michow u. a. Beiträge
geliefert haben, wird viel Neues und Interessantes zur
Entdeckungsgeschichte der Neuen Welt beibringen, und
eine amerikanische Ausstellung soll alle auf den grossen
historischen Akt bezüglichen Dokumente und Reliquien
vereinigen. An sämtliche Universitäten, erdkundliche
Vereine u. s. w. ist eine liebenswürdige Einladung zur
Teilnahme an dieser Festfeier ergangen. (Rundschreiben
des Generalsekretärs der Hamburger Geographischen
Gesellschaft.)
(Neues über Claus von der Deekens Tod.)
Der italienische Reisende Ugo Ferrandi, der bekannt¬
lich im Vorjahre eine Forschungsreise in die südlichen
Somali- und Galla-Länder unternahm, in der Nähe von
Bardera jedoch zur Rückkehr an die Küste bei Brava
genötigt wurde, gibt über die näheren Umstände von
Baron von der Deekens Ermordung einige neue inter¬
essante Aufschlüsse in dem Organ der Mailänder »So-
cietä d’esplorazione commerciale in Africa« (VII. Jahrg.,
S. 142 ff. u. 189). Ferrandi erzählt, er habe Mitt¬
woch, 8. April 1891, in der Nähe von Bardera erfahren,
der Mörder des Freiherrn, ein gewisser Osmän Abdi,
lebe noch in der Stadt Bardera in dem hohen Alter von
110 Jahren, sei aber so gebrechlich, dass er sich nicht
von der Stelle rühren könne 1 ). Dieser Osmän Abdi,
ein Eläj- oder Kablala-Somäli (nach anderer Version ein
Askul vom Stamme der Hawia), war es, welcher am
2. Oktober 1865 um 3 Uhr nachmittags in das Zelt des
deutschen Forschers trat und ihn aufforderte, die Waffen
abzulegen, da er sich in einem befreundeten Lande be¬
finde. Osmän Abdi war es auch, der dem Baron die
einzige Flinte stehlen Hess, die dieser noch hatte. Als
*) Der Mann starb im Mai 1891 zu Bardera.
Claus von der Decken zu einem Mittagsschlafe sich
niedergelegt hatte, überfiel ihn darauf unter des genannten
Sotnäli Führung die treulose Horde, die sein Zelt um¬
stand, der Baron aber, mit herkulischer Kraft begabt,
vertheidigte sich auf das Tapferste, »facendo lettera-
mente volare«, wie Ferrandi sich ausdrückt, »i Somali
nella capanna«. Er ward aber überwältigt, gebunden,
zum Dschubb-Flusse geschleppt und, bevor man ihn ins
Wasser warf, durch einen Lanzenstoss von Osmän
Abdi getötet. Nach anderer Version erhielt von der
Decken von einem gewissen Mohammed Gorei von
den Quabile Emit, als man ihn aus dem Zelte schleppte,
einen Messerstich in die Weichen. Ferrandi erzählt
ferner, Link sei am 3. Oktober 1865, als er ohne
Kenntnis von der Katastrophe zum Dampfer zurück¬
gekehrt war, von einem Somäli-Burscheti mit Namen
Billal vom Stamme der Lissan getötet worden, der
später von einem Krokodil zerrissen wurde, und be¬
merkt, er könne noch viele Details über die Katastrophe
des »Welf« berichten. Ich selbst erfuhr im Jahre 1885
unter den Ejssa-Somäl, die Kanone des Decken sehen
Dampfers sei von Bardera durch Ogad&n und die ganze
Somäl-Halbinsel nach Norden gewandert und auf dem
Markte in Berbera an einen Unbekannten verkauft worden.
(Mitteilung von Prof. Paulitschke in Wien.)
Litteratur.
Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden
und bisherigen Ergebnisse. Von Georg von der
Gabelentz. Leipzig. 1891. 8°. XX. 502 S.
Nachdem vor etwa 30 Jahren durch einen Berliner Pro¬
fessor, der unter Stanislas Julien in Paris die chinesische
Sprache studiert hatte — ich meine H. Steinthal —, im An¬
schluss an die grundlegenden Arbeiten W. von Humboldts, die
Sprachwissenschaft mit allen ihren weitverzweigten Proble¬
men in den Kreis der gelehrten Forschung gezogen worden war,
waren es besonders Sanskritphilologen, welche diese Wissenschaft
aufnahmen und von ihrem Standpunkte aus dem wissenschaftlich
gebildeten Publikum mundgerecht zu machen versuchten; ich
meine vor allen den anglisierten Deutschen Max Müller in
Oxford und den Amerikaner W. D. Whitney in New-Haven.
Nun ergreift in dem vorliegenden Buche, dessen Titel wir oben
mitgeteilt haben, wiederum ein Sinolog, ein Mitglied der Berliner
Hochschule das Wort, um uns von seinem Standpunkte über die
Sprachwissenschaft und deren Probleme zu belehren. Und in
der That, man wird auch selten einen Mann finden, der eine
bessere Vorbereitung und mehr Beruf für seine Aufgabe mit¬
brächte, als G. von der Gabelentz.
Gabelentz gehört nicht zu jenen unfruchtbaren Gelehrten,
denen das wissenschaftliche Schulrecept für das höchste gilt, was
überhaupt geleistet werden kann; er hat von der Wissenschaft
nicht so sehr die Anschauung eines deutschen Hochschulprofessors,
als vielmehr jene eines griechischen Philosophen. Er sagt in
der Vorrede (S. VI): »Eine verfehlte Unterrichtsmethode kann
dem Schüler den Lehrgegenstand für Lebenszeit verleiden; und
verfehlt scheint es mir allemal zu sein, wenn bei jungen Köpfen
mehr darauf abgezielt wird, ihnen ein Wissen und Können bei¬
zubringen, als die Sehnsucht nach Wissen und Können zu er¬
wecken. Denn das Gelernte wird wieder verlernt, das gewonnene
Interesse aber wächst und wirkt fort.« — Und weiter (S. VII):
»Wir leben in einer Zeit der Monographien. — Der einzelne
vergräbt sich zu gern ins einzelne, verliert den Zusammenhang
mit dem ganzen und klagt dann, wenn er sich vereinsamt sieht.
Es ist entweder beschränkter Dünkel oder zimperliche Scheu
vor Dilettanterei, wenn man den Verkehr mit den Nachbar¬
wissenschaften ablehnt und nicht da mitgeniessen will, wo man
nicht mitschafien kann«.
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Litteratur.
525
Gabelentz behandelt den Stoff nicht so sehr in der mehr
populären Weise seiner beiden unmittelbaren Vorgänger Max
Müller und Whitney, als vielmehr in der wissenschaftlich¬
systematischen Weise Steinthals oder auch teilweise in der
philosophisch-empirischen Erörterungsweise des Begründers der
allgemeinen Sprachwissenschaft W. von Humboldts.
Er erörtert einleitungsweise zunächst den Begriff der
Sprachwissenschaft und der Sprache, sowie deren zwei Seiten,
des Lautes (des Aeusseren) und des Gedankens (des Inneren),
geht zu den Aufgaben der Sprachwissenschaft, der Erforschung
der einzelnen Sprachen, der Sprachstämme und endlich aller
Sprachen der Erde über, um schliesslich die Stellung der
Sprachwissenschaft zu den Natur- und Geisteswissenschaften
zu bestimmen. Gabelentz stimmt im wesentlichen mit mir
tiberein (Grundriss der Sprachwissenschaft I, S. 10 ff.), dass die
Sprachwissenschaft vom methodologischen Standpunkte mit den
Naturwissenschaften eine Art Verwandtschaft zeigt, dass sie aber
ihrem Objekte nach entschieden zu den Geisteswissenschaften
gehört.
Es folgt nun ein Ueberblick der Geschichte der Sprach-
kunde und Sprachwissenschaft, ln kurzen Bildern werden die
in dieser Richtung von den einzelnen Kulturvölkern unternom¬
menen Versuche dem Leser vorgeführt. Den Reigen eröffnen
die Aegypter, dann folgen im Altertum die Assyrer, Chinesen,
Griechen und Römer. — Es wird dann der Einfluss des Christen¬
tums und des Islams auf die Sprachkunde besprochen und werden
dem unmittelbar die grammatischen Studien bei den Persern und
Juden angereiht. Den Schluss bildet die Grammatik der Inder
mit dem monumentalen Werke Paninis und die Grammatik der
Japaner, die vorwiegend fremdem Einflüsse ihre Entstehung ver¬
dankt.
Auf die Erörterung dieser, der jeweiligen Muttersprache zuge¬
wendeten wissenschaftlichen Forschung folgt ein Ueberblick jener
Periode, wo man fremde Sprachen wissenschaftlich zu studieren
und zu erforschen begann. Diese Periode hebt mit der Refor¬
mation und der Entdeckung Amerikas an. Gegen das Ende der¬
selben im vorigen Jahrhundert tauchen in den Köpfen mehrerer
Gelehrten wissenschaftliche Ahnungen von dem Zusam¬
menhänge einzelner Sprachen mit einander auf; es zeigen sich
die ersten Strahlen der Morgenröte der vergleichenden Sprach¬
forschung, auf welche nach dem Bekanntwerden des Sanskrit
durch die Engländer am Beginn dieses Jahrhunderts rasch das
leuchtende Gestirn am wissenschaftlichen Horizont erscheint —
der Deutsche Fr. Bo pp, der durch seine methodisch begründete
Entdeckung zur vergleichenden Sprachforschung den festen Grund
legte, auf welchem zunächst die vergleichende Grammatik der
indogermanischen Sprachen als eine gegenwärtig auf allen Uni¬
versitäten gepflegte Wissenschaft erwuchs.
Unabhängig von dieser auf dem Boden der Philologie er¬
wachsenen Richtung tritt eine zweite auf, welcher mehr ein philo¬
sophisch-ethnologisches Interesse zu Grunde liegt, die
Polyglottie, das Sammeln von Proben und Vokabularien frem¬
der Sprachen. Diese Richtung beginnt mit keinem Geringeren
als dem Philosophen Leibnitz und findet in den Gelehrten am
Hofe Katharinas II. von Russland, in dem spanischen Jesuiten
L. Hervas und in Adelung und S. Vater, den Verfassern des
bekannten »Mithridates«, ihren Ausdruck.
Eine Zusammenfassung dieser beiden Richtungen tritt uns
in W. von Humboldt entgegen, der den Ausgangspunkt für
die moderne philosophisch-philologische Sprachfor¬
schung bildet.
Die harten Kämpfe, welche diese neue Wissenschaft, auf
die Deutschland mit Recht stolz sein kann, gerade dort, wo ihre
Wiege gestanden, an der Berliner Hochschule, zu bestehen hatte,
sind ein trauriges Denkmal gelehrten Eigendünkels, bornierten
Zopftums und lächerlicher Schultyrannei. Als nach dem Tode
Bopps es sich darum handelte, ihm einen würdigen Nachfolger
zu geben, da erklärte ein wegen seiner Aufgeblasenheit und
maasslosen Grobheit berühmtes Schulhaupt, dies sei nicht nur
»unnötig«, sondern sogar »schädlich« (vgl. Pott, Wurzelwörter¬
buch der indogermanischen Sprachen II, Vorwort) und H. Stein¬
thal, eine der ersten Zierden der Berlinerllochschule, ist noch
immer ausserordentlicher Professor und zählt nicht zu den Mit¬
gliedern der Berliner Akademie *).
Nachdem der Verfasser bisher über die Wissenschaft ge¬
handelt , geht er in den nachfolgenden Abschnitten auf den
Träger dieser Wissenschaft und seine geeignete Vorberei¬
tung über. Er fordert von dem zukünftigen Sprachforscher
eine gewisse phonetische Schulung, d. h. eine Findigkeit im Auf¬
fassen fremder Laute und Töne, womit auch eine Geübtheit im
Niederschreiben derselben verbunden sein muss. Es werden
dabei die wissenschaftlich-praktischen Versuche von Lepsius und
die streng wissenschaftlichen der Physiologen, namentlich T e c h-
mers, erörtert. Der Sprachforscher soll aber auch ein guter
Psycholog sein; er soll im stände sein, von der äusseren Ober¬
fläche in das Innere der Sprache, den psychischen Prozess ein¬
zudringen, er soll auch ein guter Logiker sein und noch vieles
andere: kurz, er soll mit allen Wissenschaften, welche auf den
Menschen sich beziehen, in Fühlung treten und durch das Stu¬
dium klassisch ausgeführter Werke sich anzuregen suchen.
Nach diesen den Gegenstand im allgemeinen be¬
treffenden Darlegungen wendet sich von der Gabelentz der
speciellen Untersuchung desselben zu, wobei er von der
Betrachtung der einzelnen Sprache zu jener eines ganzen Sprach-
stammes fortschreitet, um schliesslich zur Betrachtung der Sprache
überhaupt zu gelangen. Seine Erörterungen betreffen daher 1. die
Erforschung einer einzelnen Sprache, 2. eines ganzen Sprach-
stammes und 3. der Sprachen des Erdkreises überhaupt.
Die Erforschung jeder einzelnen Sprache beginnt mit der
Aneignung eines bestimmten Typus derselben, eines Dialektes
aus dem täglichen Verkehr und dem Munde eines Eingeborenen
oder eines solchen, der sie von den Eingeborenen erlernt hat,
oder aber (und dies ist bei toten Sprachen der Fall) aus schrift¬
lichen Aufzeichnungen. Der Weg ist also entweder ein rein
praktischer oder ein philologischer. Der Verfasser gibt für
beide Richtungen Anweisungen und Winke an die Hand.
Nach Erlernung einer Sprache handelt es sich um ihre
Darstellung. In der Regel ergibt die Zusammenfassung der
formalen Elemente einer Sprache jene Disciplin, welche wir
Grammatik nennen, während das rein Stoffliche im Wörterbuche
seinen Platz findet. Die Scheidung beider von einander ist nicht
so radikal, als man gewöhnlich glaubt, und der Vergleich eines
Lexikons der griechischen Sprache mit jenem des Sanskrit oder des
Arabischen kann jedermann über diesen Punkt leicht belehren.
Der Verfasser erörtert die beiden Systeme, das analytische
und das synthetische, von denen bekanntlich das letztere in
der Regel von den Grammatikern zu Grunde gelegt wird. Und
doch ist das analytische System das natürlichere, da die mensch¬
liche Rede aus Sätzen besteht, deren Bestandteile, die einzelnen
Worte, mehr oder weniger deutliche Abstraktionen sind. Man weiss,
wie schwer es ist, einem ungebildeten Eingeborenen eine bestimmte
grammatische Form abzufragen, und dass in einzelnen Sprachen
die Unterschiede zwischen Satz und Wort völlig verschwimmen.
Das was der Verfasser am Schlüsse des Abschnittes über
die einzelsprachige Forschung in betreff der Sprache und Schrift
und ihres Verhältnisses zu einander, sowie der beiden ortho¬
graphischen Systeme, des historischen und des phonetischen
nämlich, bietet, ist sehr anregend, aber oft zu kurz und abge¬
rissen, und der Leser wird gut thun, meinen Grundriss der
Sprachwissenschaft I, 1, S. 150 ff. nachzulesen. Die am Schlüsse
des Absatzes S. 144 stehende Behauptung, das sanskritische c = ts
sei ein Laut, ist nicht richtig. Wäre c ein Laut, dann könnte
es auch im Auslaut Vorkommen, was bekanntermaassen nicht der
Fall ist. .Und auch vom physiologischen Standpunkte ist c = ts
nicht als ein einfacher Laut, sondern als Konsonanten-
Diphthong aufzufassen.
Von der einzelsprachigen Forschung führt die historische
Grammatik zur genealogisch-historischen Sprach¬
forschung hinüber. Den Anstoss zu dieser Wissenschaft gab
die Entdeckung des indogermanischen Sprachstainmes durch
Auch A. Schleicher, der es an der kleinen Universität Jena
nicht zum ordentlichen Professor brachte, musste die bittere Erfahrung machen,
dass oft jene Männer, welche stets von der Wissenschaft und dem veredelnden
Einflüsse derselben reden, darunter bloss ihre armselige Zunftweisheit verstehen.
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526
Litteratur.
Bo pp, dem die Entdeckung des malayo-polynesischen, des ural-
altaischen, des drawidischen, des Bantu- und des hamitisch-semiti-
schcn Sprachstammes rasch folgte.
Aus dem Studium dieser wissenschaftlich sicher gestellten
Sprachstämme lässt sich am besten entnehmen, wie der Beweis
der Zusammengehörigkeit bzw. der Verwandtschaft
zweier oder mehrerer Sprachen behufs Aufstellung einer eigen¬
tümlichen Familie geführt werden muss. Man weiss nun, dass
hier der Grammatik (Laut- und Formenlehre) der Hauptbeweis
zufallt, während das Lexikon als ein Element, das den geführten
Beweis ergänzt und verstärkt, hinzutritt. Bopp selbst musste
die Richtigkeit seiner an der Behandlung der indogermanischen
Sprachen gefundenen Methode an den malayischen und kauka¬
sischen Sprachen erproben, deren Verwandtschaft mit der indo¬
germanischen er vorwiegend mittels der alten Verbalvergleichung
nachweisen wollte.
Die Frage, wie viele Sprachen und wie viele Sprach¬
stämme es gibt, lässt sich heutzutage nur approximativ beant¬
worten. Wir kennen bis jetzt noch nicht alle Sprachen, und wie
Amerika zeigt, lässt sich die Anzahl der sog. isolierten Sprachen
durch Entdeckung von Sprachfamilien bedeutend reduzieren. Die
Frage jedoch, ob wir für den jetzigen Zustand der Sprachen
mehrere Ursprachen oder eine einzige Ursprache an¬
nehmen müssen, scheint von den meisten nicht so sehr aus rein
wissenschaftlichem Interesse, als vielmehr infolge religiöser Ueber-
zeugungen und Vorurteile gestellt worden zu sein.
Das was der geehrte Herr Verfasser auf S. 168 ff. über
voll- und halbbürtige Verwandtschaft und über Misch¬
sprachen bemerkt, leuchtet mir absolut nicht ein. Im Grunde
genommen ist jede Sprache eine Mischsprache, da es eine ganz
reine Sprache nirgends gibt. Dass man aber in einem konkreten
Falle darüber im Zweifel sein soll, worunter man eine bestimmte
Sprache zu klassifizieren habe, scheint mir sehr fraglich. Gleich¬
wie ein lebendes Individuum bloss einen Vater, nicht aber
zwei Väter haben kann, ebenso kann einer Sprache bloss eine
Grammatik, nicht aber zwei Grammatiken zu Grunde liegen.
Lehrreich sind die Erläuterungen, die der Verfasser über
den hamitisch-semitischen Sprachstamm gibt und seine Bemer¬
kungen über den Zusammenhang des Nahuatl mit den Algonkin-
Sprachen. Auch das S. 175 über die Sprachen von Kabakada
und Neulauenburg Bemerkte wird jedermann, der sich für die
Sprachgeschichte interessiert, mit Vergnügen lesen.
Die Sprache ist der Ausdruck des menschlichen Den¬
kens. Sie hat daher zwei Seiten, eine äussere (das lautliche)
und eine innere (das psychische Moment). Die Sprache wurzelt
daher teils in den Sprachorganen, teils in der Seele des
Menschen. Die Gesetze # welche die Sprachorgane diktieren,
sind mechanisch und starr, wie alle Naturgesetze. Ihnen
gegenüber kann man die psychischen Gesetze zwar nicht als
willkürlich bezeichnen, sie sind aber mit ihnen nicht kon¬
gruent, da sie sich nicht auf die Laute, sondern auf die Vor¬
stellungsmassen beziehen. Diese beiden Gesetze, die Laut¬
gesetze und die psychischen Gesetze wirken stets zusammen,
so dass oft das eine Gesetz das andere durchkreuzt. Dies sind
die sogenannten Unregelmässigkeiten.
Als Bopp zur vergleichenden Sprachforschung den Grund
legte, war es ihm zunächst darum zu thun, durch die Zusammen¬
stellung der gleichen Wortbildungselemente den Nach¬
weis der ursprünglichen Einheit der indogermanischen Sprachen
zu führen. Den Lautgesetzen tiefer nachzuspüren, fand er zu¬
nächst keinen Anlass, da die Identität der wortbildenden Ele¬
mente in der Regel auf der Hand lag; ebenso hat er die Frage
über die Beschaffenheit der Grund- oder Ursprache nicht auf¬
geworfen. Nachdem Pott zur Erklärung der wortbildenden
Elemente Bopps auch noch die Analyse der wurzelhaften Ele¬
mente der Sprache hinzugeftigt und die Lautgesetze, welche
zwischen den einzelnen indogermanischen Sprachen obwalten,
festgestellt hatte, suchte A. Schleicher das Problem der Ur¬
sprache zu lösen, indem er auf Grund der Lautgesetze dieselbe
rekonstruierte und von ihr aus, entgegengesetzt dem von Bopp
betretenen Wege, die Entwickelung der einzelnen indogermani¬
schen Sprachen nachzuweisen versuchte. Da für Schleicher
bloss die äussere, lautliche Seite der Sprache existierte (es
hing dies mit seiner Anschauung, dass die Sprachwissenschaft
eine Naturwissenschaft sei, zusammen), so stand er oft den von
psychischer Seite eingedrungenen Störungen innerhalb der Sprache,
bezw. der Lautgesetze, ratlos gegenüber.
Eine Lösung dieser Gegensätze versuchte die Schule der
sog. »Junggrammatiker«, deren Forschungen und Ansichten in
dem Werke Brugmanns sich vereinigt finden. Der Haupt¬
grundsatz der junggrammatischen Schule, wodurch sie sich als
Fortsetzerin der Schleicherschen Richtung dokumentierte, war
das Dogma von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze
als reiner Naturgesetze. Dieser Satz ist im Grunde ganz
richtig; nur müsste man ihn, da er sich nicht auf ein totes
Wesen, sondern auf den Menschen bezieht, anders formulieren.
Man möchte sagen: die Lautgesetze sind von Haus aus aus¬
nahmslos wirkende Naturgesetze und sie wären es auch, wenn
sie nicht durch psychische Gesetze, die mit ihnen gleich¬
zeitig wirken, beeinflusst und aufgehoben würden. Zu dieser
Ansicht hätte auch Schleicher kommen müssen, wenn er nicht
die Richtung Steinthals, für welche er absolut kein Verständnis
besass, förmlich perhorresciert hätte.
Vergleicht man das Bild der Ursprache, wie es Schleicher
entworfen hat (er hat sogar eine Fabel in derselben gedichtet!),
mit dem Bilde, welches Brugmann vor seinen Lesern aufrollt,
so glaubt man gar nicht, dass beide auf einen und denselben
Gegenstand sich beziehen. Und dennoch haben beide nach
Maassgabe des Wissens ihrer Zeit ganz richtig rekonstruiert.
Daraus mag man selbst entnehmen, ob die indogermanische Ur¬
sprache (wie manche glauben) eine Realität ist oder ob wir
sie nicht vielmehr für eine wissenschaftliche Formel (ähn¬
lich den Formeln in der Chemie) zu betrachten haben *).
Als die Grundelemente der Sprache hat die vergleichende
Sprachforschung die Wurzeln aufgestellt; jede Sprache ist aus
Wurzeln aufgebaut. Doch nirgends herrscht grössere Unklarheit
als gerade über diesen Punkt. Das was der Verfasser auf S. 289
darüber sagt, hat mich nicht befriedigt. Mir kommt vor, dass
Potts Definition »die Wurzel ist die Einheit genetisch zusammen¬
gehöriger Wörter und Formen, welche dem Sprachbildner bei
deren Schöpfung in der Seele als Prototyp vorschwebte« der
Wahrheit am nächsten kommt. Das Wichtigste aber ist, nach
meiner Ansicht, zu wissen, dass die Wurzel nicht in der
Sprache, sondern bloss im Sprachbewusstsein vorkommt.
Die Sprache kennt bloss Worte, keine Wurzeln, und so ist es
auch immer gewesen.
Es ist daher wissenschaftlich ganz indifferent, ob man z. B.
im Griechischen von der Wurzel Xtrc ausgeht, wie man es früher
nach dem Vorgang der Inder gethan hat und von da aus zu
kv.k und Xoiit aufsteigt, oder ob man Xsix als Grundform ansetzt,
wie es die Junggrammatiker thun und von da einerseits eine
Tiefstufe Xtit, andererseits eine Hochstufe Xoiir annimmt, oder
gar wenn man von Xotit ausgehen wollte, um von da aus zu
Xcitc und Xtit hinabzusteigen. In allen diesen Fällen wird die Wurzel
irrtümlicherweise dort gesucht, wo sie gar nicht existiert, näm¬
lich in der Sprache.
Es war ein schwerer Irrtum Schleichers uud vieler Vertreter
der historischen Sprachforschung, zu glauben, dass bloss die alten,
in der Litteratur begrabenen Sprachen ein würdiges Objekt der
Sprachforschung bilden. Das mahnt etwas an den Stockphilologen
K. Lachmann, von dem sein Biograph M. Hertz den Orakelspruch
der Nachwelt überliefert hat, »dass er nicht begreife, wie man sich
mit Erforschung einer Sprache abgeben könne, welche keine Littera¬
tur besitzt«, ein Orakelspruch, den Hertz nach der Meinung Potts
zum Ruhme Lachmanns lieber hätte unterdrücken sollen (Pott,
Wurzel Wörterbuch II, 1, S. VII). Es ist ein Verdienst der Jung¬
grammatiker, der besseren Einsicht Bahn gebrochen und gezeigt
zu haben, dass man die Geschichte der Sprache und das
l ) Genau genommen verstehen Schleicher und Brugmann unter
der Ursprache jeder etwas anderes, und es sind beide Ursprachen zeitlich
durch Jahrtausende von einander getrennt. Während Schleicher unter der
Ursprache jene Sprache verstand, die am Anfänge der indogermanischen
Finhcitspcriode gesprochen wurde, ist bei Brugmann die Ursprache jenes
Idiom, welches vor der Auflösung oder Teilung desselben in die
einzelnen Zweigspraclien geredet worden sein mag.
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Litteratur.
527
Wirken der dabei beteiligten Mächte nirgends besser studieren
kann, als an den lebenden Sprachen. Diese Idee hatte
schon W. v. Humboldt ausgesprochen, als er bemerkte, die
eigentliche Sprache sei kein abgeschlossenes Werk, sondern eine
Kraft, die im Geiste des Sprechenden wirkt und in der
lautlichen Sprache sich bloss äussert.
Wir kennen nun die Mächte, die bei der Sprachschöpfung
und Umbildung wirksam sind und es auch immer waren, wir
wissen das richtig zu beurteilen, was man früher Euphonie nannte,
wir wissen, dass diese Euphonie ein Hysteronproteron, nicht im
Ohr, sondern vielmehr in den Sprachorganen wurzelt. Wir wissen
nun, welch tiefgreifender Einfluss der Analogie im Leben einer
Sprache zukommt, warum Formen verschwinden und an deren
Stelle neue geschaffen werden, warum der synthetische Sprach¬
bau dem analytischen Platz macht u. dgl. m. Das Studium der
Dialekte belehrt uns über manches, was uns früher rätselhaft
war, so über Doppelformen. Selbst das Studium der unschein¬
barsten und vom philologischen Standpunkte korruptesten Sprachen
gewinnt für uns die höchste Bedeutung.
Was würde z. B. die romanische Sprachforschung dafür
geben, wenn es gelänge, ein wohlerhaltenes Konvolut von Briefen,
Rechnungen und sonstigen Aufzeichnungen eines römischen Pfahl¬
bürgers, der nicht schulmässig, sondern nach dem Gehör zu
schreiben gewöhnt war, aufzufinden? Ich glaube, man könnte
gut zwei Drittel der poetischen und philosophischen Litteratur
der Römer dafür hingeben, trotz dem Jammer der Philologen
um ihre schönen Lesearten und gelehrten Anmerkungen. Selbst
die Sprache der Kinder erhält für den Sprachforscher eine grosse
Wichtigkeit und die Onomatopöe, sowie die Gesten, mit welchen
der Ungebildete seine Rede begleitet, und die der Gebildete als
unanständig verbannt, werden eines besonderen Studiums flir
würdig befunden.
Wenn wir die Geschichte, speciell die Kulturgeschichte,
zu Hilfe nehmen, die uns über das innere Leben der Nationen
belehrt, dann können wir auch manche rein sprachlichen Fragen
lösen. Warum hat, bei gleichen geistigen Anlagen, bloss der
Grieche eine Prosa entwickelt und nicht auch der Inder? Dies
erklärt sich einfach daraus, dass der Grieche als freier Mann
überall in den Volksversammlungen, vor Gericht und in der
Palästra seiner Redegabe freien Lauf lassen konnte, während
in Indien die eine Klasse der Bevölkerung in sinnlichen Ge¬
nüssen schwelgte, die andere Klasse betete, sich kasteite und
meditierte, und wieder eine andere Klasse stumm wie ein Hund
arbeiten musste. Unter dem Despotismus konnte sich natürlich
keine forensische Beredsamkeit entwickeln, und ein Pfaffentum,
dem die Religion als Eigentum der höheren Klassen galt, das
also den Arbeiter im Vornhinein aus der religiösen Gemeinschaft
ausschloss, brauchte die kirchliche Beredsamkeit nicht zu kultivieren.
Im letzten Abschnitte behandelt der Verfasser die allge¬
meine Sprachwissenschaft, er handelt von der Sprache
überhaupt. — Die erste Frage, die uns hier entgegentritt, ist
die Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache. —
Der Verfasser findet die Lösung der Frage hauptsächlich darin,
dass der Mensch ein Cthov soktTixov ist, dass er die äussere Grund¬
lage der Sprache, den Laut, mit mehreren Tieren teilt und dass
viele bei ihm besonders stark entwickelte Triebe, wie der
Nachahmungstrieb, der Spieltrieb, die Neugier und Schwatz¬
haftigkeit, vor allem aber das enge Zusammenleben innerhalb der
Familie ihren Teil zur Entwickelung der Ursprache beigetragen
haben. Er weist den sprachlosen Urmenschen (homo alalus) ab *),
vermutlich weil er den Menschen als gegebenes Wesen betrachtet
und den Stammbaum desselben nicht weiter zurückverfolgen will.
Er unterlässt es infolgedessen auch, den die Sprache erzeugen¬
den und von der Sprache wiederum in seiner Entwickelung ab¬
hängigen psychischen Prozess näher zu verfolgen, wie ihn Stein¬
thal und Lazarus so meisterhaft dargelegt haben.
Der Verfasser geht nun auf die Rede selbst über, wobei
er die Einteilung der Rede in Stoff und Form ausführlich er-
1 ) Ich erlaube mir x\i bemerken, dass der sprachlose Urmensch
gleich der Ursprache eine wissenschaftliche Fiktion ist. Jemand, der,
so wie Prof, von der Gabelentz, vom homo alalus nichts wissen will,
muss folgerichtig auch den Begriff der Ursprache ablehnen.
örtert. Der Stoff besteht nach ihm »in allem, was des Menschen
Denken erregt*, dagegen ist »die Formung ausschliessliches Er¬
zeugnis der Verbindung, und die Verbindung dient ausschliess¬
lich dem Zweck der Formung*. Von der Gabelentz hält
keine Sprache für gänzlich formlos. Vielmehr spricht er jeder
Sprache sowohl die äussere als auch die innere Form zu. Er frägt:
was wird in einer Sprache geformt und durch welche Mittel
geschieht die Formung? Jenes ist die Frage nach der inneren,
dieses die Frage nach der äusseren Form. In betreff der
Frage nach der inneren Sprachform citiert der Verfasser aus¬
führlich seine Vorgänger, namentlich Steinthal, um daran seine
etwas abweichenden Ansichten darzulegen.
Wie mir scheint, hätte die Betrachtung mehr vom Satz,
als vom Worte aus angestellt werden sollen. Ich glaube, dass
Steinthal ganz recht hat, wenn er sagt: »das Wesentliche also,
worin sich die materielle oder formelle Vorstellungsweise kund¬
gibt , liegt in der Behandlung der Wörter, in der Kon¬
struktion«, und »bleibt man bei einer einzelnen Form
einer Sprache stehen, so lässt sich in keinem Falle ent¬
scheiden, ob man eine wirkliche Form vor sich hat oder eine
Agglomeration«, und noch mehr: »das ist nun der eigentliche
Charakter der Formlosigkeit, dass Wortfügung, Zusammen¬
setzung und Wortbildung zusammen fallen«. So mancher
dürfte, wenn er eine Grammatik des Türkischen studiert, in den
feinen Sprachformen desselben eine formvollendete Sprache zu
finden glauben. Doch er wird, sobald er zur Lektüre von Texten,
namentlich officiellen Schriftstücken, übergeht, seine Ansicht rasch
ändern und wird sich sagen müssen, dass auf Grund einer Solchen
Sprache weder ein Plato noch ein Demosthenes möglich ge¬
wesen wäre.
Auch in der äusseren Sprachform, der Morphologie, er¬
blickt von der Gabelentz nicht Gegensätze, sondern Ueber-
gänge. Dies war auch im wesentlichen Schleichers Ansicht,
der aber, wie bekannt, die innere Sprachform ganz ignorierte.
Es ist mithin für von der Gabelentz ein Fortschritt von der
ungeformten Satzform successive zur Isolierung, Agglutination
und Flexion vorhanden. Zwischen der Agglutination und Flexion
besteht nach ihm kein radikaler, sondern ein bloss gra¬
dueller Unterschied.
Es folgt nun die Erörterung der Wortstellung, der Be¬
tonung und des rhetorischen Bestandteiles der Rede. Mit Recht
sieht der Verfasser in den Agglutinationen die Zeugen vorge¬
schichtlicher Stellungsgesetze der Sprache. So lässt sich z. B. in
den indogermanischen Sprachen aus den Wortzusammensetzungen
die Syntax der indogermanischen Ursprache leicht rekonstruieren.
Der Verfasser erörtert dann die Entstehung der gram¬
matischen Redeteile. Er meint, in den Kategorien des
Substantivums, Adjektivums und Verbums dürfte sich der ur¬
sprüngliche Vorrat an Stoffwörtern erschöpfen. Die Herkunft
der Zahlwörter ist fast überall dunkel. Was den ersteren Punkt
anlangt, so möchte ich den Vorrat an Stoffwörtern auf die beiden
Kategorien des Verbums und Nomens reduzieren. Ich finde zwischen
dem Substantivum und dem Adjektivum einen bloss syntaktischen
Unterschied. Was die Zahlwörter betrifft, so belehren uns die
in den verschiedenen Sprachen geltenden Zählmethoden, dass
Fünf = Hand, Zehn = zwei Hände und, wo ein Vigesimal-
System vorhanden, Zwanzig = ein Mensch ist, dass also Nomi¬
nalausdrücke vorliegen, Grund genug, um auch die übrigen
Zahlenausdrücke für Nomina zu erklären.
Dass bei solchen Anschauungen der Verfasser zur Auf¬
stellung einer Klassifikation der Sprachen nicht gelangen
kann und bloss eine Sprachwürdigung vornehmen muss,
liegt auf der Hand. Doch auch die Würdigung einer Sprache
bietet bedeutende Schwierigkeiten. Soll man dabei bloss an
die Sprache sich halten oder auch ihre Leistungsfähigkeit für
das Denken mit in Anschlag bringen ? Soll man von der
Kultur eines Volkes auf das Wesen der Sprache, welche es
redet, einen Schluss zu ziehen sich erlauben? Kann man aus
dem, was man dem Aeusseren, dem Laut, entnommen zu haben
glaubt, unbedenklich auf das Innere schliessen? In der That
gehört eine genaue Kenntnis nicht nur der sprachlichen
Thatsachen, sondern des ganzen Sprachbewusstsei ns dazu,
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528
Litteratur.
um über das Wesen und den Wert einer Sprache ein sicheres
Urteil abgeben zu können.
Der Verfasser hält Musterung über eine Reihe von Sprachen
und stellt treffende Vergleiche an. So vergleicht er die Malayen
und Semiten, die Malayen und Ural-Altaier. Er hätte die Bantu¬
völker in betreff ihrer Kultur und ihres Volkscharakters mit den
Ur-Indogermanen vergleichen können. Manche wedische Sitte
und Anschauung findet bei den Bantus ihre Parallele, und die
Sociologie beider Stämme zeigt eine grosse Aehnlichkeit. Der
Verfasser erörtert dann die einzelnen Punkte, welche bei der
Beurteilung der Sprachen in Betracht zu kommen haben, von
den einfachsten Elementen, den Lauten, an bis zur ganzen Rede,
wobei er lehrreiche Beispiele aus dem Vorräte seines reichen
Wissens vorlegt. In der Beurteilung einzelner Fälle kann ich
mich dem verehrten Herrn Verfasser nicht anschliessen und bin
ganz anderer Ansicht, doch dies thut der Stichhaltigkeit der
meisten seiner Deduktionen keinen Eintrag. Und selbst dort,
wo man die Ansichten des Verfassers direkt bestreiten und wider¬
legen möchte, wird man sich gestehen müssen, dass man sehen
so tief und nachhaltig angeregt worden ist, wie durch die von
ihm in so geistvoller Weise geführten Untersuchungen.
Wien. Friedrich Müller.
Das Verebnen der Kugeloberfläche för Gradnetz¬
entwürfe. Ein Leitfaden von Dr. A. Breusing, Direktor
der Seefahrtschule in Bremen. Mit Figuren im Text und sechs
Bildtafeln. Leipzig 1892. Verlag von H. Wagner & E. Debes.
IV und 71 S. gr. 8 9 .
Eine Breusingsche Schrift anzuzeigen, bereitet stets ein
Vergnügen, einerlei ob der Rezensent mit allen Einzelheiten der
Vorlage einverstanden ist oder nicht, denn man weiss, hinter den
Buchstaben des Textes steht ein klarer Verstand und eine kraft¬
volle Ueberzeugung, welche sich unter allen Umständen Beach¬
tung zu erzwingen versteht. In dem hier gegebenen Falle wird
jedoch jeder Beurteiler mit Vergnügen die positive Leistung als
solche anerkennen und zugestehen, dass wir bisher noch keinen
Leitfaden der Karten projektionslehre besitzen, welcher auf so
kleinem Raume und mit so einfachen Mitteln all das gibt, was
der höher strebende Jünger der Geographie zu wissen nötig hat.
Ein Buch aus einem Gusse, von dem jeder Fachgenosse mit
Genuss nähere Einsicht nehmen wird; möge diese Anzeige dazu
dienen, Leser und Käufer für dasselbe zu werben!
Der Unterzeichnete, welcher in gegenseitiger kollegialer
Achtung mit dem Verfasser schon zum Öfteren einen kleinen
Strauss auszufechten hatte, stimmt ja nicht jedem einzelnen Aus¬
spruche des an Pointen reichen Buches bei. Er meint z. B.,
dass das Werkchen von Zöppritz, mit welchem nach der Mei¬
nung des Verfassers (im Vorwort) »nichts anzufangen« ist, eine
ganz gute Grundlage für den kartographischen Unterricht abgebe,
denn er hat seiner Zeit eine Vorlesung über die in Rede stehende
Disciplin gehalten, bei welcher er sich zunächst an Zöppritz
anlehnte, und seiner freilich subjektiven Auffassung zufolge glaubt
er dabei nicht gerade übel gefahren zu sein. Auch die Ver¬
urteilung mancher Entwürfe (S. 62 ff.) möchte er sich nicht
unbedingt aneignen, denn wenn auch nicht zu leugnen ist, dass
manch theoretisch beachtenswertes Abbildungsverfahren unschöne
Länderkonturen und ein »verschrobenes Netz« liefert, so ist doch
zu erwägen, dass neben den Interessen der darstellenden Geo¬
graphie auch die der höheren Geometrie in Betracht kommen,
und von deren Standpunkte aus kann manche Methode alle Be
achtung verdienen, die in einem Atlas allerdings nicht vertreten
sein darf. Endlich haben »die deutschen Gelehrten* insgesamt
doch wohl nicht den Vorwurf (S. 64) verdient, dass sie das
wahre Verdienst des Snellius neben dem usurpierten des Po-
thenot verkannten; der Unterzeichnete ist sich wenigstens be¬
wusst, in seinem »Handbuch der mathematischen Geographie*
der geschichtlichen Wahrheit die Ehre gegeben und die erste
Lösung des »Pothenotsehen Problems« auf Snellius und
Schickard, welch letzterer ja auch genannt zu werden verdient,
zurückgeftihrt zu haben. Wenden wir uns nun aber zur Kenn¬
zeichnung des Inhaltes.
Einer in ihrer Klarheit kaum zu übertreffenden Einleitung,
welche die allgemeinen Ziele des Kartenzeichnens darlegt, lässt
der Verfasser, welcher sich von der sonst vorwiegenden Bevor¬
zugung der perspektivischen Entwürfe mit vollem Bewusstsein
emancipiert hat, die von ihm als »speichen-« und »reifentreu*
bezeichneten Abbildungen folgen, welch letzteren — der ortho¬
graphischen Projektion — er mit Fug bloss eine astronomische
und keine besondere geographische Bedeutung zuerkennt, worauf
dann noch kurz die »gradwegige« oder gnomonische Abbildung
erledigt wird. Hierauf charakterisiert er vortrefflich das Wesen
des »flächen-« und »Winkeltreuen« Kugelbildes und bespricht zur
Erläuterung des letzteren die stereographische oder »kreistreue«
Projektion, deren Hauptsatz in eleganter Weise bewiesen wird.
Alle die erwähnten Entwürfe haben das Gemeinsame, dass sie
»strahlig« sind. Ihnen stehen die »säuligen« oder cylindrischen
Entwürfe gegenüber, wobei natürlich — zumal da das Buch in
erster Linie für angehende Seeleute bestimmt ist — die Mer-
cator-Projektion besonders eingehende Darstellung findet. Wir
werden in den Gedankengang, welcher diesen genialen Karto¬
graphen bei seiner Erfindung leitete, direkt eingeführt, und es
wird so manches einleuchtend, was bei einer deduktiven Schilde¬
rung, die überredet, aber nicht überzeugt, im Dunklen bleiben
muss. Dieser ziemlich umfängliche Abschnitt ist namentlich auch
für den Historiker wertvoll und verbreitet Licht über den nam¬
haften Anteil, welcher bei der wissenschaftlichen Durcharbeitung
des von Mercator ausgegangenen Gedankens dem englischen
Mathematiker Wright zugesprochen werden muss. Wir gestehen,
nicht geglaubt zu haben, dass sich die Natur der Seekarten »mit
wachsenden Breiten* so erschöpfend mit gewöhnlicher Plani¬
metrie und Trigonometrie aufklären lässt, wie dies hier geschieht.
Es schliessen sich an die »abweitungstreuen« Entwürfe, welche
auch flächentreu sind; als weiteres Beispiel dient für diese letzteren
die Abbildung von Moll weide, auf die sonderbarerweise erst
dann wieder die Aufmerksamkeit sich richtete, als der Franzose
Babinet mit der »homalographischen« Projektion hervortrat
und der längst bekannten Sache ein neues Mäntelchen anzog.
Eine allgemeine Erörterung über die an gute Entwürfe zu stellenden
Anforderungen beschliesst den theoretischen Teil, der, wie gesagt,
vollkommen genug enthält, um mit Vertrauen an das Studium
grösserer Werke herantreten zu können.
Ein »Nachwort« ist, neben anderem, vorzugsweise der Be¬
gründung der vom Verfasser eingeführten deutschen Bezeichnungen
gewidmet. Der Berichterstatter ist kein unbedingter Freund der
Sprachreinigung, er schätzt die lateinisch-griechischen Termini
schon um deswillen, weil sie dem, der in fremden Sprachen
nicht besonders zu Hause ist — und wie traurig ist es bei
unserer modernen Bildung mit solcher Kenntnis recht oft be¬
stellt — die Möglichkeit verschafft, von Büchern, die in einem
an sich unverständlichen Idiome gedruckt sind, doch manches
verstehen, sich einen allgemeinen Ueberblick erwerben zu können.
Wenn trotzdem, wie Herr Breusing (S. 68) richtig anführt,
auch der Unterzeichnete zur weiteren Verbreitung an seinem
Teile mitgewirkt hat, so that er es deshalb, weil diese Ver¬
deutschungen selten glückliche und sachgemässe sind.
Die Worte »konforme«, »äquivalente«, »stereographische« Pro¬
jektion müssen erst erklärt werden, an und für sich haben sie
gar keinen bestimmten Sinn, aber mit »Winkeltreue«, »Flächen¬
treue«, »Kreistreue« weiss jedermann sofort den richtigen Sinn
zu verbinden. Ebenso ist der Gegensatz »säulig« und »strahlig*
überaus geschickt angedeutet. Ob auch die »Reifentreue« und
»Abweitungstreue« sich desselben Erfolges zu erfreuen haben
werden, das lassen wir dahingestellt; jedenfalls ist das Bestreben
des Verfassers, die verwickelte Nomenklatur der Kartenentwurfs¬
lehre zu vereinfachen und durchsichtiger zu machen, ein ebenso
anerkennenswertes, wie das redliche pädagogische Bemühen über¬
haupt, welches aus jeder Zeile dieses verdienstvollen Lehrbuches
hervorleuchtet. S. Günther.
B erichtigungen.
S. 496, Z. 32 v. o., lies Asien statt Afrika; S. 501, Z. 19 v. u., lies
Giovanni statt Giovanno.
Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger
in Stuttgart.
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft ebendaselbst.
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DAS AUSLAND
Wochenschrift für Erd- und Völkerkunde
herausgegeben von
SIEGMUND GÜNTHER.
Jahrgang 65, Nr. 34.
Jährlich 53 Nummern ä 16 Seiten in Quart. Preis pro
Quartal M. 7.— Zu beziehen durch die Buchhandlungen des
In* und Auslandes und die Postämter.
Stuttgart, 20. August 1892.
Manuskripte und Rezensionsexemplare von Werken der
einschlägigen Litteratur sind direkt an Professor Dr.SIBQMUND
GÜNTHER in München, Akademiestrasse 5, zu senden.
Preis des Inserats auf dem Umschlag ao Pf. für die gespaltene Zeile in Petit.
Inhalt: I. GeheimbUnde und Pubertätsweihen im Lichte der Ethnologie. Von Th. Achelis (Bremen). S. 529. —
2. Astronomie und Zeitrechnung der Perser. Von A. J. Ceyp (Wien). S. 534. — 3. Die Strömungen, in den Meeresstrassen.
Ein Beitrag zur Geschichte der Erdkunde. Von Emil Wisotzki (Stettin). (Fortsetzung.) S. 538. — 4. Geographische Mit¬
teilungen. (Stairs; Schwankung der Erdachse; Klima des Kaplandes; Nachrichten über die Tagalen aus dem 16. Jahrhundert.)
S. 542. — 5. Litteratur. (Kleinpaul; Schütt; Lenz; The Exposition Graphic Chicago.) S. 543.
Geheimbünde und Pubertätsweihen
im Lichte der Ethnologie.
Von Th. Achelis (Bremen).
Religion und Recht bilden in ihrem unlösbaren
Zusammenhänge die durch die Natur der Sache selbst
gegebene Grundlage für die socialpsychologische
Auffassung der Menschheit, wie sie in unseren Tagen
immer mehr zum Durchbruch kommt; wie für die
vergleichende Rechtswissenschaft die rein geschicht¬
liche oder auch die streng ethnographische Betrach¬
tung sich von Tag zu Tag immer unzulänglicher
erweist, so ist auch für eine vergleichende Mytho¬
logie die Zeit nicht mehr fern, die Entwickelung des
religiösen Bewusstseins nach einem verhältnismässig
einfachen, leicht übersichtlichen Schema allgemeiner,
unter allen Himmelsstrichen wiederkehrender ele¬
mentarer Ideen verfolgen zu können. Zu den loh¬
nenden Versuchen, auf diesem induktiven Wege den
allgemein menschlichen Typus zu erfassen,
möchte auch die vorliegende Untersuchung gehören,
die uns einen tiefen Einblick in die unverwüstliche
Kraft des socialen Triebes der Menschheit sowohl
in religiöser wie in rechtlicher Beziehung zu er¬
öffnen vermag. Es versteht sich von selbst, dass
wir die Fülle des Materials nicht annähernd er¬
schöpfen können, es handelt sich für uns nur um
die Feststellung der wesentlichsten Grundzüge; der
leichteren Uebersichtlichkeit wegen wollen wir aber
die religiösen von den eigentlich politischen Ver¬
einigungen trennen, obschon, wie eben angedeutet,
mannigfache Beziehungen zwischen beiden Formen
bestehen.
Gegenüber den feinsinnigen und bisweilen so¬
gar höchst subtilen und spekulativen Ideen, die man
in den Religionen der Naturvölker antrifft, ist den¬
noch ohne Zweifel das praktische Motiv der Linde¬
rung der .täglichen Sorge und Last, wie der Wunsch,
Aualand 189a, Nr. 34.
sich mit den Schreckbildern einer künftigen Ver¬
geltung abzufinden, der ausschlaggebende Faktor.
Der pessimistische Gedanke von der Schuld des Da¬
seins und des damit unvermeidlich verknüpften Lei¬
dens kehrt offenbar in irgend welchem symbolischen
Ritus verhüllt überall wieder und tritt mit einschnei¬
dender Wucht und blutigem Ernst ganz besonders
an den grossen Wendepunkten und Rätseln der mensch¬
lichen Existenz auf, in Krankheiten und Tod. Hier er¬
öffnet sich das weite Feld für die Vermittelung des
Priesters, des unentbehrlichen Pförtners für den
Himmel, eine Praxis, die so in ihren Grundzügen in
allen Religionsformen übereinstimmt, dass dagegen die
Nuancen kaum in Betracht kommen. Einen weiteren
wichtigen Anhalt bieten sodann die bedeutsamen
Pubertätsjahre, der jugendlichen Entwickelung, wo
sich der Uebertritt aus dem Knabenalter in die
Reihe und den Stand der selbständigen jungen Männer
vollendet. In der anfänglich chaotisch durcheinan¬
der gärenden Horde, dieser Urzelle aller späteren
socialen Differenzierung, gibt es nur den durch die
Natur selbst begründeten Gegensatz der beiden Ge¬
schlechter zu einander 1 2 * * S. ); ebenso begreiflich ist es,
dass die Kinder bis zu einem gewissen Alter sich
unter dem Schutze der Haus und Hof gleichsam
hütenden Frauen befinden, während die Männer der
Jagd und dem Krieg obliegen. Die Aufnahme in
den Bund der wehrfähigen Männer bildet damit die
Trennung von dem ursprünglichen Boden der mütter¬
lichen Zugehörigkeit, deshalb die überall wieder¬
kehrenden, mehr oder minder excentrischen Klagen
der jammernden Frauen, obschon auch vielfach bei
den Knaben anfangs Zwang und Drohungen ange-
*) Es ist deshalb auch nur konsequent, wenn nicht nur
Männer, sondern auch Frauen geheime Verbände haben; am be¬
kanntesten ist der Cloebergoell der Paulan-Insulaner, andere Bei¬
spiele bei Bastian, Der Papua des dunklen Inselreiches, S. 183.
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Geheimbünde und Pubertätsweihen im Lichte der Ethnologie.
wandt werden müssen x ). Andererseits tritt hier
öfters das religiöse Moment sehr bestimmend auf,
indem der Jüngling sich nun für die Zeit des selb¬
ständigen und verantwortlichen Handelns einen Gott
auswählt, dem er sich unter Ablegung mehr oder
minder schwerer Gelübde weiht. Bastian schildert
den Vorgang ganz anschaulich bei einem Neger:
»Das Kind wird schon in den ersten Tagen nach
seiner Geburt zu dem Ganga gebracht, der ihm ein
oder mehrere Gelübde auflegt und die Mutter wacht
sorgfältig darüber, von klein auf zu ihrer Beobach¬
tung anzuhalten und darin zu unterrichten, damit
es in späteren Jahren weniger leicht Fehltritten aus¬
gesetzt sei. Anderswo wird dagegen die mystische
Verknüpfung mit demMokisso bis zu dem eindrucks¬
fähigsten Momente des Jugendalters, dem Ueber-
gange zur Pubertät, verschoben, wenn in der träume¬
rischen Zeit der Ideale in Afrika die Knabenkolo¬
nien in den Wald ziehen oder der Indianer seinen
einsamen Baum besteigt. Ausserdem geben bedeu¬
tungsvolle Lebensereignisse Veranlassung, den Fetisch
zu erkennen. Auf welche Weise immer der Mokisso
ausgewählt sein mag, mit ihm ist seinem Verehrer
ein Lebensziel gegeben, er findet in ihm seine Be¬
friedigung, die Erfüllung jener bangen Fragen, die
wie überall die Menschenbrust, so auch die des
Negers durchwehen, nur dass sie in der letzteren
sich mit einer einfachen Antwort zufrieden stellen
lassen. Das Gelübde, das er über sich genommen,
bildet für ihn den ganzen Umfang seiner Religion.
So lange er in angenehmen Verhältnissen lebt, fühlt
er sich glücklich und zufrieden unter dem Schutze
seines Mokissos, er fühlt sich stark unter seinem
Beifall, er schreibt seine sonnigen Tage dem Wohl¬
gefallen desselben zu, weil er genau in der Weise
handelt und denkt, wie es sein Wunsch und Wille
erheischt. Hat er aber absichtlich oder unfreiwillig
das Gelübde gebrochen, seine Vorschriften über¬
treten, so ist er in einen unheilbaren Zwiespalt mit
seiner Bestimmung getreten; natürlich brechen Un¬
glücksfälle auf ihn herein, bald häuft sich der schwere
Druck der Leiden, und was bleibt übrig, als zu
sterben und zu vergessen; denn ihm strahlt nir¬
gends ein höheres Licht der Hoffnung, nirgends
eine Bahn des Heils und der Errettung.« (San Sal¬
vador S. 254.) Aus begreiflichen Gründen drängt
aber dieser Prozess zu einem socialen Zusammen¬
schluss und Halt, wie er in den Mysterien und Ge¬
heimbünden eben vorliegt. Wir können hier wohl
von der Erörterung der umständlichen Aufnahme-
ceremonien, den harten, uns feiner organisierten
Menschen unerträglich dünkenden Martern, Kastei¬
ungen und Fasten (welche letztere übrigens auch
eine grosse animistische Bedeutung besitzen) ab-
sehen, — auch die Hautmarken, die Beschneidung
*) Vgl. Bastian, Zur naturwissenschaftl. Behandlungsweise
der Psychologie durch und für die Völkerkunde, S. 124 flf., wo
verschiedene Beispiele aus Centrnlafrika und aus Australien an¬
geführt sind.
bei Jünglingen und Mädchen gehört in denselben
Zusammenhang —, um so mehr als ja die eigent¬
liche Kulturgeschichte genügend Reminiscenzen und
Anklänge an diese uralten fetischhaften Gedanken
aufbewahrt, dagegen müssen wir auf einen wich¬
tigen und häufig nicht ausreichend gewürdigten Zug
hin weisen, der uns erst den ganzen Hergang ver¬
ständlich macht, nämlich, dass dies Fest geradezu
als eine Wiedergeburt in geistigem Sinne gefasst
wird. Die Aspiranten haben, wenn sie aus der Er¬
starrung erwacht sind, das Gedächtnis für alle frühe¬
ren Erlebnisse vollständig verloren, kennen ihre Eltern
nicht mehr, ja sie wissen nicht einmal mehr ihre
eigenen Namen und es werden ihnen daher, je nach
dem Grade, der ihnen zusteht, neue Namen erteilt
(vgl. Bastian, Deutsch. Expedition a. d. Loango-
Küste I, 177 und II, 12 ff.), so dass sie nunmehr
auch äusserlich ein neues Leben beginnen und jeder
Zusammenhang mit dem bisherigen Leben aufge¬
hoben ist (im Uebrigen ein genaues Gegenbild zu
der bekannten christlichen Lehre) 1 ). Dass dabei
dem Priester eine bedeutsame Rolle zufällt, -be¬
greift sich von selbst, und Bastian teilt einen darauf
bezüglichen Bericht seines Dolmetschers mit, der
die an der ganzen Westküste Afrikas, von Kamerun
bis zum Gambia hin bestehenden Geheimbünde
(speciell handelt es sich um Bamba, südlich von
Kongo), eigenartig beleuchtet: »Der grosse Frisch
lebt im Innern des Buschlandes, wo ihn niemand
sieht und niemand sehen kann. Wenn er stirbt,
sammeln die Fetischpriester sorgfältig seine Knochen,
um sie wieder zu beleben, und ernähren sie, damit
er aufs neue Fleisch und Blut gewinne. Es ist
aber nicht gut davon zu sprechen. Im Lande Am-
bamba muss jeder einmal gestorben sein, und wenn
der Fetischpriester seine Kalabasse gegen ein Dorf
schüttelt, so fallen diejenige Männer und Jünglinge,
deren Stunde gekommen ist, in einen Zustand leb¬
loser Erstarrung, aus dem sie gewöhnlich nach drei
Tagen auferstehen. Den aber, welchen der Fetisch
liebt, führt er fort in den Busch und begräbt ihn
in dem Fetischhause, oftmals für eine lange Reihe
von Jahren. Wenn er wieder zum Leben erwacht,
beginnt er zu essen und zu trinken, wie zuvor, aber
sein Verstand ist fort und der Fetischmann muss
ihn erziehen und selbst in jeder Bewegung unter¬
weisen, wie das kleinste Kind. Anfänglich kann
das nur durch den Stock geschehen, aber allmäh¬
lich kehren die Sinne zurück, so dass sich mit ihm
sprechen lässt, und nachdem seine Ausbildung voll¬
endet ist, bringt ihn der Priester seinen Eltern zu¬
rück. Dieselben würden ihn selten wieder erkennen
ohne die ausdrückliche Versicherung des Fetizeros,
der ihnen zugleich frühere Ereignisse ins Gedächtnis
zurückführt. Wer die Prozedur der Wiedergeburt
*) Vgl. die genauere Schilderung eines solchen Ritus bei
Bastian, Naturwissenschaftl. Behandlung u. s. w., S. 129 ff.,
ebenda auch die aus Kohl entlehnte Beschreibung eines indiani¬
schen Lebenstrauines, S. 134 ff.
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Geheimbtindc und Pubertätsweihen im Lichte der Ethnologie.
551
in Ambamba noch nicht durchgemacht hat, ist all¬
gemein verachtet und wird bei den Tänzen nicht zu-
gclassen.« (San Salvador S. 82.)
Hat nun der Novize alle Prüfungen siegreich
bestanden, so wird er Mitglied des betreffenden Or¬
dens, zunächst freilich meist nur für die unteren
Grade, und erst allmählich wird er in die Geheim¬
nisse des Bundes eingeweiht. Wie die orphischen,
eleusinischen und dionysischen Mysterien die Rätsel¬
fragen des menschlichen Daseins zu lösen suchten,
so finden wir ähnliche sociale Genossenschaften bei
den Naturvölkern, nur handelt es sich meist um
konkrete, praktische Zwecke. Dahin gehört in erster
Linie das bekannte, über die ganze Erde verbreitete
Seelenreinigungsfest zur Abwehr böser Geister, bei
Ackerbau treibenden Völkerschaften die Erntefeste,
endlich (wobei schon ein politischer Moment hinein¬
spielt) die mit wilden, phantastischen Tänzen —
gelegentlich auch theatralischen Schaustellungen —
verknüpften Maskeraden, die, wie bemerkt, häufig
einen juristischen oder genauer gesagt, kriminali¬
stischen Zweck verfolgen. Statt vieler genüge ein
Beispiel eines solchen religiös-politischen Bundes,
nämlich das Purra bei den Bullamern, welches
Bastian folgendermaassen schildert: »Es hat einige
Aehnlichkeit mit der Freimaurerei; denn es werden
keine Frauenspersonen darin aufgenommen, und die
Mitglieder müssen sich vermittelst eines Eides, der
aber wohl schwerlich jemals verletzt werden dürfte,
verbindlich machen, niemanden die Geheimnisse zu
entdecken und ihren Oberen und Vorgesetzten ebenso
schleunigen als unbedingten Gehorsam leisten. Man
nimmt Knaben von 7—8 Jahren auf; vielleicht aber
müssen diese so lange im Noviziat bleiben, bis sie
das gehörige Alter erreichen; denn mit Gewissheit
lässt sich hierüber nichts sagen, da es nicht nur
äusserst schwer ist, diesfalls genaue Erkundigungen
einzuziehen, sondern man sich durch allzu vieles
Nachfragen einiger Gefahr aussetzt. Jeder, der in
diese Gesellschaft tritt, legt seinen vorigen Namen
ab und nimmt einen anderen an; wer ihn bei seinem
gewöhnlichen Namen nennt, würde Händel mit ihm
bekommen. Sie haben ihren eigenen Chef, welcher
der oberste Purra-Mann genannt wird, und an der
Spitze des Oberdirektoriums steht, dessen Befehle
alle untergeordneten Stellen und einzelne Mitglieder
des Institutes unbedingt annehmen und befolgen
müssen. Sie halten ihre Zusammenkünfte an ent¬
legeneren Orten, mitten in der Nacht, und ohne dass
jemand das geringste davon erfährt. Wenn sich
das Purra in eine Stadt oder ein Dorf begibt, welches
allemal des Nachts geschieht, so verkündigt es den
Einwohnern seine Ankunft durch ein ganz entsetz¬
liches Heulen und Schreien und den entsetzlichsten
Lärm, der sich nur vorstellen lässt. Alle die, welche
nicht zu dieser Verbindung gehören, flüchten dann
eiligst in ihre Wohnungen; denn jeder, der sich auf
der Strasse betreten Hesse, oder nur Miene machte
zu sehen, was vorgeht, würde auf der Stelle ums
Leben kommen. Um der weiblichen Neugier Ein¬
halt zu thun, müssen die Frauenspersonen so lange
in ihrer Wohnung bleiben und in die Hände klat¬
schen, als sich das Purra im Orte befindet. Diese
Gesellschaft macht es sich wie das Femgericht
(aus den Zeiten des europäischen Mittelalters) zum
angelegenen Geschäft, Verbrechen zu bestrafen, be¬
sonders Diebstahl und Zauberei, mehr noch die
Widerspenstigkeit und den Ungehorsam seiner eigenen
Mitglieder.* Der Verbrecher wird so schnell und so
ganz in der Stille mit dem Tode bestraft, dass man
nie erfährt, wer es gethan hat; ja die Furcht vor
diesem Institut geht so w r eit, dass man sich nicht
einmal danach zu fragen getraut. Wenn zwei be¬
nachbarte Völkerschaften mit einander in Krieg ver¬
wickelt sind, und man denselben zu beendigen
wünscht, so droht man ihnen mit der Rache des
Purra, wofern sie die Feindseligkeiten nicht ein¬
stellen würden. Das nämliche geschieht, wenn zwei
Familien mit einander in offener Fehde begriffen
sind. Es wird niemand in dieses Institut aufge¬
nommen, bis sich zuvörderst einige seiner Freunde,
die bereits dazu gehören, durch einen Eid verbind¬
lich machen, ihn auf der Stelle zu töten, wofern er
die ihm anvertrauten Geheimnisse verraten oder
während der Aufnahme zurücktreten werde.« (Der
Papua des dunkl. Inselreichs S. 166.) Die weitere
Entwickelung des Mysticismus aber hier zu ver¬
folgen, nach der einen Seite in dem wüsten Spuk
des jüngst wieder modisch gewordenen Spiritismus,
nach der anderen, mehr praktisch gedacht, als Patho¬
logie der Besessenen in der Handhabung geschickter
Priesterärzte, das Schachspiel des Guten und Bösen
u. s. w., \tfürde uns hier natürlich viel zu weit
führen; nur zu beachten bleibt, dass meistens ein
vorsichtiger Unterschied zwischen der esoterischen und
exoterischen Lehre gemacht wird, schon deshalb (abge¬
sehen von den mitwirkenden Klugheitsmaximen), weil
die rein abstrakten Spekulationen religionsphilosophi¬
scher Grübelei dem Volk als ein leeres Wortge¬
klingel erscheinen würden. Um aber die schau¬
lustige und neugierige Menge einigermaassen zu be¬
friedigen, veranstalteten die Genossenschaften thea¬
tralische und mimische Aufführungen, bald ernster,
bald heiterer, ja gelegentlich höchst lasciver Art,
und es ist bekannt, dass sich überall die dramatische
Kunst aus diesen schüchternen Anfängen entwickelt
hat. Die Moralitäten und Mysterien unseres deut¬
schen Mittelalters, wie die leidenschaftlich bewegten
Chorgesänge zu Ehren des ermordeten und zu neuem
Leben erstandenen Dionysos, wie endlich die Satur¬
nalien der alten Römer (um nur die landläufigen Bei¬
spiele anzuführen) belegen zur Genüge diesen psycho¬
logischen Hergang; dass auch die Naturvölker diese
Verbindung mystischer Ideen mit dramatischer Wir¬
kung zu schätzen wissen, mag nur an der Thatsache des
in der Südsee vor dem Eindringen des Christentums
äusserst mächtigen Ordens der A r e o i s erläutert werden
(vgl. das Detail bei E 11 i s, Polynes. Researches, 1 ,3 27 ff.).
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532
Geheimbtinde und Pubertätsweihen im Lichte der Ethnologie.
Abgesehen von dem durch die Natur selbst
begründeten Gegensatz der beiden Geschlechter ist
der Altersunterschied das wichtigste Mittel für die
Entwickelung bestimmter Stände und Rangunter¬
schiede; so leuchtet es ein, weshalb die vollkräf¬
tigen Männer die Führung der Kriege zu übernehmen
haben, während andererseits den altersschwachen
Greisen häufig eine sehr wichtige Entscheidung in
der Ratsversammlung der Häuptlinge zufällt (vergl.
die kirgisischen Weissbärte, die afrikanische Gnak-
bade, die Geronten in Sparta u. s. w.). Die eigent¬
liche Standesschichtung kann aber erst Platz greifen
auf Grund der Geschlechterverfassung, die bestimmte
Klassenabstufungen in sich schliesst und dadurch
verschärft, dass durch Krieg und Eroberung ein
Stand der Unfreien und Sklaven entsteht, die na¬
türlich völlig rechtlos sind. Die Rassenabstammung
vor allem bewirkt die Scheidung der regierenden
Klasse, der Häuptlinge, des Adels im Gegensatz zu
dem unterworfenen Stamm; die Kaste wird vielfach
auch äusserlich durch die verschiedenen Farben¬
nuancierungen repräsentiert, wie bei den Indiern,
bei den Tolteken u. s. w. 1 ). Diese Gruppen schlos¬
sen sich nach aussen mehr oder minder scharf ab,
indem sie den Eintritt in ihre Genossenschaft durch
harte Prüfungen und Kasteiungen, wie sie früher schon
erwähnt waren, erschweren und damit eine festgefügte
politische Organisation erzielen, die bisweilen der
königlichen Macht die Spitze zu bieten vermag. Ein
sehr anschauliches Bild eines solchen Ordens, den
noch dazu der ganze Nimbus religiöser Sanktionie¬
rung umgibt, bietet an der westafrikanischen Küste
der Egbo-Orden, wie ihn Bastian beschreibt: »Der
Egbo-Orden oder Efik (Tiger) ist in elf Grade ab¬
geteilt, von denen die drei obersten für Sklaven
nicht käuflich sind. Der gewöhnliche Weg ist, dass
Eingeweihte sich in die höheren Stufen nach einan¬
der einkaufen, das dadurch erlöste Geld wird unter
die Nyampa oder Yampai verteilt, die den inneren
Stand bilden; dem König selbst kommt die Präsi¬
dentschaft zu. Jede der verschiedenen Stufen hat
ihren Egbo-Tag, an welchem ihr Idem oder ihre
gespenstische Repräsentation eine absolute Herrschaft
ausübt, wie sie die Römer dem Diktator in kriti¬
schen Tagen übertrugen, und auch Glieder anderer
Stufen des Egbo-Ordens, wenn er ihnen begegnen
sollte, mit seinen Strafen nicht verschont. Das Land
befindet sich gleichsam in einem permanenten Be¬
lagerungszustand, der durch die Ueberzahl der Frauen
und Sklaven nötig wird, indem die traditionellen
Gebräuche des alten Herkommens durch die regel¬
mässig einander folgenden Egbo-Tage und die da¬
mit verbundene Proklamierung des Kriegsgesetzes
beständig ausser Kraft gesetzt und suspendiert wer¬
den. Sobald ein Egbo-Tag verkündet ist, fliehen
Sklaven, Weiber und Kinder nach allen Richtungen,
! ) Vgl. darüber Post, Bausteine für eine allg. Rechts¬
wissenschaft, II, 52 ff.
indem der Emmissär des Idem mit einer schweren
Peitsche bewaffnet umgeht und durchaus nicht skrupu¬
lös in ihrer Anwendung ist. So oft bei dem Egbo-
Orden eine Klage anhängig gemacht ist und der
Missethäter bestraft werden soll, wird durch geheime
Ceremonien der im fernen Buschlande wohnende Idem
citiert, der dann, mit einer phantastischen Kleidung
aus Matten und Zweigen von Kopf bis zu den Füssen
bedeckt und mit einem schwarzen Visier vor dem
Gesicht, erscheint. Ein jeder Mann, Frau oder Kind,
hat das Recht, die Hilfe des Egbo gegen seinen
Herrn oder seinen Nachbarn anzurufen, und dazu
bedarf es nur, dass er ein Mitglied des Ordens auf
der Brust berührt, oder an die grosse Egbo-Trommcl
schlägt. Der Beanspruchte muss alsogleich einen
Konvent zusammenberufen, wo die Klage untersucht
und, wenn gerecht, befriedigt wird. Erweist sie sich
dagegen als unbegründet, so wird der Kläger be¬
straft; hat das Gericht ein Verdammungsurteil ge¬
fällt, so läuft der Beauftragte mit seiner schweren
Peitsche in der Hand und von einem lärmenden
Gefolge von Egbobrüdern umgeben, direkt nach
dem Hause des Verurteilten, aus dem sich niemand
rühren darf, bis die Strafe vollzogen und gewöhn¬
lich das ganze Haus zusammengerissen ist, so dass
alle Einwohner mehr oder weniger Schaden nehmen.
Seine Entstehung soll der Orden der freien Egbos
auf den Messen genommen haben, die auf einem
grossen Oelmarkt des Innern (halbwegs zwischen
dem Kalabar und dem Kamerun) abgehalten wur¬
den. Da dort vielfache Unordnungen einrissen, der
europäische Handel aber zur Aufrechthaltung des
Kredits eine genaue Einhaltung der übernommenen
Verpflichtungen erforderte, so bildete sich dieses In¬
stitut als eine Art Hansa unter den angesehensten
Kaufleuten zu gegenseitiger Wahrung ihrer Inter¬
essen und gewann später die politische Bedeutung
einer Feme, indem es die ganze Polizei des Kalabar
und Kamerun in seinen Bereich zog. Die Könige
suchen sich stets die Grossmeisterschaft in diesem
Orden zu sichern, da ohne dieselbe ihr Ansehen
zu einem Schatten herabsinkt. Europäische Kapi¬
täne haben es mehrfach als vorteilhaft gefunden,
sich in die niederen Grade einreihen zu lassen, um
ihre Schulden leichter eintreiben zu können.« (Rechts¬
verhältnisse S. 402.) Eine ganz ähnliche Justiz übt
der Duck-Duck-Orden in der Südsee (auf Neu-
Pommern) aus (vgl. Andree, Ethnogr. Parallelen
N. F. S. 136 fl'.), während es wieder bei anderen
Geheimbünden, wie der Quimba in Bomba (Bastian,
Der Fetisch, S. 68) wesentlich auf die Wehrhaft-
machung der Jünglinge abgesehen ist, der Priester-
Orden des Belli-Paaro in Guinea endlich die Ueber-
wachung der Frauen und Kinder bezweckt (vgl.
Bastian, Der Papua, S. 197 ff., und überhaupt über
die Geheimbünde in Afrika Post, Afrikan. Juris¬
prudenz, I, 238 ff.); ähnliches aus Amerika teilte
Jacobsens Aufsatz über den Kosiyut-Bund mit
(Ausland 1892, Nr. 28).
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Geheimbünde und Pubertätsweihen im Lichte der Ethnologie.
533
Zu den umfassenderen blutsverwandten Ver¬
bänden, die infolge ihres grösseren Bestandes auch
meist eine lockere Struktur zeigen, gehören die auf
der Abstammung von einem gemeinsamen Ahn¬
herren beruhenden Stammesgenossenschaften patriar¬
chalisch organisierter Völker, wie sie sich überall
auf Erden finden. Besonders bekannt sind die Totems
der Indianer oder die Kobongs der Australier, die
ihren Ursprung von irgend einem Tier ableiten, das
im Grunde identisch mit dem Hausgeist, dem lar
familiaris der Römer ist und den auch jeder rus¬
sische Bauer, wie Post versichert, als Gründer seiner
Familie kennt. (Bausteine II, 35.) Aus ihnen ent¬
wickeln sich dann bei kriegerischen Stämmen be¬
sondere Banden, welche, mit eigentümlichen Ab¬
zeichen und Emblemen versehen, die ersten Standes¬
unterschiede einleiten. »So heissen z. B. bei den
Schwarzfüssen die jungen Leute die Sohskriss (die
Bande der Moskitos); andere Banden derselben
heissen Emitäkhs (Hunde); Sähmipäks (Präriefüchse),
Mastophahte (Rabenbande) u. s. w.« (Post, Ge¬
schlechtsgenoss. S. 11). Geschichtliche Ueberlebsel
dieser Gruppen finden sich noch vielfach, so in In¬
dien, China u. s. w.; aus der Zeit des klassischen
Altertums gehören dahin die griechischen Phratrien,
bei denen die Aufnahme (in der Apaturienfeier) mit
entsprechenden Jünglingsweihen verknüpft war, wie
sie in ungeschwächter Form die Naturvölker kennen.
In diesen Hausgenossenschaften, die ursprünglich auf
die Blutsgemeinschaft gegründet sind, kommt alles
auf die Erhaltung der Geschlechtsgenossenschaft an,
so dass auch Fremde durch Adoption aufgenommen
werden können, wie auch den Frauen der Eintritt
offen steht. »Sie haben«, sagt Post, »ihre eigenen
Götter und ihren eigenen Kultus, ihr Recht und
ihre Regierung; sie haben ihren unveräusserlichen
Grund und Boden, welcher ihnen als Korporation
gehört und den sie als solche bebauen. Sie sind
in ihrer Existenz nicht an die Existenz ihrer ein¬
zelnen Genossen gebunden, sondern leben fort, wie
ein Staat fortlebt, mögen die einzelnen Genossen
in ihnen so viel wechseln, wie sie wollen. Selbst
wenn nur eine Erbtochter übrig bleibt, so nimmt
wohl deren Ehemann den Namen der Hausgemein¬
schaft an und führt sie fort. In Sparta waren die
nächsten Verwandten bis zu einem bestimmten Grade
sogar verbunden, die Erbtochter zu heiraten, und
waren sie schon verheiratet, so musste die Ehe ge¬
schieden werden. Der aus der Heirat mit der Erb¬
tochter entstandene Sohn wurde der direkte Nach¬
folger seines mütterlichen Grossvaters. Die Fort¬
erhaltung der Hausgemeinschaft galt also als so
wesentlich für den Bestand des spartanischen Staats¬
wesens, dass das Gesetz den einzelnen zu Hand¬
lungen zwang, welche für unsere Anschauungen
ganz unerträglich sind, den Ehemann, eine bestehende
Ehe zu lösen, um vielleicht eine leibliche alte Tante
oder gar eine eigene Schwester zu heiraten. Diese
fundamentale Bedeutung der Hausgemeinschaft für
Ausland 189s, Nr. 34.
bestimmte ethnische Organisationsstufen äussert sich
auch in sonstigen Bräuchen, z. B. in der Strafbar¬
keit des Cölibates, in der Verpflichtung, sich von
einem unfruchtbaren Weib zu scheiden oder in der
Verpflichtung der Frau, bei Impotenz des Mannes
sich von einem Verwandten des Mannes einen Sohn
erzeugen zu lassen, oder in der Leviratsehe.« (Bau¬
steine II, 25.) Aehnlich bei den Kurien der alten
Römer.
Zum Schluss noch ein Wort über die Geheim¬
bünde der Frauen. Wenn wir von den Cloebergoells
der Paulan-Insulaner und einigen anderen Beispielen
absehen, so ist aus begreiflichen Gründen das weib¬
liche Geschlecht nicht im stände, den Männern in
socialer und nun gar in politischer Organisations¬
kraft die Spitze zu bieten*). Höchstens wäre die
dem männlichen Orden Ndnä entgegenstehende Ver¬
einigung der Frauen in Süd-Neu-Guinea zu erwähnen,
Namens Njembe, die in der That auch von dem
stärkeren Geschlecht gefürchtet wird und im Rufe
steht, Diebereien zu entdecken und sich sonst nütz¬
lich zu erweisen (vgl. Bastian, Der Papua S. 181).
Im übrigen beschränken sich die häufig mit grossem
Gepränge begangenen Festlichkeiten und Weihen
wesentlich auf die Vorbereitung für die Ehe, bei
der zuweilen fast ebenso harte Prüfungen und
schmerzhafte Operationen stattfinden, wie bei den
entsprechenden Pubertätsweihen der Jünglinge. Auch
hier zeigt sich trotz aller ethnographischen Nuan¬
cierungen überall dasselbe Prinzip, ob wir nach
Afrika (wo die Casa das tintas berüchtigt ist) oder
nach Australien oder endlich nach Vorderasien, ja
selbst nach Griechenland blicken, soweit es semiti¬
schen Einflüssen ausgesetzt war. Der Charakter
aber der Geheimbünde im allgemeinen ist der, dass
sie zum Ersatz einer strafferen politischen Organi¬
sation dienen, meist, wie es die Natur der Sache
mit sich bringt, aus den Vertretern der höheren
Schichten der Gesellschaft gebildet oder doch wenig¬
stens unter Beobachtung bestimmter Rangstufen
innerhalb des Verbandes; gewöhnlich ist also irgend
eine polizeiliche Ueberwachung oder die Ausübung
des Blutbannes damit verknüpft (wie z. B. in Griechen¬
land der Amphiktyonenbund und der Areopag, ob¬
schon hier im Laufe der Zeit jeder geheimnisvolle
Nimbus vor dem demokratischen Prinzip der Oeffent-
lichkeit gewichen war). Der volle Reiz des Dämo¬
nischen entfaltet sich erst in dem Banne der reli¬
giösen Ideen, einerlei ob dieselbe etwas fetischi¬
stisch verzerrt sind (wie meist bei den Naturvölkern,
obwohl, wie immer wiederholt werden muss, viele
solche ursprüngliche Elemente sich ungestört in
unserer transcendentalen Religionsauffassung erhalten
haben), oder einen höheren, spekulativen Anflug
J ) Von den Amazonenbünden, der politischen Vorherrschaft
und Regierung der Frauen, von denen noch Nachtigal ein
anschauliches Beispiel bei den sog. Heidenstaaten südlich von
Baghirmi fand (Sahara und Sudän, II, 675), nehmen wir hier als
Ausnahmen Abstand.
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534
Astronomie und Zeitrechnung der Perser.
erhalten haben, wie er aus den verschiedenen My¬
sterien bekannt ist. Dass aber dieser mächtige Trieb,
religiöse Genossenschaften zu bilden, zugleich mit
mehr oder minder ausgesprochenen socialen Bestre¬
bungen noch nicht erloschen ist, das zeigen (wenn
man von der verhältnismässig kümmerlichen, ratio¬
nalistischen Bildung des Freimaurerordens absieht)
die zahlreichen religiösen Sekten, die fast jährlich
aus dem phantastischen Grunde des griechischen
Katholicismus, besonders in Russland, emporschiessen.
Astronomie und Zeitrechnung der Perser.
Von A. J. Ceyp (Wien).
Die Wissenschaften und diejenigen, welche sich
damit beschäftigen, haben bei den Persern von jeher,
vor und nach der Einführung des Islam, eine grosse
Achtung genossen. Was dem ersten Minister nicht
gestattet ist, sich der Person des Monarchen ver¬
traulich zu nähern und mit ihm an derselben Tafel
zu speisen, das ist dem Gelehrten vergönnt. Jeder
Prinz und Edelmann wünscht für den Schutzherrn
des Genies gehalten zu werden, und dieser Umstand
sichert allen Gelehrten einen nicht geringen Anteil
an den Genüssen ihrer Landsleute.
Eine oberflächliche Kenntnis der Astronomie
(System Ptolemäus) reicht für einen Studierenden
hin, sich zu der geheimen Wissenschaft der aus¬
legenden Astrologie (= nädshum) bekennen zu
dürfen. Wenn er eine Höhe mit dem Astrolabium
aufnehmen, die Namen der Planeten und deren ver¬
schiedene Stellungen mit etlichen technischen Phrasen
nennen kann, und wenn er die astrologischen Al-
manache versteht, die jährlich herausgegeben werden,
so fühlt er sich fähig, allen denen seine Dienste
anzubieten, die ihn um Rat fragen wollen. Kein
Mann von irgend einer Bedeutung oder Vermögen
unternimmt etwas ohne Rücksprache mit den Sternen.
Wenn eine Maassregel ergriffen, eine Reise unter¬
nommen, oder ein neues Kleid angelegt werden soll,
so muss der glückliche oder unglückliche Augenblick
ausfindig gemacht, der Almanach (= takvim) und der
Astrolog (= munädshim) zu Rate gezogen werden.
Werke über die Astrologie werden mehr als alle anderen
geschätzt, und es ist bemerkenswert, dass die Astro¬
logen, wenn sie Nativitäten und merkwürdige Ereig¬
nisse berechnen, es für wesentlich halten, die Planeten
in den phantasiereichsten Ausdrücken 1 ) zu beschreiben.
*) Als Beispiel mag nachstehende wörtliche Uebersetzung
der Einleitung einer Schrift wiedergegeben werden, die der
persische Hof-Astrolog dem General Houtum-Schindler kurz
vor dessen Abrebe nach Nishapur einhändigte, als er ihm dessen
Schicksal wahrsagte: »Lob dem grossen Schöpfer, der Himmel
und Erde und die himmlischen Körper gemacht hat, unter welchen
göttlichen Werken die Menschheit nur ein Teilchen einnimmt.
Der schwarze Saturn, wie eine Schildwache im 7. Himmel,
lauscht auf seine Wünsche. Der glorreiche Juppiter, wie ein ge¬
scheiter Richter im 6. Himmel thronend, ist wachsam auf sein
Begehren, und der blutige Mars mit seinem purpurbeileckten
Eines drolligen Auftrittes muss ich erwähnen,
welchen ich gelegentlich einer Audienz beim Minister
des Kultus, der Minen und Telegraphen zu erleben
die Gelegenheit hatte. Der Dragoman der deutschen
Gesandtschaft in Teheran, Herr Dr. Frank (derzeit
in Athen), war so gütig, mir den unverdienten
Namen Astronom beizulegen, worauf der Minister
mich bat, ihn tags darauf zu besuchen, indem er
auch ein grosser Liebhaber der Mathematik und
Astronomie wäre. Den anderen Tag also hatte Dr.
Frank die Gewogenheit, mich zum Minister zu be¬
gleiten, w f eil ich nicht im stände gewesen wäre, ähn¬
liche Sachen korrekt zu besprechen und zu erläutern.
Da die Perser — wie bereits erwähnt — viel auf
Sterndeutungen halten, so glaubte ich irgend eine
astrologische Wendung der Ankunft des vor wenigen
Tagen angelangten deutschen Gesandten, Herrn
v. Brandt (derzeit in Peking) geben zu müssen.
Es fiel mir ein, dass der Juppiter gerade im Zeichen
des Skorpions stehe. Vor allen Dingen erklärte ich
dem Minister, dass dieser Planet an Grösse und
Glanz Deutschland vorstelle, und Asien überhaupt
in Europa unter dem Zeichen der Skorpions ver¬
standen würde. Da diese nun gerade jetzt in Ver¬
einigung wären, so sei gar kein Zweifel, dass die
Freundschaft dieser beiden Nationen im Himmel be¬
schlossen wäre. Der Minister bekräftigte meine Aus¬
sage und behauptete, dass auch die persischen Astro¬
logen gesagt hätten, dass der deutsche Gesandte unter
den günstigsten Himmelszeichen angelangt wäre.
Ein dicker Perser, der einzige, der unserer Unter¬
redung mit beiwohnte, sass seitwärts vom Minister,
hielt ein grosses Buch vor sich, in welchem er be¬
ständig blätterte, und schielte von Zeit zu Zeit unter
grossen schwarzen Augenbrauen grimmig auf mich.
Der Minister rekommandierte ihn uns als einen grossen
Mathematiker. Ich glaube aber, es war ein Astrolog,
der mich examinieren sollte. Er blätterte immer
heftiger und murmelte dem Minister etwas vor, wor¬
auf jener mich fragte, wie die Finsternisse entstehen.
Ich stand auf und spazierte um den dicken Astro¬
logen herum, der sich grimmig und ängstlich um¬
sah und anfangs gar nicht begreifen konnte, was
ich von ihm haben wollte, und noch mehr erschrak,
als ich plötzlich hinter ihm niederhockte und den
Minister fragte, ob er mich sehen könne. Der Astro¬
log war dick genug, um mich ganz zu bedecken,
und der Minister musste wohl lachend »Nein« sagen.
Darauf stand ich auf und bat, der Astrolog möchte
es mir nicht übelnehmen, dass er die Rolle unseres
Erdklumpens gespielt; dem Minister sagte ich, er
Säbel sitzt im 5. Himmel, der bereite Ausführer von seines
Schöpfers Zornbefehlen. Und die glänzende Sonne, umgeben
von einer Flammenkrone, scheint im 4. Himmel mit dem Lichte,
das sie vom Allmächtigen empfangen. Die schöne Venus, wie
ein froher Sänger, sitzt in ihrem reizenden Gemache im 3. Himmel,
gestützt durch seine Macht. Der befederte Merkur, wie ein weiser
Geheimschreiber, sitzt im 2. Himmel als der Aufzeichner der Be¬
fehle des Allmächtigen. Der klare Mond thront in dem 1. Himmel,
ein Zeichen von des Mächtigen Gewalt.»
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Astronomie und Zeitrechnung der Perser.
535
stelle in diesem Augenblicke die Sonne vor, ich den
Mond, und die ganze Procedur, von der sich der
Astrolog noch immer nicht erholen konnte, eine
Mondesfinsternis. Darauf trat ich zwischen den Mini¬
ster und den Erdklumpen und sagte ihm, der Astro¬
log hätte nicht mehr das Glück, die Sonne zu sehen,
es wäre also Sonnenfinsternis auf der Erde; ich könne
sie aber nicht total vorstellen, indem der Herr Astro¬
log etwas zu korpulent wäre. Die Sonne lachte und
die Erde brummte. So kann man es in der Welt
nie allen recht machen. Bei den kleinen Finster¬
nissen bekam ich schon weit gnädigere Blicke von
dem Herrn Astrologen, denn ich brauchte ihm nicht
ganz den Anblick der Sonne zu rauben.
Nachdem diese beiden Herren so schmeichel¬
hafte Rollen gespielt, wurden sie übermütig und
behaupteten: was man am Himmel sähe, wäre bloss
Götterprunk, denn Juppiter, Saturn und Venus wären
die einzigen, die sie auch für Körper anerkannten,
und zwar weit glücklicher als unsere Erde, indem
sie alle der Sonne weit näher wären als wir und
es auch weit wärmer hätten. »Was die Venus an¬
belangt, haben Sie recht,« erwiderte ich, »die ist der
Sonne weit näher als wir, sonst könnten wir sie nicht
alle hundert Jahre zweimal durch die Sonne gehen
sehen; allein Juppiter und Saturn sind viel weiter
von der Sonne als wir und könnten auch aus dem
nämlichen Grunde nie zwischen uns und der Sonne
erscheinen.« Der Herr Astrolog, dem schon bange
w r ar, dass ich wieder eine Finsternisceremonie an-
tinge, war in allem einig, und schlug in seinem
Buche ein grosses Blatt auf, worauf ein grosser
Ziegenbock mit Hieroglyphen gemalt stand. Nach¬
dem er diesen einigemal freundlich angesehen, fragte
er mich ganz ernsthaft, was denn nach unserer
Meinung hinter allen Sternen läge. Ich sagte ihm,
dass unsere Astronomen darüber noch nicht einig
wären, wahrscheinlich aber wären hinter den letzten
Sternen noch Sterne ohne Ende, und wenn ja ein
Ende stattfände, so knüpfe sich dieses Ende an einen
Anfang, der doch ohne Ende wäre. Hier fiel ihm
der Ziegenbock aus der Hand. Er lachte wie die
triumphierende Weisheit und meinte, solche Sachen
wären doch für die Europäer noch zu rund. Sehr
zufrieden hob er sein grosses Buch wieder auf und
sagte, indem er lächelnd blätterte, davon wollen wir
nun nicht mehr reden. Wer war froher als ich;
denn das »ohne Anfang und Ende« begreife ich
gewiss noch weniger als er.
Seine Hand blieb auf einem Bogen liegen, der
voller Punkte war, und Tausende kleiner Teufelchen
schienen dazwischengemalt. Er fragte, was Wind
wäre. Ich fing eine Erklärung von dünnen und
dichten Luftschichten an, welche, mehr oder weniger
an verschiedenen Stellen von der Sonne erwärmt,
in eine Art Wallung geraten könnten, die wahr¬
scheinlich Wind hervorbrächte, und dass dieser —
sehr glaubwürdig — bloss in unserer Atmosphäre
entstehe, indem weiter schon eine dünne Luft sei,
die wir Aether nennen und — »Was erzählen Sie
da für einen Gallimathias!« schrie er laut auf. »So
sind die Europäer; sie drehen sich immer um Ur¬
sachen und Gründe herum und verlieren dadurch
den Gegenstand selbst aus den Augen. Wind ist
eine Materie, die in sich und für sich selbst existiert,
wirkt und den ganzen Raum ausfüllt, der sich zwischen
allen sichtbaren und unsichtbaren Körpern befindet.
Wie könnten sonst Kometen herausgeflogen kommen?
Diese sind die wahren Windreiniger, die fliegen
herum und brennen alles weg, was die Kraft des
Windes vermindern oder gar zerstören könnte; denn
Wind ist eine wohlthätige Gabe Gottes!« Dieses
letzte Urteil war in dem heissen Persien, wo ohne
Wind jedermann umkommen würde, sehr natürlich.
Unterdessen hatte er selbst wie der Wind in
seinem Buche gewirtschaftet und blieb mit Wohl¬
gefallen an einem Blatte stehen, auf dem eine Menge
Kugeln hingemalt waren und oben eine grässliche
Fratze. »Was denken Sie von den Bewegungen der
Körper? Steht die Sonne oder geht sie?« »Sie
steht,« war meine Antwort. »Da haben wir es!
Kennen Sie denn die Wirkung der Naturkraft nicht,
die einzig in ihrer Art ist? Die Natur verleiht einer
jeden Sache nur eine Kraft, nie zwei auf einmal,
sonst wäre sie ungerecht, und das darf sie nicht sein.
Hat diese Kraft einmal gewirkt, so ist nichts im stände,
die Wirkung zu vermehren oder zu vermindern und
noch weniger eine zweite hinzuzufügen. Wenn Sie
annehmen, dass die Erde sich um die Achse drehe,
so ist dieses schon eine Kraft; folglich kann sie sich
nicht zugleich auch um die Sonne drehen; nehmen
Sie aber an, dass die Sonne sich um die Erde drehe,
dann dreht die Erde sich nicht um ihre Achse.«
»Auf diese Art« — sagte ich — »hat also die Natur
unserer Erde bloss die Kraft des Stillstehens ver¬
liehen.« »Richtig, das behaupten wir Perser; Ihr
behauptet es von der Sonne und habt unrecht. Zur
Freude der Menschen und des Schah ist alles er¬
schaffen; wir stehen mit der Erde im Mittelpunkte
und sehen dankbar zu.«
Darauf schloss er sein Buch und sagte: diese
Sachen wären hoher Natur, man müsse seinen Geist
auch für die Zukunft schonen. Unterdessen wolle
er von minder kopfbrechenden Dingen sprechen
als Mathematik. Darauf zeigte er mir, wie man die
Entfernungen der Gegenstände hinter einem Flusse
messe — wobei der Minister versicherte, der Schah
hätte ihm einmal so eine Kommission gegeben, die
er wundervoll erfüllt habe —, wie man die Höhe
eines Gegenstandes von weitem messe u. s. w. Er
schien sehr bestürzt, zu erfahren, dass in Europa
die kleinen Knaben ihren geometrischen Kurs damit
anfangen. Ich fing an, eine trigonometrische Messung
zu erklären; allein das begriff er nicht und schien
keine Idee von Logarithmen zu haben.
Zum Schlüsse musste ich der verwunderten Ge¬
sellschaft allerlei über meine Reisen um die Welt
erzählen, wobei ihnen zwei Sachen unmöglich
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536
Astronomie und Zeitrechnung der Perser.
schienen: dass ich einst ihr Antipode gewesen, und
dass es schönere Länder in der Welt gebe als Per¬
sien. Der Minister bedankte sich für die angenehme
Unterhaltung, liess Erfrischungen geben, bat mich,
ihn öfters zu besuchen, und wir schieden von dem
dicken Astrologen als gute Freunde.
*
* #
Die Perser haben zweierlei Jahre: Sonnen- und
Mondenjahre. Ihr Sonnenjahr fangen sie an nach
uralter Gewohnheit an demselben Tage, in derselben
Stunde und Minute, sobald die Sonne in die Früh¬
lings-Tag- und Nachtgleiche tritt oder den Anfang
des Widders berührt, nämlich am 21. März. Dieser
Tag wird Id-i-Nou-Röze (Neuer Tag) genannt,
von welchem Tage an die Perser nicht allein den
Beginn des Frühlings, sondern auch des Sonnen¬
jahres berechnen. Der Id-i-Nou-Röze wird bis
auf den heutigen Tag mit all der Freude und Fest¬
lichkeit begangen wie bei den alten Persern. Diese
einzige Stiftung früherer Tage hat über die unduld¬
same Bigotterie gesiegt, die eine Religion zerstörte,
auf welcher jene gegründet war. Und die Moham¬
medaner in Persien haben sich lieber einer gottlosen
Beibehaltung dessen wollen bezichtigen lassen, was ihre
Widersacher den Ungläubigen *) zuschreiben, als ein
Fest aufheben, das ihre Vorfahren ungemein liebten.
Dieses Fest beginnt mit dem von dem Hofastrologen
signalisierten und durch Geschützsalven verkündeten
Eintritt der Tag- und Nachtgleiche. Genau um diese
Zeit, und wäre es selbst die Mitternachtsstunde, hält
der Schah den ersten feierlichen Salam. Tags darauf
findet der grosse Salam in dem an den Palast an-
stossenden herrlichen Platanenparke statt. Die Mitte
des Parkes wird von einem langen, spiegelglatten
Bassin eingenommen, und am oberen Ende des letz¬
teren erhebt sich auf breiten, stufenförmigen Ter¬
rassen eine offene, säulengetragene Marmorhalle, in
deren Mitte ein mächtiger Alabasterthron von bizarren
Formen aufgerichtet ist. Zu beiden Seiten des Bas¬
sins sind Truppen aufgestellt; näher an den Stufen
der Thronhalle sind die Würdenträger des Staates,
des Hofes und der Kirche postiert. Das gemeine
Volk drängt sich vor den Thoren des Palastes. So¬
bald der Schah in Begleitung der Prinzen erschienen
und auf dem Throne Platz genommen, tritt zunächst
ein Sprecher der Priesterschaft vor, um mit eigen¬
tümlich gellender Stimme die zunehmende Herr¬
lichkeit des Islam zu preisen. Ihm folgt der Sprecher
des Volkes, welcher die Person des »Königs der
Könige« als die Summe aller menschlichen Vorzüge
und aller Herrschertugenden, gleichwie die Glück¬
seligkeit seiner Völker bis an den Himmel hebt.
Den Schluss macht der Hofpoet, welcher, immer in
gleicher Tonart, den von Tag zu Tag sich mehren¬
den Glanz des Thrones verherrlicht. Während dieser
*) Die Türken beschuldigen immer die Perser, dass sie
ein Fest feiern, das von den Anbetern des Feuers angeordnet
wurde.
Ansprachen wird dem Schah ab und zu Kaffee nebst
dem Khaliän — der persischen Wasserpfeife —
gereicht. Erscheinen und Abgang desselben werden
durch Geschützsalven und Abspielen der persischen
Hymne verkündigt. Am vierten Tage ist abermals
grosser Saldm. Diesmal gilt es der erst vom Schah
Nasr-e-d'in instituierten Feier der Geburt Alis, des
persischen Propheten. Das Fest währt über eine
Woche *), aber der erste Tag ist der wichtigste. An
diesem erscheinen alle Stände in ihrem neuesten
Schmuck; sie schicken einander Geschenke und
Zuckerwerk, und jeder küsst seinen Freund an diesem
bedeutsamen Morgen des »Id-i-Nou-Röze«.
Die Mondjahre, welche nach des Mondes zwölf¬
maliger Wiederkehr zu neuem Lichte gemessen werden,
fallen 11 Tage kürzer aus als unsere Jahre. Der
bürgerliche Tag beginnt mit Sonnenuntergang und
hat 24 Stunden.
Die Perser fangen ihre Jahr-Rechnungen auf
zweifache Weise an. Die erste nehmen sie von der
Regierungsepoche Jesdedsherds 2 ), Shähreirs
Sohn, als des letzten persischen Königs nach dem
Einfalle der Araber in Persien. Der Anfang dieser
Jahr-Rechnung war — wie Vlug Beig berichtet —
an einem Dienstag, als er seine Regierung antrat.
Nach Albumazars Zeugnis zählten die Perser zu
Anfang seiner Regierung 3634 Tage nach der Hi-
djräh oder Flucht Mohammeds aus Mekka, welche
Zahl 10 Jahre 94 Tage ausmacht. Der Anfang der
Regierung Jesdedsherds fiel in das 11. Jahr der
Hidjräh, auf den 22. Tag des Monats Rebi el-
evvel, oder auf den 15. unseres Sommermonats,
im Jahre 632. Nach Vlug Beigs Angaben sind
die Jahre und Monate dieser Jahr-Rechnung Sonnen¬
jahre, denn das Sonnenjahr besteht aus 365 Tagen,
und ein jeder Monat hat 30 Tage. Etliche persische
Geschichtschreiber des Altertums fügen dem Ende
des Monats Ebän fünf Tage hinzu; die Astronomen
aber setzen sie an das Ende des Jahres.
Die andere Zeitrechnung (= tarikh) wird
Dselläleh genannt, und zwar nach dem Namen
des Sultans Dshelläl-e-din Malek Shäh Alp
Arslän 3 ), des Kaisers von Persien, Khoräsän und
*) Die Zeit seiner Dauer scheint nicht genau bestimmt zu
sein. Die Vergnügungen dauern oft acht bis dreizehn Tage,
manchmal nur vier bis fünf. Und diejenigen, die weder Geld
noch Zeit haben, begnügen sich mit der Feier des ersten und
vierten Tages.
*) Isdegertes III. der Griechen.
8 ) Al-Käim, der kurz nach der Thronbesteigung Malek
Shähs gestorben, gab vor seinem Tode an Malek Shäh nicht
nur den Titel »Sultan«, sondern auch den »Emtr-el-Moumenin«
oder »Herr der Gläubigen«, der vorher nur den Kalifen allein
zu teil geworden war; Malek Shäh hiess auch Dshelläl-o-
dauldh-e-din oder »die Glorie des Staates und des Glaubens«.
Solche Titel scheinen zuerst unter der Dynastie von Dilem ge¬
bräuchlich geworden zu sein; alle aus derselben waren durch
hohe Namen bezeichnet. Major Price berichtet, nach der
Autorität Kholassät-ul-Akhbärs, dass Malek Shäh auf der
Jagd, seinem Lieblingsvergntigen, krank geworden und am 15* No¬
vember 1092 nach zwanzigjähriger Regierungsdauer und im 38.
Lebensjahre gestorben sei. (Prices Mahom. hist., vol.II, pag. 356.)
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Astronomie und Zeitrechnung der Perser.
537
Mesopotamien, welcher acht der berühmtesten da¬
maligen Astronomen vor sich berief, die den persi¬
schen Kalender verbessern sollten. Dies geschah im
448. Jahre der Zeitrechnung Jesdedsherds und am
18. des Monats Ferverdin oder — nach unserer
Rechnung — am 14. Tage des Lenzmonats 1079.
Dieses Jahr wird genannt Säle Dshelläli, das ist
das Jahr der Majestät. Man kann aber sehr leicht
erfahren, wieviel man von der Regierungsepoche
Jesdedsherds an hat, wenn man nämlich 632 von
unserer Jahrzahl abzieht, gleichwie man auch die
Jahre von Dshelläleh an wissen kann, wenn man
1079 von 1892 abzieht. In den persischen Historien
bedient man sich der ersten Zeitrechnung; da aber
die Perser besonders abergläubisch den Tag und die
Stunde beobachten, wenn die Sonne in den Aequator
tritt, so gebrauchen sie nunmehr die Zeitrechnung
Dshelläleh.
Das Jahr wird von den Persern in zwölf Monate
abgeteilt, welche in der vormuselmanischen Epoche
folgendermaassen benannt wurden: Ferverdin, Urdi
behesht, Khourdäd, Tir, Emrdäd, Sheriour,
Mehre, Ebän, Azer, Di, Behmen, Esfender-
muz.
Die alten Perser hatten auch ihren eigenen
Takvim oder Almanach, und es wurde sämtlichen
Tagen eines jeden Monats der Name eines ihrer
Könige und tapferen Helden beigelegt, nämlich:
Hormuzd, Behmen, Urdi behesht, Sheriour,
Esfendermuz, Khourdäd, Emrdäd, Dibädhur,
Azer, Ebän, Khaur, Mäh, Tir, Jius, Daba-
mehre. Mehre, Surush, Resh, Ferverdin, Be-
heram, Ram, Bäd, Dibädin, Din, Ced, Ash-
däd, Osmän, Ramijäd, Marasfend, Anirän.
Die fünf beigefügten Tage hiessen: Ahnud, Ash-
nud, Esfenmez, Vahesht, Heshunesh. Ein jeder
Tag eines jeglichen Monats, der den Namen mit
solchem Monate gemein hatte, wurde für einen Feier¬
tag gehalten. So z. B. der 19. Feverdin Mäh,
der 7. vom Emrdäd Mäh, der 4. vom Sheriour
Mäh, der 16. vom Mehre Mäh, der 10. vom Ebän
Mäh, der 9. vom Azer Mäh, der 2. vom Behmen
Mäh und der 5. vom Esfendermuz Mäh; ebenso
der 8. des Monats Di, gleichwie der 15. und 23.
eines jeden Monats.
Der Anfang des Monats Feverdin wird Nou
Röze im allgemeinen genannt; der 6. Tag aber
heisst eigentlich und im besonderen Nou Röze.
Der 16. des Mehre Mäh ist der gemeine Mehre-
jän und der 21. der eigentliche Mehrejän. Ferner
sagen die Parsen, die heutigen Nachkommen der
alten Perser: es habe Gott (Hormuzd) in sechs
Zeiten die Welt erschaffen, welche sie Kahenbarha
nennen. Der Anfang der ersten Zeit ist der n. Tag
vom Di Mäh, der Anfang der zweiten Zeit der
n. Tag vom Esfendermuz, der Anfang der
dritten Zeit der 26. Tag vom Urdi behesht, der
Anfang der vierten Zeit der 26. vom Khourdäd,
der Anfang der fünften Zeit der 16. Tag vom
Sheriour, der Anfang der sechsten Zeit der 31. Tag
vom Ebän. Eine jede Zeit umfasst fünf Tage.
Solche Namen legten die alten Perser auch den
Jahren bei, und es mussten jegliche vier Jahre
ordnungsgemäss gleichfalls solche Namen führen;
die ersten vier Jahre wurden Hormuzd, die
zweiten vier Jahre Behmen u. s. f. genannt.
Wenn aber die Namen den Monat bedeuten sollten,
dann wurde das Wort Mäh hinzugesetzt, wie über
diesen Gegenstand ausführlich zu lesen ist in Joseph
Scaligers Werke »De emendatione temporum«.
Dieser Kalender aber und die Jahr-Rechnung,
sowie die Jahrzahl von Jesdedsherd an zu rechnen,
sind gänzlich abgeschafft, dagegen gebrauchen die
heutigen Perser den arabischen Kalender, dessen
Monate nachstehende Namen führen: Muherrem,
Sefer, Rebi el-evvel, Rebi essäni, Dj emädi
el-evvel, Djemädi essäni, Redjeb, She’ebän,
Remezän, Shevväl, Zil-que’ede, Zil-hedje.
Den Sinn dieser Wörter muss man nach der Zeit
erfassen, als dieselben zuerst erdacht wurden. Mu¬
herrem z. B. kommt von herrema oder verbieten;
denn es war den Arabern nicht gestattet, sich in
diesem Monate zu Krieg oder Razzia in Bewegung
zu setzen. Ueberdies rechnet man noch separat nach
einem Cyklus von zwölf Jahren des mongolischen
Tierkreises, der von der Maus bis zum Eber jedes
Jahr ein anderes Tier zum Symbol hat, und so wie
es in unserem Kalender heisst: »Im Jahre des Heils«,
ebenso enden auch die königlichen Schriftstücke mit
der Schlussformel: »Gegeben in diesem gesegneten
Maus-, Ochsen-, Leoparden-, Hasen-, Krokodil-,
Schlangen-, Pferde-, Affen-, Huhn-, Hunde- oder
Eber-Jahre«.
Was die Wochentage anbelangt, so hingen die
heutigen Perser dieselben von unserem Sonnabend
an zu zählen, damit der siebente, ihr Ruhetag, auf
den Freitag falle; darin unterscheiden sie sich wesent¬
lich von den Juden und Christen. Die Namen der
Tage sind folgende: Shembe, Yek shembe, Dou
shembe, Se shembe, Tshehär shembe, Pendj
shembe, Djum’e oder Adine. Da die heutigen
Perser nur am Freitage in ihren Kirchen Zusammen¬
kommen, so wird dieser Tag Djum’e, d. i. Ver¬
sammlungstag, genannt.
Ganz wie in Europa haben alle Mohammedaner,
besonders die heutigen Perser, wenn auch mit einigen
Abänderungen, gewisse Tage, die auf die an den¬
selben vorgenommenen Geschäfte einen glücklichen
oder unglücklichen Einfluss ausüben. Als unglück¬
liche Tage gelten: der Sonntag, weil er der Todes¬
tag des Propheten ist, der Montag, der Donnerstag,
weil an ihm eine Menge Heilige den Märtyrertod
erlitten; ganz besonders unglücklich aber sind Sonn¬
abend und der letzte Mittwoch des Monats Sefer.
Jedoch sind unter diesen Tagen einige, welche für
gewisse Verrichtungen glückbringend sind, so der
Sonntag zur Vollziehung der Ehe und der Donners¬
tag zum Aderlass. Fällt einer dieser unglücklichen
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53 «
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
Tage in die Zeit der Bairam-Feste, so wird er zu
einem glücklichen. Der erste Tag eines Monats,
möge er heissen, wie er wolle, und der Freitag wer¬
den als glückbringend betrachtet. Letzterer, weil er
— wie bereits oben erwähnt — der Sabbath der
Mohammedaner ist, weshalb er auch den Beinamen
Fl Fadileh (der Vortreffliche) erhalten hat. Alle
übrigen Tage sind indifferent. In Persien hält man
auch ausserordentlich viel auf die Planetenstunden;
es werden nämlich den Stunden der Nacht die zwölf
himmlischen Zeichen zugeeignet, wie z. B. der ersten
Stunde des Sonntags der Widder, der zweiten der
Stier u. s. f.
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
Ein Beitrag zur Geschichte der Erdkunde.
Von Emil Wisotzki (Stettin).
(Fortsetzung.)
Wir hören sofort wieder die uns schon bekannte
alte Frage: was wird mit dem vielen einfliessenden
Wasser? Aber die Antwort, welche Bolland darauf
erteilt, ist eine neue! Die Gezeitenströme könnten
es nicht sein, da sie sechs Stunden Wasser hinein
und wieder sechs Stunden doch wohl ebensoviel
hinausführten. Ein Teil sickere wohl in die Erde
ein, ein anderer verdunste. Aber dies könne eine
befriedigende Erklärung nicht bieten. Daher schliesst
er: »it sems most reasonable that as the straights
mouth of Gibraltar has its continual indraught aioft,
so the superficial part thereof may have its recourse
back again below.«
Also eine Unterströmung ist es, welche der
Oberströmung entgegengesetzt das überflüssige Wasser
wieder abführt. Eine Erklärung des Vorganges hat
Bolland nicht versucht.
Ebenfalls historisches Interesse hat seine Arbeit
durch die Angabe von Methoden zum Erweis etwa
vorhandener unterseeischer Strömungen. Bolland
entwirft zwei Zeichnungen. Die erstere gibt »the
sounding boat for currants.« An der Spitze des¬
selben befindet sich »a droge saile«, welches durch
die Gewichte beschwert bis in grössere Tiefen herab¬
gelassen werden kann: »which way ever the cur-
rant runns alow, it will draw the boat after it.«
Die zweite Zeichnung stellt dar ein von ihm ver¬
fertigtes »sounding lead for tydes and currants«,
»with springs in the inner part, a bladder hooked
upon the outside, which has a dependency upon
those springs, so that the lead striking the ground,
off flies the bladder from the lead, and all the way,
in its rising to the superficies of the water, it is
drove which way soever the current does set.«
Der zweite der genannten Männer, Thomas
Smith, machte 1668 eine Reise, auf welcher er
Konstantinopel besuchte. Ueber diese erstattete er
der Royal Society in London 1683 Bericht. Der¬
selbe zeigt ihn uns nur mit der oberflächlichen Aus¬
strömung des Schwarzen Meeres durch den Bos¬
porus bekannt. 1 ) Aber noch in demselben Jahre,
am 21. Dezember 1683, hielt Smith einen zweiten
Vortrag, diesesmal vor der Oxford Society über »A
conjecture about an under current at the streights-
mouth« 2 ). Er geht dabei aus von den Gezeiten im
Kanal, wo man Oberflächen und Bodenströmungen
beobachtet habe. Dies veranlasse ihn, eine Mut-
maassung zu äussern in Bezug auf das Mittelmeer.
In dasselbe ergiesse sich ein Strom aus dem Atlan¬
tischen Ocean, ebenso aus dem Schwarzen Meer.
Daher die alte Frage, wo bleibt denn das viele Wasser?
Er wolle alte Spekulationen hierüber nicht weiter
berühren, wie unterirdische Abzugskanäle, Ver¬
dunstung durch die Sonnenwärme, Ausströmung
mittelmeerischen Wassers, wenigstens auf einer Seite
der Strasse von Gibraltar. Seine Ansicht gehe viel¬
mehr dahin, dass in dieser Strasse sich ein Unter¬
strom befinde, durch welchen eben so viel Wasser
in den Ocean wieder hinausgeführt werde, wie durch
den Oberstrom ins Mittelmeer hinein. Zur Bestä¬
tigung dieser Ansicht weise er auf die ähnliche Na¬
tur der dänischen Sunde hin, worüber ihn ein tüch¬
tiger Seemann informiert habe. »He told me, that
being there in one of the Kings Fregats, they went
with their Pinnace into the middle stream, and
were carried violently by the current: that soon
after they sank a bücket with a large cannon bullet
to a certain depth of water, which gave check to
the boats motion, and sinking it still lower and
lower, the boat was driven a head to wind-ward
against the upper current: the current aioft, as he
added, not being above 4 or 5 fathom deep, and
that the lower the bücket was let fall, they found the
under current the stronger.« Darauf hin habe er
dann zweimal diesen Versuch in der Strasse von
Gibraltar beabsichtigt, sei aber jedesmal durch starken
Sturm daran verhindert worden; er hoffe aber, dass
spätere, glücklichere Untersuchungen seine Vermu¬
tung eines Unterstromes bestätigen würden.
Dieser Versuch, mit einem Kessel Strömungen
zu entdecken, ist ein alter, wie J. G. Kohl in seiner
Geschichte des Golfstromes bemerkt. Schon zur
Zeit des Columbus benutzte man einen solchen hierzu,
er trat an die Stelle des Senkbleis 3 ).
An Bedeutung weit hinter sich gelassen hat
beide Männer, Bolland und Smith, Graf Ferdi-
nando Marsigli. Derselbe hat uns in seinen »Osser-
vazioni intorno al Bosforo Tracio« in Roma 1681
ein Werk hinterlassen, welches für die Lehre von
den Strömungen in den Meeresstrassen von eben
derselben epochemachenden Bedeutung geworden ist,
wiedie obengenannte Abhandlung Ed. Halleys. Wie
letzterer den Grund legte für eine richtige Erklä¬
rung der Niveaudifferenzen, als deren Ausgleichung
die Oberflächenströmungen sich ergaben, hat Mar-
*) Philosoph. Transactions, vol. XIII, London 1683, p. 335.
2 ) Philosoph. Transactions, vol. XIV, 1684, P- 564.
*) Bremen 1868, S. 25.
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
539
sigli die in entgegengesetzter Richtung vor sich
gehenden Bodenströmungen als eine Ausgleichung
von Schweredifferenzen erklärt').
Marsigli beschränkte seine Untersuchungen auf
den Bosporus.
Er gibt von demselben eine Beschreibung und
schildert den aus dem Schwarzen Meer in die Pro-
pontis sich ergiessenden Oberflächenstroni. Derselbe
habe örtlich verschiedene Geschwindigkeit, je nach der
Weite des Profils. Auch wirkten auf dieselbe ein
die Winde, indem Nordwinde sie förderten, Süd¬
winde dagegen sie hemmten. Marsigli versuchte
die Geschwindigkeit mit Hilfe eines um eine hori¬
zontale Achse sich drehenden, aus sechs Flügeln
bestehenden Apparates zu messen, wobei ihm pas¬
sierte, dass ein Flügel abbrach, er also kein sicheres
Resultat erhielt. Seitliche, in entgegengesetzter Rich¬
tung nach Norden hin verlaufende, durch örtliche Vor¬
sprünge veranlasste horizontale Aspirations- und Re¬
aktionsströme 2 ), wie wir heute sagen würden, wer¬
den angeführt.
Aber auch die aus der Propontis zum Schwarzen
Meer gerichtete Unterströmung ist ihm bekannt, und
ihr widmete er vor allem seine Aufmerksamkeit.
Gerade wie Prokop von Caesarea und Petrus
Gyllius, die eraber nicht kennt oder doch wenig¬
stens nicht nennt, berichtet er, über ihr Vorhanden¬
sein zuerst durch türkische Fischer belehrt zu sein.
Diese seien auf folgende Weise zu ihrer Kenntnis
gelangt. Jedesmal nämlich, wenn sie ihren Kahn
befestigt und ihre Netze auf gut Glück ausgeworfen,
bemerkten sie, dass diese bis zu einer gewissen Tiefe
der Bewegung des oberen Stromes folgten, dann
aber, tiefer hinabgelassen, nach der entgegengesetzten
Richtung getrieben wurden und hinter dem Kahn
wieder zum Vorschein kamen. Auch sei er ange¬
regt worden durch einen englischen Gesandten, den
Herrn Ritter Fine hi, der es seinerseits wieder von
einem englischen Kapitän erfahren, der vielleicht
aus Zeitmangel sich mit dem Gegenstände nicht
näher beschäftigt habe.
Sofort habe er selbst Untersuchungen ange¬
stellt. Zuerst mit einem Seile, an welches er weisse
Korkstücke befestigt; bessere Resultate aber hätte er-
*) Ueberall in der Welt Ausgleichungen von Gegensätzen;
alles, was geschieht, ist nur so zu erklären; es handelt sich jedes¬
mal um die Feststellung der Natur der Gegensätze. Am Anfang
war der absolute Gegensatz, das Ende bedeutet das Fehlen jeden
Gegensatzes. Was dazwischen liegt, die moralische und physische
Weltgeschichte, ist nichts anderes als die stattfindende Aus¬
gleichung der Gegensätze, hinführend zum-Fehlen jeden Gegen¬
satzes. Unsere Definitionen von Erscheinungen, die als Vorgänge
zu fassen sind, haben stets davon auszugehen, so z. B. müssen
wir den Wind als eine Ausgleichung von Luftdruckgegensätzen
erklären. Ein Fluss ist die innerhalb einer mehr oder weniger
schmalen, mit Wasser erfüllten Rinne der Erdoberfläche von
Ort zu Ort stattfindende und sich immer wieder erneuernde Aus¬
gleichung von Niveaugegensätzen; die Aufrichtung eines Gebirges
die Ausgleichung von Spannungsgegensätzen in der Erdkruste.
a ) Vossius, De motu mariuin et ventorum, 1663, p. 14,
kannte solche Erscheinungen auch schon.
geben ein einfaches Seil, das an seinem unteren
Ende durch ein Stück Blei beschwert worden. Das¬
selbe sei bei seinen Versuchen nie in senkrechter
Richtung gespannt gewesen, was bei ruhigem Wasser
hätte eintreten müssen, sondern habe stets eine dop¬
pelte Krümmung gezeigt, eine obere nach Süden
und eine untere nach Norden gerichtet. Dies könne
aber nur eintreten bei doppelten, in entgegenge¬
setzter Richtung sich ergiessenden Strömungen. Die
Richtungsänderung finde in einer Tiefe von 8—12
türkischen Fuss statt.
Ihre Geschwindigkeit hänge von denselben Ur¬
sachen ab, wie diejenige der Oberströmung, also von
den mehr oder weniger breiten Querdurchschnitten.
Viel Sorgfalt und grossen Scharfsinn hat nun
Marsigli entwickelt zur Erklärung der Unterströ¬
mung. Vor allem suchte er sich Gewissheit zu ver¬
schaffen über die Schwere des Wassers, sowohl des
Oberflächen- wie des Tiefenwassers an den ver¬
schiedensten Stellen. Letzteres erhielt er mit Hilfe
eines durch ein Ventil verschlossenen Gefässes, das
er nach seinem Belieben mittels einer Schnur unter
Wasser wieder öffnen konnte. Als Resultat ergab
sich eine Zunahme der Schwere von der Oberfläche
nach unten im Bosporus und ebenfalls eine solche
von der Mitte des Schwarzen Meeres durch den
Bosporus bis in den Archipel bei Smyrna. So ge¬
rüstet schritt Marsigli zur Erklärung der Unter¬
strömung. Die Ursache könne seines Erachtens nur
ruhen auf dem Prinzip, dass das Schwerere das Leich¬
tere verdränge. Folgendes Experiment stelle die
Sache klar. Man nehme, schreibt Marsigli, ein
Gefäss, wie beistehende Figur, welches in zwei gleiche
Teile F und Z geteilt ist durch eine Scheidewand
A C , welche unten ein Loch D und oben ein Loch E
hat. Die Abteilung X wird, nachdem man das Loch D
verstopft hat, angefüllt mit Salzwasser aus dem un¬
teren Strom, die Abteilung Z mit Wasser aus dem
Schwarzen Meer, welches in weiter nördlichen Orten
noch zum Kochen dient. Dann öffne man das Loch D y
sofort beginnt das Wasser X nach Z hin zu laufen,
und das von Z durch das Loch E oben nach X.
Diese Bewegung würde fortdauem, bis das sich
mischende Wasser in beiden Abteilungen homogen
geworden. In der Wirklichkeit trete dieser Fall des
schliesslichen Verschwindens der Schweredifferenz
nicht ein, da einerseits durch die Zuflüsse des Pontus
immer wieder eine Verdünnung verursacht und
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540
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
andererseits aus dem Mittelmeer durch den Unter¬
strom immer von neuem salzreiches Wasser heran¬
geführt werde. Marsigli fügt hinzu, das Experiment
entspreche allen in der Wirklichkeit vorliegenden
Erscheinungen, indem er wörtlich sagt: »che la
corrente superficiale sia fatta in gran parte per
l’espulsione, che riceve dalla gravitä dell’ acqua,
portata dalla corrente sottana«, und schliesst deshalb,
von diesem Standpunkt aus mit Recht, dass der obere
Strom zum grossen Teile eine Funktion des unteren
Stromes sei. Dies muss um so mehr verwundern,
als Marsigli vorher von einer Niveaudifferenz
zwischen Bosporus und Adriatischem Meer bei Vene¬
dig auf Grund eigener und fremder Barometer¬
beobachtungen gesprochen hatte, eine Niveaudiffe¬
renz, welche als nicht notwendig zur Erklärung des
Oberflächenstromes hingestellt wird.
Das Experiment entspricht aber nicht in allen
Punkten den natürlichen Verhältnissen, es fehlt ihm
der zweite Gegensatz, die von vornherein vorhandene
Niveaudifferenz. Wenn dieser Punkt auch noch bis
auf den heutigen Tag seine Schatten wirft, so stehen
wir doch nicht an, Marsiglis Werk, ebenso wie
Halleys genannte Abhandlung, als bahnbrechend für
die Lehre von den Strömungen in den Meeres¬
strassen zu bezeichnen.
Marsigli befand sich elf Jahre später (1691)
wieder in Konstantinopel und nahm seine früheren
Untersuchungen von neuem auf. Aber zu einer
neuen Publikation, wie er sie wünschte, kam es nicht.
Noch 1725 dachte er hieran und wollte seine Bosporus-
Studien der »Histoire de la mer« anschliessen, welche
er zu Amsterdam in diesem Jahre erscheinen liess.
Leider trat ein äusseres Hindernis dazwischen *),
und so ist es wohl überhaupt nicht mehr dazu ge¬
kommen.
Mit dieser Unterströmung wurde in die wissen¬
schaftliche Welt ein Zankapfel geworfen, der erst in
unseren Tagen beiseite gelegt zu werden beginnt.
Kaum eine andere geographische Frage ist so leb¬
hafter und immer wieder erneuter Diskussion unter¬
zogen worden, wie diese. Und nicht bloss die
Frage nach den Ursachen der Unterströmungen, hier
und in anderen Meeresstrassen, erhitzte die Gemüter;
nein, ebenso sehr die Frage nach ihrer Existenz
und ihrer physikalischen Möglichkeit. Ebenso oft
und von ebenso bedeutenden Köpfen wurde sie zu¬
gestanden, ja als notwendig gefordert, wie verworfen,
ja als unmöglich zurückgewiesen.
Fürs erste scheinen die Mitteilungen von Smith
über die Doppelströmungen in den Strassen von
Gibraltar und im Sund, die Untersuchungen Mar-
siglis im Bosporus sofort lebhafte Zustimmung von
den verschiedensten Seiten erfahren zu haben. Wenig¬
stens berichtet John Ray, dass sie unter Seeleuten,
Reisenden und Physikern allgemeinsten Beifall ge¬
funden hätten. Aber er für seine Person könne
*) Histoire de la Mer, Amsterdam 1725, Pröface.
nicht beistimmen. Er verstehe nicht, wie Wasser in
ein und demselben Kanal zu gleicher Zeit vorwärts
und rückwärts laufen könne. Wasser vermöge nur
auf geneigter Ebene abwärts zu laufen. Angenom¬
men nun, der sogenannte untere Strom fliesse aus
dem Mittelmeer in den Atlantischen Ocean, so müsse
seine Oberfläche doch auch nach Westen hin ge¬
neigt sein. Diese Oberfläche bilde dann aber doch
wieder die Grundlage für den sogenannten Ober¬
strom aus dem Atlantischen Ocean ins Mittelmeer.
Dieser müsste demnach ja bergauf fliessen, was un¬
möglich. In Wirklichkeit finde nur ein Einströ¬
men atlantischen Wassers statt, veranlasst durch
eine Niveaudifferenz zwischen beiden genannten
Meeren 1 ).
Im Jahre 1700 trat Joseph Titton de
Tournefort im königlichen Aufträge eine bota¬
nische Entdeckungsreise nach dem Orient an, welche
ihn über Konstantinopel führte. Ihm war die Unter¬
strömung sowohl durch Prokop von Caesarea
wie auch durch Petrus Gyllius bekannt, er wusste
also, dass auch hier, wie so oft, die moderne Welt
mit Marsigli nur an die Erwerbung des Erbes der
Antike herangetreten war. Aber er vermochte, wie
er bemerkt, keine Prüfung dieses »Wunders« wegen
zu kurzen Aufenthaltes wahrzunehmen. Mangel an
Zeit hat ihn wohl auch gehindert, Marsigli ein¬
gehender zu studieren, da er von diesem sagt: »cet
habile philosophe n’a pas voulu hazarder sa pens£e
sur l’explication d’un fait aussi singulier.« Er selbst
meinte, es könnte sich vielleicht daselbst ein tiefer
Schlund befinden, der gebildet würde durch einen
löffelartig geformten Felsen. Gegen diesen stiesse
der nach Süden abfliessende Oberstrom und werde
durch ihn in seinen unteren Partien zum Umliegen
und somit zum Einschlagen einer nördlichen, also
der oberen Strömung entgegengesetzten Richtung
gezwungen. Doch gebe er diese Erklärung nur zum
besten, um die Gelehrten auf die Erforschung der
wahren Ursachen hinzulenken 2 ).
In denselben Jahren ereignete sich ein Vorfall,
der in die Diskussion über die Möglichkeit oder
Unmöglichkeit, über die Existenz oder Nichtexistenz
eines Unterstromes anderthalb Jahrhunderte hindurch
immer wieder hineingezogen wurde. Derselbe wurde
in einer Abhandlung »Of the currents at the streights
mouth by Capt. —« erzählt, welche dann Dr. Hud¬
son der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu
London vorlegte.
1712 nämlich machte M. de LA igle, Kom¬
mandant des Phöfiix von Marseille, in der Gibraltar¬
strasse bei Ceuta Jagd auf ein holländisches Schiff.
Zwischen Tarifa und Tanger gelang es ihm, diesen
Holländer durch wohlgezielte Schüsse zum Sinken
zu bringen. Die Mannschaft wurde gerettet. Das
*) John Ray, Fellow of the Royal Society, Three dis-
courses physico-theological, 2. Aufl., London 1693, P* 81—83.
2 ) Relation d’un voyage du Levant, II, Lyon 1717» Lettre XV,
p. 402.
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
Schiff aber mit samt seiner aus Branntwein und Oel
bestehenden Ladung wurde einige Tage später in
der Nähe von Tanger, ungefähr vier Legoas west¬
lich von der Unglücksstätte, d. h. also entgegen dem
östlich gerichteten Oberflächenstrom wieder ans Land
getrieben. Man schloss hieraus sofort auf die Exi¬
stenz eines westlich gerichteten Unterstromes, der
einen grossen Teil des durch den Oberstrom zuge¬
führten Wassers gleich wieder wegführe. Der den
Bericht an Dr. Hudson einliefernde Kapitän be¬
kräftigte denselben durch die Mitteilung*, er selbst
sei damals gerade in Gibraltar gewesen und habe
so sichere Kunde erhalten *).
Nach den verschiedensten Seiten hin sind die
Strömungen in den Meeresstrassen erörtert worden
von dem schon genannten Slowenen Joh. Sig. Val.
Popo witsch in seinen »Untersuchungen vom Meere«,
in einer Schrift, welche dem Prodirektor und den
sämtlichen in Nürnberg anwesenden Mitgliedern der
Kosmographischen Gesellschaft, seinen wertesten
Gönnern und Freunden, deren Absichten er voll¬
kommen zustimme 2 ), gewidmet ist. Dieselbe ist
im grossen und ganzen weiter nichts als eine Dis¬
kussion der uns beschäftigenden Frage, angeregt
durch die zu Altdorf 1749 erschienene Abhandlung
von Christ. Gottl. Schwarz »De columnis Her-
culis«. Durch das ganze Buch zieht sich der Geist
der Vermittelung.
Was die Frage nach dem Verbleib der dem
Mittelmeer, mit welchem Popowitsch sich fast aus¬
schliesslich beschäftigt, durch die Flüsse zugeführten
Wassermassen betrifft, so sieht er dieselbe durch
die gelehrten Untersuchungen der Engländer und
Franzosen bereits als beantwortet und abgethan an.
Ausserdem schreibt er selbst den Stürmen und dem
unterirdischen Feuer eine bedeutende Beteiligung zu
an der Verminderung desselben. Letzteres könne
»vielleicht im Winter, wo es viel enger eingeschlossen
ist, etwas kräftiger sein und durch Erwärmung des
Meeresbodens einigermaassen die Abwesenheit der
Sonnenhitze ersetzen«.
In Bezug auf die Strömungen in der Gibraltar¬
strasse, welche ihm die »gewisseste Wasserwage
ist, welche die Höhe des Mittelmeerers mit der des
Oceans abgleicht,« rubriziert er nach längeren Aus¬
einandersetzungen vier Meinungen, die ihm bekannt
geworden:
a. Einige versichern, es gehe durch dieselbe
mehr Wasser herein.
ß. Andere geben vor, es fliesse dessen eine
grössere Menge hinaus.
7. Wieder andere wollen behaupten, dass das
Weltmeer nur hereintrete.
! ) Philosoph. Transactions, vol. XXXIII, for 1724—25,
London 1726, p. 191.
2 ) Das ist jene Vereinigung, welche S. Rüge als die
früheste geographische Gesellschaft hingestellt hat, und auf deren
etwaige Vorläufer der Verfasser vor Jahren hinwies (Jahresbericht
des Vereins für Erdkunde zu Stettin, 1885).
541
5 . Die vierte Nachricht ist der dritten gerade
entgegengesetzt.
Es sei aber, fügte er hinzu, keine unfehlbare
Folge, dass eine dieser vier widrigen Meinungen
solle unrichtig sein. Er wolle die Möglichkeit er¬
weisen , dass alle diese Schriftsteller könnten Wahres
behauptet haben.
So würde im Sommer bei der starken Ver¬
dunstung wohl immer ein Einfluss atlantischen Was¬
sers stattfinden, im Winter dagegen ein Ausfluss
aus dem Mittelmeer, weil der angegebene Grund
dann mehr wegfalle. Auch könne ja in beiden
Jahreszeiten die für jede derselben normale Strömung
durch starke Ost- resp. Westwinde in ihr Gegen¬
teil verwandelt werden, auf die Dauer vielleicht
ganzer Tage. Die unvollkommenen Nachrichten
dürften somit vielleicht nur unvollkommenen Beob¬
achtungen zuzuschreiben sein.
Popowitsch wendet sich dann zu dem Salz¬
gehalte der Meere, zu der Frage nach dem Ursprung
desselben, seiner geographischen Verteilung und ge¬
langt so zu dem Schwarzen Meere, welches trotz
starken Zuflusses durch zahlreiche Ströme doch einen
gewissen Salzgehalt zeige. Popo witsch glaubt
diesen Gegenstand zuerst erörert zu haben, da ihm
M a r s i g 1 i s hierher gehörige Abhandlung nur aus ander¬
weitigen Citaten bekannt ist. Eine Antwort ä la
Kircher, d. h. eine Hinweisung auf unterirdischen
Zusammenhang mit dem Ocean weise er von vorn¬
herein zurück. Dagegen halte er für die wahrschein¬
lichste Lösung diejenige, welche sich auf Beobach¬
tungen alter und neuer Naturkundiger und auch der
Seeleute stütze, dass nämlich dem oben austreten¬
den Strom ein unten eintretender salzreicher Strom
entspreche, wie das der Fall im Bosporus und im
Sunde. Dieser Unterstrom ersetze und erhalte dem
Baltischen wie dem Schwarzen Meere den Salzgehalt.
Auch in der Strasse von Gibraltar nimmt er einen
solchen Doppelstrom an, der die Gestalt eines zu
einer Schlinge über einander gelegten Bindfadens
habe. Wie wenig ihm dieser Unterstrom aber als mecha¬
nische Notwendigkeit eingeleuchtet, geht aus der
Schlussbetrachtung hervor: »Sollte die Erklärung nicht
richtig sein für die Salzigkeit des Pontus, so dürfte
diese See den Verlust des Salzes, welcher den Ueber-
fluss von süssem Wasser bei derselben verursachen
dürfte, sich durch die Beschaffenheit ihres Lagers
selbst ersetzen, wenn vielleicht die Vorsicht der
Schöpfers, um dieses Meer vor der Fäulnis zu be¬
wahren, desselben grosses Bett mit Lagen von Stein¬
salz reichlich bepflastert hat*).«
(Fortsetzung folgt.)
*) Die einzige rein geographische Antwort auf die viel
ventilierte Frage: weshalb die Meere salzhaltig? scheint mir zu
sein ihre Lage auf der Oberfläche des abflusslosen Erdkörpers.
Ob der Satz: die gesamte Erdoberfläche ist eine einzige Wannen¬
landschaft, gar keine Wahrheit in sich enthalten dürfte ?
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542
Geographische Mitteilungen.
Geographische Mitteilungen.
(Stairs.) Kapitän William Grant Stairs, einer
der ehemaligen Begleiter Stanleys auf seiner Emin
Pascha-Expedition, ist am 14. Juni 1892 in Tschitide
im Sambesi-Delta gestorben. Geboren im Juli 1863 in
Halifax in Neu-Schottland, erhielt er seine Ausbildung
auf dem Royal Military College in Kingston in Ontario;
dann war er eine kurze Zeit Civilingenieur auf Neu¬
seeland. Nach England zurückgekehrt, wurde er 1885
Lieutenant im kgl. Ingenieurcorps. Stairs war der
erste, der Ende 1886 von Stanley zur Mitgliedschaft
der Expedition gewählt wurde. Neben dem Arzte
Dr. Parke war er unter den europäischen Begleitern
Stanleys der wissenschaftlich tüchtigste und wurde
bekanntlich von Stanley (im Juni 1889) mit der Be¬
steigung des Ruwenzori und der Feststellung des Semliki-
Laufes betraut. Bald nach seiner Rückkehr von der
Expedition wurde Stairs zum Kapitän befördert. Im
vorigen Jahre übernahm er die Führung einer der drei
belgischen Expeditionen nach der kupferreichen Land¬
schaft Katanga (westlich vom Meru-See) und schiffte
sich am 18. Mai 1891 in Begleitung des Marquis de Bon-
champs, des belgischen Hauptmanns Bodson und des
Dr. Molaney nach Afrika ein. Ende Oktober, nach¬
dem die Expedition die deutschen Besitzungen durch¬
quert hatte, wurde der Tanganjika-See erreicht und auf
einfachen Kähnen durchmessen. Auf der Westküste des
Sees in St. Louis verweilte die Expedition bei der fran¬
zösischen Mission, um am 31. Oktober nach der Haupt¬
stadt des Königs Msiri im Katanga-Gebiete aufzubrechen.
Dieser lehnte die Freundschaft des Kongo-Staates schrofl
ab. Stairs begab sich daher mit dem Marquis Boli¬
eh am ps und dem Hauptmann Bodson, begleitet von
110 Mann, zu Msiri, um mit demselben zu unterhandeln.
Msiri bedrohte Bodson, und dieser schoss Msiri
nieder; nun wurde aber dieser von einigen Soldaten
Msiris tödlich verwundet und starb am selben Abend.
Stairs übernahm die Regierung Katangas, befestigte die
Residenz und versorgte dieselbe gegen die herrschende
Hungersnot. Da er bald darauf erkrankte, so trat er
mit Bonchamps den Rückweg nach der Ostküste an;
am 13. Mai d. J. befand er sich in Tschilowe am Schire-
Eluss; nur einige Tagemärsche von der Küste entfernt,
ereilte ihn, erst 30 Jahre alt, der Tod. Gegen Mitte
Juli trafen Marquis Bonchamps und Dr. Molaney
wieder in Marseille ein. (Mitteilung von Dr. Wolken¬
hauer in Bremen.)
(Schwankung der Erdachse.) Die früher mehr
nur theoretisch erörterte Frage, ob die Erdachse neben
den Schwankungen, welche sie im Welträume ausführt,
auch noch gewissen Verlegungen im Inneren der Erde
selbst ausgesetzt sei, hat neuerdings an Wahrscheinlich¬
keit sehr gewonnen. Prof. Küstner (Bonn), ein Astro¬
nom, der sich mit diesem Probleme schon geraume Zeit
beschäftigt hat, kennzeichnet den gegenwärtigen Stand
der Frage folgendermaassen. Seit Euler und Bessel
weiss man, dass die geometrische Hauptachse mit jener
graden Linie, um welche die Drehung der Erde in einem
gegebenen Zeitpunkte sich vollzieht, nicht notwendig
zusammenfallen muss, dass vielmehr geologische und
andere Massenumsetzungen, wie sie doch an der Ober¬
fläche und in den äusseren Schichten unseres Planeten
ununterbrochen vor sich gehen, eine Drehung dieser
letzteren Graden um die eigentliche Achse zur Folge
haben müssen. Da uns alle Hilfsmittel abgehen, um
a priori den Betrag des Ablenkungswinkels zu finden,
so bleiben nur Beobachtungen der Polhöhe verschiedener
und an möglichst entfernten Punkten gelegener Erdortc
übrig: koincidieren die beiden Achsen, so müssen die
Abstände zwischen dem Scheitelpunkte eines bestimmten
Ortes und dem zunächst gelegenen Pole des Himmels
sich zu allen Zeiten gleich bleiben; im anderen Falle
müssen zu verschiedenen Zeiten auch verschiedene Werte
dieser Winkelgrösse sich ergeben. In der That lieferten
die seit 1882 in dieser Absicht vorgenommenen Messungen
der Polhöhen von Berlin, Gotha, Pulkowa Veränderungen,
denen der Charakter einer gewissen Regelmässigkeit
zugesprochen werden zu müssen schien. Wenn nun
der Nordpol sich thatsächlich von Berlin um eine angeb-
bare Grösse entfernt, so muss er einem demselben Me¬
ridiane angehörigen, aber auf der westlichen Halbkugel
gelegenen Orte um ebenso viel sich genähert haben:
einer Verkleinerung der Polhöhe von B auf der
Osthemisphäre muss eine Vergrösserung der-
jenigendesNebenwohnerpunktesAaufderWest-
hemisphäre entsprechen und umgekehrt. So wurde
denn ein Beamter der Berliner Sternwarte, Marcuse, von
Berlin (B) nach Honolulu (A) auf den Sandwichs-Inseln
entsendet, um daselbst Korrespondenzbeobachtungen an¬
zustellen, und wenn auch in quantitativer Beziehung
die Untersuchung noch nicht als abgeschlossen gelten
kann, so ist doch das soeben gekennzeichnete Verhalten
der Polhöhen von A und B als qualitativ (und dem
Sinne der Bewegung nach) ausser Zweifel gesetzt zu
erachten. Küstner selbst denkt in erster Linie an
meteorologische Vorgänge als Ursachen dieser Achsen¬
schwankungen und weist zugleich auf die grossen klima¬
tischen Umwälzungen in geologischer Vorzeit hin.
(Vortrag, gehalten in der Sitzung der Geograph. Ge¬
sellschaft zu Hamburg am 2. Juni 1892.)
(Klima des Kaplandes.) Von Dr. K. Dove in
Berlin, jenem jungen Geographen, dem wir die bekannte
Einteilung des südafrikanischen Dreieckes in klimatische
Provinzen verdanken, wird neuestens auf die eigentüm¬
liche Ausnahmestellung hingewiesen, welche dem Klima
der Hauptstadt demjenigen ganz nahe benachbarter Ge¬
biete gegenüber zukommt. Während man, da der Nord¬
westwind, der eigentliche Regenwind dieser Gegenden,
die Nordabhänge des mit dem Tafelberge auslaufenden
Gebirges ungehindert bestreichen kann, dortselbst auch
besonders reichliche Niederschläge erwarten müsste, fällt
nach den zuverlässigen Aufzeichnungen der letzten Jahre
zweifellos am meisten Regen am Südfusse des Tafel¬
berges. Als Grund dieser sehr auffallenden Erscheinung
spricht Dove die verhältnismässig sehr hohe Temperatur
an, welche in den südöstlich vom Kap der guten Hoff¬
nung gelegenen Meeresteilen herrscht und welche be¬
wirkt, dass die von südlichen Winden gegen das ge¬
nannte Gebirge getriebene Luft verhältnismässig viel
Wasserdampf enthält. Obwohl von Hause aus Polar¬
wind, erfüllt diese Luftströmung dann ganz die Aufgabe
eines äquatorialen Regenwindes, und es kommt dies
insbesondere der Kultur des berühmten Kapweines zu
gute. (Petermanns Geographische Mitteilungen 1892,
S. 167 ff.)
(Nachrichten über die T a g a 1 e n aus dem
16. Jahrhundert.) Um 1584 beauftragte die Kolonial-
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Litteratur.
543
regierung der Philippinen, nachdem mehrfach Klagen
über die ungerechte Behandlung der Eingeborenen durch
die Spanier eingelaufen waren, einen wohlwollenden
Mann, den Fray Juan de Plasencia mit einer — modern
gesprochen — Enquete über den Zustand der tagalischen
Bevölkerung; der von dem Pater erstattete Bericht bildet
den Inhalt einer bemerkenswerten Abhandlung eines in
Paris lebenden spanischen Gelehrten, T. H. Pardo de
Tavera (»Las costumbres de los Tagalos en Filipinas
segün el Padre Plasencia«). Der genannte Prediger¬
mönch nannte sich so nach seiner Vaterstadt (in Estre¬
madura) ; thatsächlich stammte er von dem Adels-
geschlechte der Portocarrero ab und wurde, nachdem
er zuvor schon einmal vorübergehend auf den Philippini¬
schen Inseln geweilt hatte, 1578 speciell mit der Missio¬
nierung einiger dortiger Provinzen beauftragt. Er ver¬
breitet sich namentlich über die Sklaverei, welche in
eigentümlichen Abstufungen herrsche, sowie über die
Legitimitätsverhältnisse der hörigen Personen; seine
Angaben dürften für die Geschichte der Völkerkunde
von grossem Interesse sein und verdienen den Kennern
der heute unter den Tagalen herrschenden Sitten zum
Vergleiche anempfohlen zu werden. (Revista Con-
temporan£a, 15. Juni 1892.)
Litteratur.
Das Stromgebiet der Sprache. Ursprung, Entwickelung
und Physiologie. Von RudolfKleinpaul. Leipzig, W. Fried¬
rich, 1892. Gr. 8°.
»Ich glaubte, es komme darauf an, zu allererst die Natur der
menschlichen Sprachlaute, ihr natürliches Freiwerden in einzelnen
Fällen zu beobachten und dann zu untersuchen, wie mit ihrer
Hilfe zunächst ähnliche organische Laute, im Anschluss daran
alle Naturlaute und elementaren Stimmen nachgemacht worden
sind, um sozusagen auf das Sanskrit der Natur zu stossen. Was
dem Menschen vorgeschwebt hat, wenn er seinen Feind anpfuite
und wie sich ihm daraus der Begriff des Feuers entwickelte —
die geheime Analogie, die zwischen einem T und einer gespannten
Saite, einem N und einem Ton, einem Zitterlaut und einem Strom,
ja der Undulation des Lichtes obwaltet — die dunkle Symbolik,
die einst eine indogermanische Aspirata befähigte, Blickfeuer,
Sternenblicke und das stille Wachstum der Pflanzenwelt zu malen,
das bedachte, belauschte ich andächtig. Wo ich eines Geräusches
habhaft werden, einen unmittelbaren Ahmlaut auffangen konnte,
liess ich mich’s nicht verdriessen, wenn es auch noch so niedrig
und pfuig gewesen wäre, um die oft so wunderbare Vergesell¬
schaftung der Begriffe zu studieren. Denn als die beste Leuchte,
gewissermaassen als das Wort des Rätsels, erschien mir das Prinzip
der Uebertragung — durch eine weitgehende Uebertragung ge¬
lingt es der Sprache, den Dingen beizukommen und das Unhör¬
bare in Lauten abzubilden« (Vorw. S. VI). Mit diesen Umrissen
kennzeichnet der originelle, Naturwissenschaft und Philologie mit¬
einander unmittelbar verknüpfende Verfasser des vorliegenden
Werkes seinen Standpunkt. Vor allem ist es wichtig, um sich
die erforderliche Unbefangenheit des Urteiles zu verschaffen, sich
des verschiedentlich scharf betonten Unterschiedes zwischen der
blossen Aeusserung von Lauten und der eigentlichen Sprache zu
erinnern; die letztere ist nach unserem Gewährsmann ein ver¬
hältnismässig erst spätes Entwickelungs- und Kunstprodukt, wäh¬
rend jene einfachen Naturlaute schon dem mythischen Urahnen
unseres Geschlechtes angehören und im gewissen Sinne ein
apriorisches Besitztum des menschlichen Intellektes, oder besser
gesagt, des Organismus sind.
Durch diese fundamentale Trennung sichert sich Klein¬
paul seinen naturwissenschaftlich-induktiven Ausgangspunkt der
Untersuchung, der sonst phantastisch in der Luft schweben würde;
er beginnt, wie gesagt, mit dem Urmenschen, der die Welt an¬
fänglich blöde anstarrt, um nicht zu sagen, angrunzt und sich
nun vermöge einer sich stetig vervollkommnenden Nachahmung
die tönende und klingende Umgebung zu eigen macht. Aus
einer solchen (bewussten und unbewussten Imitation der Natur¬
laute, aus Uebertragung und erweiterter Nachahmung ist die
Sprache als ein selbständiger Organismus hervorgegangen, an
dessen Herstellung sich Tausende von Generationen abgemtiht
haben und noch fortwährend abmühen, während es im Anfänge
der Dinge (sit venia verbo!) nichts weiter gab, als »akustische
Signale, Ansätze zu Sätzen, Rudimente«.
»Der ganzen Welt eine Sprache, eine Lautsprache, eine
aus Vokalen und Konsonanten zusammengesetzte Sprache —
diesen simplen Sprachbegriff haben wir schliesslich für das tiefe
Mysterium einer Sprache ohne Worte eingetauscht. Es ist ja
nur die letzte Konsequenz der entwickelten Anschauung: die
menschliche Sprache als das allgemeine Echo der um uns weben¬
den Naturlaute aufzufassen und die Rudimente der Worte, die
wir brauchen, auch in die nichtlautende Wirklichkeit als nach¬
ahmungswürdige Vorbilder zu verlegen. Die Menschen leben zu
allererst in Lauten, viel mehr als in Farben oder Düften und
anderen Erscheinungen; eine Welt, die sie nicht kannten, offen¬
barte sich ihrem suchenden Gemüt in Klängen; Töne waren die
Form, in welcher sich ihnen das Rätsel des Daseins löste, tönend
schloss die Erde, wie die harte Memnonssäule, den harten Busen
auf und zeigte ihr Inneres. Sie ergoss sich in Klagen wie die
vielbrtistige Artemis, sie brach aus wie die Orgel im Glaspalast
zu Sydenham, die 4598 Pfeifen hat, sie, die reiche Göttin, warf
mit Wurzelkeimen um sich, wie ein Säemann mit Korn. Es
kam nur darauf an, die Keime aufzufangen und ihnen das gute
Land zu gewähren, in dem sie wachsen konnten« (S. 216). Diesen
ganzen Prozess, den uns der Gehörsinn, »der älteste unter den
fünf Brüdern«, vermittelt hat, können wir nun unmittelbar auf
eine philosophische Weltbetrachtung anwenden, indem uns die
wahrgenommenen Aeusserungen der verschiedenen Gegenstände
als ihre Eigenschaften, Zustände oder Thätigkeiten erscheinen;
auf diese Weise eröffnet sich eine Beziehung zwischen uns, den
fühlenden Wesen und der (anscheinend) stummen und toten Natur,
die wir zum Reden zwingen. Farben und Laute unterscheiden
sich bei dieser Assimilierung nach Kleinpaul so, dass jene im
allgemeinen lieber als bleibende Eigenschaften, Laute lieber als
vorübergehende Auslassungen betrachtet werden. »Wir sprechen
von dem blauen Himmel, dem gelben Bernstein, der grünen
Wiese, aber von dem rauschenden Wasserfall, dem prasselnden
Feuer, der tobenden Windsbraut. Dass der Himmel blaue, der
Bernstein gilbe, ja, dass die Wiese grüne, geht uns nicht so
leicht ein, wie dass es donnere, der Wind heule, das Kind schreie;
ja bei roter, weisser, schwarzer Farbe selbst sind solche intran¬
sitive Verba überhaupt nicht gebildet worden. In den Farben
Fegt gleichsam etwas Totes, in den lauten etwas Lebendiges«
(S. 141). Wir können uns hier nicht weiter in das Detail ein¬
lassen, sondern müssen uns mit der Kennzeichnung des Stand¬
punktes im allgemeinen begnügen. Wahrscheinlich wird das
Werk manchem Widerspruch, namentlich in den Kreisen der
beruflichen Sprachwissenschaft, begegnen, und es sind uns selbst
bei den kühnen Kombinationen geheime Zweifel aufgestiegen (so
betreffs der Zusammenstellung des griechischen äxouetv mit un¬
serem schauen und dem lateinischen cavere), aber jedenfalls ist
es ein Buch, das den Leser in seiner unmittelbaren Frische und
Anschaulichkeit packt und nicht wieder loslässt, bis er es be¬
endet. Dieser Vorzug verdient um so mehr hervorgehoben zu
werden, als die Darstellung, ungeachtet dieser unnachahmlichen
Leichtigkeit und Eleganz, wie sie einer geistreichen Plauderei
eigen ist, ganz und gar auf dem Boden streng fach wissenschaft¬
licher Forschung steht.
Bremen. Th. Achelis.
Meerferne und Küstenerreichbarkeit im mittleren
Europa. Von Richard Schütt. Freiburger Inaugural
dissertation. Lütcke & Wolff, Hamburg 1891. Gr. 8°.
Die zeitlich-räumliche Entfernung zwischen Verkehrsplätzen
oder von solchen zu wichtigen Verkehrsgegenden war in den
letzten Jahren teils in umfassenderem Maasse, teils für einzelne Teil¬
gebiete — wir nennen Galton, Rohrbach, Penck, Maenss,
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544
Litteratur.
Müller, Michael — der Gegenstand einer Reihe literarischer
and kartographischer Darlegungen. Unter obiger Aufschrift
bietet sich eine neue hierauf bezügliche Arbeit zur Vorführung des
virtuellen Abstandes zwischen den Binnenlandszonen Mitteleuropas
und den ihnen nächst!iegenden Küsten dar. Der Verfasser will
durch seine Untersuchung den Kulturwert der Küsten durch den Zu¬
sammenhang ihrer Gliederung und ihrer Erreichbarkeit feststellen.
Letztere aber hängt wesentlich von dem Einflüsse der natürlichen
Hindernisse ab, welche sich der Entfaltung des freien Verkehrs
entgegenstellen. Um dies kartographisch für ein bestimmtes
Gebiet zu veranschaulichen, ist es stets notwendig, einen oder
mehrere Ausgangspunkte für die wahre Entfernung, d. h. die
zur Zurücklegung der Entfernung nötige Zeit und Kraftverwen¬
dung, anzunehmen. Für die vorliegende Aufgabe ergibt sich als
Mittelpunkt die Stadt Nürnberg: es ist dies der meerfernste
Platz Mitteleuropas, wenn die Transportbewegung auf der Eisen¬
bahn stattfindet, dem Wege des schnellsten üblichen Transport¬
mittels der Gegenwart. Nur streckenweise wird da und dort
der Wassertransport in Betracht gezogen werden müssen, wenn
durch diesen Zeit erspart wird, z. B. quer über den Bodensee.
Bei einigermaassen parallelem Lauf von Wasserlinie und Eisen¬
bahn muss erstere ausser Berücksichtigung bleiben, wenn beachtet
wird, dass z. B. der schnellste Dampfer, welcher zur Personen,
beförderung dient, auf der Rheinstrecke Mainz—Köln thalwärts
7V2 Stunden, bergwärts 12^4 Stunden bedarf, während der
Schnellzug der Eisenbahn diese Städte innerhalb 3 2 /a Stunden
verbindet. (Auch der langsamste Zug fahrt hier um eine Stunde
weniger als jener Dampfer.)
Die Überaus sorgfältige Einzelbearbeitung Schütts hält
sich an die schnellsten Züge und lässt die Aufenthalte unberück¬
sichtigt. Es hat ja letzteres eine theoretische Berechtigung.
Aber die ganze Frage ist denn doch in so potenziertem Sinne
eine Sache der angewandten Geographie, dass man sie nur mit
Einbeziehung der von der Verkehrstechnik unter allen Umständen
geforderten Art und Weise der Transporterledigung wird erledigen
dürfen. Die Aufenthalte aber hängen zudem wesentlich auch
von der Anzahl und der engeren oder weiteren Aufeinanderfolge
der Verkehrshauptorte ab, welche als Stationen eines Schienen¬
weges sich geltend machen, nicht nur von der Ausbildung des
Betriebsdienstes: also liegt eine Sache der geographischen Landes¬
natur hier vor. (Es rechnet ja andererseits Schütt bei der
Linie nach Italien den Aufenthalt ein, welchen die Zollrevision
beansprucht.)
Dagegen erscheint es uns wiederum von dem Rechte der
wissenschaftlichen Untersuchung diktiert, für die verschiedene
Fahrgeschwindigkeit der Abschnitte einer und derselben längeren
Linie eine Durchschnittsgeschwindigkeit einzusetzen, welche
mühevolle Arbeit Schütt ebenso aufwendete, als er nach einer
Einheitszeit berechnete.
Das Ergebnis der gesamten Untersuchung bringt dem Auge
besonders die zweite der unserer Broschüre beigegebenen Karten,
auf der in farbigen Zonen für je zwei Stunden unerlässlicher
Fahrzeit ein Bild des Abstandes zwischen Nürnberg und den
nördlichen und südlichen Häfen sehr fasslich vorgeführt ist.
Am anschaulichsten tritt hier die hemmende Bedeutung
der Alpen entgegen. Man kann rasch überblicken, dass diese
riesige Bodenanschwellung z. B. das nur 470 km entfernte Triest
erst in gleicher Zeit wie das 870 km abgelegene Königsberg
zu erreichen gestattet, wobei es nahezu gleich bleibt, ob der
Weg über Franzensfeste oder über Wien genommen wird, ja
die letztere Route befördert noch etwas rascher. Völlig deutlich
werden insbesondere durch die zungenartig weit gedehnten Zonen¬
teile die wirklich aufgeschlossenen und verkehrswichtigen Thal¬
züge im Gebirge. Aber eine grosse und für alle solche Arbeiten
noch unüberwundene Schwierigkeit bieten in den Gebirgen die
unaufgeschlossenen, d. h. einem beschleunigten Verkehr entzogenen
Landschaften. Schütt handelt freilich hierbei so, wie es andere
gethan: er gibt denselben grösstenteils die Farbe der auf die
betreffende Eisenbahnthalzone folgenden entfernteren Zone oder
auch drei, ja vier solcher Zonen. Da aber jede Farbe 2 Zeit¬
stunden bedeutet, so erhellt leicht das lediglich Abstrakte dieses
Verfahrens. Ist es ja auch nicht haltbar, z. B. meridional zwischen
I Eger und Fürth einerseits und der Thalzone von Weiden und
jener von Eger andererseits alles Land als zu einer und derselben
Zweistundenzone gehörig zu bezeichnen. Es wird sich freilich
bei dieser Zonenform in Farben eine verlässigere Weise kaum
erfinden lassen, da die Zahl der Farben zu gross, die Feststellung
allzu zeitraubend für ein so grosses Gebiet werden müsste. Aber
wir hielten es für thunlich und jedenfalls für zutreffender, wenn
man nicht die betreffenden Gebiete unbezeichnet leer lassen mag,
mittels verschiedener Schraffierung derselben sich zu helfen und
bei Aufgaben, welche sich durch nicht weniger als 12 Breiten¬
grade hindurchziehen, etwas grössere Zeit- und Raumzonen zu
verwenden als die in vorliegender Broschüre.
Gerade die exaktere Kennzeichnung der mangelnden Auf¬
geschlossenheit der betreffenden Gegenden würde von höherem
Werte sein als die beregte Verwischung dieses ihres Mangels.
Man würde mit besserer Klarstellung einen wirtschaftlich-geo¬
graphischen Charakterzug solcher Landschaften darthun; sodann
aber hätte die geographische Untersuchung dadurch auch an die
Kreise des praktischen Lebens einen Wink gegeben, zuzusehen,
ob sie nicht dem Bedürfnis einer Erschliessung jener Gebiete
und ihrer besseren Einbeziehung in den lebenspendenden und
erhöhter Zufuhr bedürftigen Gesamtverkehr nachgehen sollten.
München. W. Götz.
Timbuktu. Reise durch Marokko, die Sahara und den Sudän
von Dr. Oscar Lenz. Zweite unveränderte Auflage. Leipzig,
F. A. Brockhaus, 1892. I. Band. Mit 29 Abbildungen und
1 Karte. XVI und 430 S. 2. Band. Mit 28 Abbildungen
und 8 Karten. X und 408 S. gr. 8°.
Das Lenz sehe Werk hat bereits in einem früheren Jahrgang
des »Auslandes« eine sehr anerkennende Beurteilung erfahren. Es
ist erfreulich, von der für die Kenntnis gewisser Teile Afrikas
bahnbrechenden Leistung nunmehr eine zweite Auflage, und zwar
zu wesentlich herabgesetztem Preise, veranstaltet zu sehen; dass
es eine Textauflage ist, können wir nur billigen, denn wenn auch
nicht in Abrede gestellt werden kann, dass in den neun seit
Publikation der ersten Auflage vergangenen Jahren mancherlei
Neues auch bezüglich Nordwestafrikas bekannt wurde, so würde
durch Berücksichtigung dieser Aufschlüsse der Unmittelbarkeit
und Frische der Darstellung, welche bei einem Reisewerke doch
vor allem zu schätzen ist, Eintrag gethan worden sein. Der
erste Band behandelt des Verfassers Erlebnisse in Marokko und
im Atlas, der zweite den Durchzug durch die Wüste, den Auf
enthalt in dem halbmythischen Timbuktu, welches vor Dr. Lenz
nur vier Europäer — Imbert 1630 (und zwar unfreiwillig),
Laing 1826, Caill£ 1828, H. Barth 1853 — zu Gesichte
bekommen hatten, und die Reise nach den französischen An¬
siedelungen in Senegambien. Die lebendige Schreibart regt den
Leser allenthalben an, und der neuen Thatsachen sind natürlich
viele in den beiden Bänden enthalten, so insbesondere über die
Wüstenbildung und einzelne Modalitäten derselben: ihre Trocken-
thäler, merkwürdige Erosionsformen des Bodens und vor allem
über das von unserem Reisenden im Igidi Lande bemerkte Phä¬
nomen des »tönenden« Sandes.
The Exposition Graphic Chicago. A Quarterly Edition
of the Graphic, an Ulustrated Weekly Newspaper. Devoted
to the World’s Columbian Exposition printed in English, Ger¬
man, French and Spanish. Chicago U. S. A. The Graphic
Company. Deutsche Ausgabe. Jahrgang I, Nr. 1.
Die vorliegende erste Nummer einer überaus reich illu¬
strierten periodischen Schrift ist ganz dazu geeignet, Propaganda
zu machen für das grosse Jubiläumsfest, welches Amerika sich
soeben zu feiern anschickt. Die leitenden Personen, die gross¬
artigen Gebäude der Ausstellungsstadt treten in sehr guter Aus¬
führung vor uns, und der deutsche Text gibt die wünschens¬
werten Erläuterungen. Auch für diejenigen, welche in der an
genehmen Lage sind, Chicago besuchen zu können, wird diese
Ausstellungsschrift eine angenehme Erinnerungsgabe sein.
S. Günther.
Verlag der J. G. Cotta’sehen Buchhandlung Nachfolger
in Stuttgart.
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft ebendaselbst.
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DAS AUSLAND
Wochenschrift fiir Erd- und Völkerkunde
herausgegeben von
SIEGMUND GÜNTHER.
Jahrgang 65, Nr. 35.
jährlich 52 Nummern ä 16 Seiten in Quart. Preis pro
Quartal M. 7.— Zu beziehen durch die Buchhandlungen des
ln- und Auslandes und die Postämter.
Stuttgart, 27. August 1892.
Manuskripte und Rezensionsexemplare von Werken der
einschlägigen Litteratur sind direkt an Professor Dr.SIEGMUND
GÜNTHER in MUnchen, Akademiestrasse 5, zu senden.
Preis des Inserats auf dem Umschlag 20 Pf. für die gespaltene Zeile in Petit.
Inhalt: i. Der frühere Lauf des Amu-Darjd. (Nach den neuesten Forschungen von A. Konschin.) Von R. v. Erckert
(Berlin). S. 545. — 2. Die Kompass-Sage in Europa (Flavio Gioja), die ersten Erwähnungen desselben dortselbst und nationale
Ansprüche an seine Erfindung. Von A. Schück (Hamburg). S. 551. — 3. Die Strömungen in den Meeresstrassen. Ein Beitrag
zur Geschichte der Erdkunde. Von Emil Wisotzki (Stettin). (Fortsetzung.) S. 554. — 4. Geographische Mitteilungen. (Inseln
an der Küste Neu-Guineas; Die Schiffe des Columbus; Gletscherlawinen am Montblanc.) S. 558. — 5. Litteratur. (Schreiber;
J. P. van der Stok; Gerland; Altenburg-Müller; Kunz.) S. 559.
Der frühere Lauf des Amu-Darjä.
(Nach den neuesten Forschungen von A. Konschin.)
Von R. v. Erckert (Berlin).
I.
Die Frage nach dem früheren Lauf des Amu-
Darjd ist mehr oder weniger ebenso alt als die Kennt¬
nis von ihm selbst. Schon Herodot, also vor mehr
als 3000 Jahren, erwähnt, dass der Fluss bei seiner
Mündung sich in viele Arme spalte, unter denen
sich etwa vierzig in Sümpfen und Flächen verliefen,
während ein Arm sich in das Kaspische Meer er¬
goss. An den Delta-Sümpfen des Oxus wohnten
Leute, welche sich in Seehundsfelle kleideten und
Früchte assen, welche sie aus der Erde gruben.
Spätere römische Schriftsteller bestätigen mehr oder
weniger dasselbe. Interessant erscheint dabei das
historisch-geographische Faktum, dass nicht ein ein¬
ziger Schriftsteller in der Zeit vom ersten bis zehnten
Jahrhundert n. Chr. von einem selbständigen Aral-
Meer spricht.
In damaliger Zeit wurde das Kaspische Meer
dargestellt, nicht als sich von Nord nach Süd in
derselben Ausdehnung erstreckend, wie heute; son¬
dern in der Hauptrichtung von West nach Ost.
Der Amu-Darjä und Ssyr-Darjä mündeten nach da¬
maliger Anschauung in die äusserste östliche Hälfte
des Kaspischen Meeres, etwa dort, wo ihr Mündungs¬
gebiet noch heute liegt.
Unter dieser Form ging die Kenntnis von bei¬
den Flüssen ins Mittelalter über. Auf den Karten
der westeuropäischen Geographen war das Kaspische
Meer immer noch in seiner Hauptrichtung von W.
nach O. verzeichnet, sich bis zu dem heutigen Chiwa
erstreckend und die Fläche des heutigen Turk-
meniens überschwemmend. Von dem Aral-Meer
fehlte jede Nachricht.
Auiland 1892, Nr. 35.
Peter dem Grossen gebührt das Verdienst,
diesen geographischen Fehler verbessert zu haben.
Aus verschiedenen Quellen schöpfend, gab er kund,
dass das Aral-Meer ein durchaus selbständiges, ab¬
getrenntes und etwa 600 Werst östlich vom Kaspi¬
schen Meer entferntes sei, und dass der Amu- und
Ssyr-Darjä beide nicht in das Kaspische, sondern
in das Aral-Meer mündeten.
Mitteilungen verschiedener Art wurden aus jenen
Gegenden laut, welche besagten, dass in der Turk-
menen-Steppe ein alter westlicher Flusslauf zu er¬
kennen sei; dies fasste Peter der Grosse lebhaft
auf und trug sich mit dem Projekte, den Amu-
Darja wieder nach dem Kaspischen Meer zu leiten
und eine ununterbrocheneWasserverbindung zwischen
Russland und Mittelasien herzustellen.
Im vorigen Jahrhundert wurden alte arabische
Manuskripte aufgefunden, aus denen unter anderem
hervorging, dass zur Zeit der Unterwerfung Chiwas
durch die Araber, also zwischen dem neunten und
sechszehnten Jahrhundert, — arabische in Chiwa
lebende Schriftsteller übereinstimmend darauf hinge¬
wiesen hatten, dass der Amu-Darjä abwechselnd mit
einigen seiner Mündungsarme sich in das Kaspische
Meer ergösse. Diese Mitteilung findet sich bei den
Historikern Edrisi im 11., Istachri im 12., Mas-
sudi im 13., Albulfeda und Hamdulla im 14.
Jahrhundert — den sogenannten kaspischen Arm des
Amu-Darjä beschreibend, teilten sie mit, dass seine
Ufer reich und dicht bevölkert, gut angebaut und
die Ufergegenden mit vielen Ortschaften, Städten,
Gärten und Weingärten bedeckt wären, welche sich
bis in das Mündungsgebiet erstreckten.
Das Meer, in welches sich der erwähnte Flussarm
ergoss, nannten sie abwechselnd das Meer oder den
See von Chowaresm (Chiwa), oder von Masan-
deran, dem Namen der benachbarten persischen Pro¬
vinz entlehnt, gleich wie das Meer von Kaspien auch
69
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546
Der frühere Lauf des Amu-Darjä.
Meer von Baku hiess. Dieses Meer galt als nicht
bedeutend, von etwa nur ioo Parasangen im Um¬
fang; es lag sehr nahe bei Chiwa, etwa fünf Kamel-
Tagreisen oder 125 Werst entfernt. Bei Hochwasser
des Anru-Darja wurde das Meer dergestalt von Fluss¬
wasser angestaut, dass es aus den Ufern trat, die
Umgegend überschwemmte und Felder und Wein¬
gärten bedeckte.
Es ist indes bekannt, dass das Kaspische Meer
nicht fünf Tagereisen, sondern fünfundzwanzig von
der Mündung des Amu-Darja entfernt ist, d. h. etwa
700 Werst, und dass sein Umfang bedeutend grösser
ist als der oben angegebene. Der jene Gegenden
in neuer Zeit gründlich kennende, leider verstorbene
General Petrussdwitsch hat berechnet, dass, wenn
der Amu-Darja alle seine Wässer dem Kaspischen
Meere zuführen würde, dessen Oberfläche sich nicht
mehr als nur um einige wenige Centimeter erheben
würde. Die östlichen Ufergegenden sind vollständig
wüst und weisen nicht die geringsten Spuren von
Ortschaften und Kulturgegenden auf. Daraus folgt,
dass die arabischen Schriftsteller in ihren Aufzeich¬
nungen nicht das Kaspische Meer im Auge hatten,
sondern den Dshihon in ein anderes Meer münden
Hessen, welches viel näher an Chiwa lag und viel
kleiner war.
Veranlasst durch so verworrene historische Ueber-
lieferungen, tauchten zu Ende des vorigen Jahrhun¬
derts allerlei Anschauungen und Widersprüche über
den ehemaligen Lauf des Amu-Darja auf.
Einzelne Gelehrte in Westeuropa, und unter
ihnen in erster Linie Humboldt, nahmen an, dass
im Altertum der Amu-Darja sich in der Oase von
Chiwa in zwei Hauptarme geteilt habe, von denen
der eine in das Aral-, der andere in das Kaspische
Meer mündete; der kaspische Arm sei ausgetrocknet,
und der Fluss münde seit jener Zeit ausschliesslich
ins Aral-Meer.
Pallas dagegen, der gründliche Kenner der
Wüsten und Oeden des kaspischen Gebietes, be¬
zweifelte das Vorhandensein des früheren Mündungs¬
gebietes des Amu-Darja am Kaspischen Meer, und
gab der Ansicht den Vorzug, dass der Usboi, der
sogenannte alte Lauf des Flusses, der damaligen An¬
nahme zufolge, — nur der Rest eines früheren Armes
des Kaspischen Meeres sei, der sich als lange Bucht
in der Richtung nach dem Aral-Meer hin erstreckt
habe. Dshenkinson bestätigte diese Ansicht durch
die Auffindung eines Sees, fünf Tagereisen von
Kunja-urgentsch in westlicher Richtung entfernt.
Lange schwankten die Ansichten zwischen den er¬
wähnten Hypothesen, bis zu Ende der siebziger
Jahre unseres Jahrhunderts war aber nichts über den
geologischen Bau der erwähnten Gebiete bekannt.
Die Eroberung von Chiwa durch die Russen,
zu Anfang der siebziger Jahre dieses Jahrhunderts,
gab zuerst die Veranlassung zu gründlichen geologi¬
schen Untersuchungen des Gebietes des vermeint¬
lichen alten Flusslaufes des Amu-Darjä.
Die ersten sicheren Grundlagen für die Kennt¬
nis des geologischen Baues der Aralgebiete brachte
die »ssamarische« wissenschaftliche Kommission, an
deren Spitze der junge Grossfürst Nikolai Kon¬
stant nowitsch stand, und deren Resultate im
Jahre 1879 von russischen Geologen veröffentlicht
wurden.
Zu gleicher Zeit, und bald darauf wurden von
ausgezeichneten russischen Generalstabsoffizieren wert¬
volle Materialien über die Orographie jener Gegen¬
den gesammelt; besonders während der militärischen
Expeditionen von Morkosoff, Kaufmann, Loma-
kin, bei welcher Gelegenheit bedeutende Teile des
sogenannten Usboi vermessen wurden, hauptsächlich
in der Richtung von Chiwa nach Westen hin, zu
den Seen von Ssary-Kamysch (gelbes Schilfrohr), und
von den Ufern des Kaspischen Meeres zu den Brunnen
von Kurtysch. Im Jahre 1874 g a b e ^ ne kühne Re¬
kognoszierung des Topographen Dupandin diesen
Untersuchungen in der Richtung von Kurtysch nach
Ssary-Kamysch einen festen Abschluss.
Ein sicheres Nivellement des Kunja-Darja wurde
durch den General Petruss£witsch und den In¬
genieur Hellmann hergestellt, d. h. desjenigen
früheren westlichen Flussarmes, der zweifellos in
den östlichen Gegenden der Seen von Ssary-Kamysch
mündete. General Stebnitzky, gegenwärtig an
der Spitze der russischen Landesvermessung, gab zu
Ende der siebziger Jahre eine vollständige topo¬
graphische Karte des Usboi, von den Ufern des Amu-
Darja bis zum Kaspischen Meere heraus, d. h. in
einer Längenausdehnung von etwa 1000 Kilometern.
Durch diese Arbeiten schien der frühere Fluss¬
lauf des alten Oxus festgestellt zu sein, und alle
Zweifel beseitigt, dass er früher in das Kaspische
Meer bei Krasnowodsk (schönes oder rothes Wasser)
gemündet habe. Nur das schien noch unaufgeklärt
geblieben zu sein, ob das alte Bett für Schiffahrt
herzurichten und der Amu-Darja in dasselbe abzu¬
lenken sei.
Ein günstiger Erfolg schien so nahe zu liegen
für das eben so interessante als wichtige Problem:
Moskau mit dem Hindukusch in ununterbrochene
Wasserverbindung zu bringen, — dass die russische
Regierung sehr bedeutende Mittel hergab, um eine
grosse wissenschaftliche Expedition auszurüsten,welche
die allergenauesten topographischen Vermessungen
und Nivellements ausführen sollte.
Die Expedition wurde im Jahre 1880 unter
Führung des General Gluchowski ausgerüstet und
bestand aus acht Ingenieuren, einigen Topographen
und dem Geologen Graf Gedro'ic. — Die Arbeiten
begannen von Chiwa aus.
Der Ingenieur Konschin, im Jahre 1881 an
dem Bau der transkaspischen Bahn beteiligt, gewann
gleich beim Antritt seiner Arbeit nahe an den Ufern
des Kaspischen Meeres bei Mulla-Kary, im Bett des
Usboi-Aktam, einen interessanten Einblick in das
feuchte und grünende Thal des Usboi, welches von
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Der frühere Lauf des Amu-Darja.
547
grossen Schilfflächen bedeckt, von Wasserstreifen
unterbrochen und von steilen Ufern eingefasst war.
Hierdurch besonders angeregt, dehnte Kon sc hin seine
Untersuchungen sehr weit, ja selbst bis Chiwa aus.
Die Expedition von Gluchowski,im Jahre 1880,
stellte fest, dass es in der Oase von Chiwa zwei
ausgetrocknete Flussbetten des Amu-Darja gäbe, das
von Kunja-Darja und Daudan. — Beide Betten setzten
sich in westlicher Richtung mit massigem Gefälle
etwa 250 Werst weit fort, und fanden ihr Ende
am östlichen Ufer des Salzsees von Ssary-Kamysch.
Weiterhin verliert sich das Bett, und längs des Usboi
zieht sich eine zusammenhängende Erhebung von
etwa 80 m Höhe, etwa 200 Werst weit bis in die
Gegend von Bala-Ischem am Ustj-Urt hin. Hier
liegt die Wasserscheide zwischen dem Kaspischen
Meer und dem Kessel von Ssary-Kamysch. Der
alte sogenannte Flusslauf des Usboi zeigt sich deut¬
lich im Westen von Balla-Ischein in der Richtung
zum Kaspischen Meere.
In diesem Gelände wechseln die einzelnen
Teile des Bettes in dem Grade des Gefälles: teils
stark abfallend (ein englischer Fass auf eine Werst
Entfernung), teils ohne Gefälle, ja sogar mit an¬
steigendem Boden, wie z. B. zwischen den unteren
Igdis und dem Brunnen Burgun. Dies widerlegt
die frühere Annahme eines stetigen Gefälles von
Amu-Darja nach dem Kaspischen Meere hin.
Die topographischen Aufnahmen aus dem Jahre
1874 und zehn Jahre später wiesen ausserordent¬
liche Unterschiede auf; und schliesslich ergab sich,
dass ein altes ununterbrochenes Flussbett zum Kas¬
pischen Meere hin gar nicht vorhanden ist, sondern
dass dieses Meer vom unteren Amu-Darja durch
eine breite Erhebung getrennt ist, welche eine
Flächenausdehnung von etwa einem Drittel der Ober¬
fläche des Aral-Meeres hat.
II.
Die geologischen Untersuchungen von Gedro'ic
und Konschin ergaben, dass der ganze Kessel von
Ssary-Kamysch einen sehr lehrreichen Einblick in
das frühere, jetzt ausgetrocknete Delta des Amu-
Darja gewährt. Wenn man längs dieser Einsenkung
von Balla-Isch£m bis zu den Wässern von Ssary-
Kamysch fortschreitet, oder quer durch die Ein¬
senkung bei Tscharyschly vorbei, oder längs des
Hauptkarawanenweges von Kisil-Arwat bis Chiwa,
so muss man immer eine grosse Zahl von Becken
überschreiten, welche folgenden Charakter aufweisen:
Der Boden dieser Kessel von bläulich-grauer
Färbung ist bedeckt von einem zerbröckelnden,
grauen Lehm, der sich leicht zu Staub zerreibt, und
der, von vielen Pflanzenfasern durchzogen, mit
Blättern angefüllt ist und Stengel verbrannten Schilfes
enthält. Unter dieser wenig starken Lehmschicht
liegt Schilf-Torf von dunkelbrauner Farbe, unter
welchem abermals zerbröckelnder trockener Schlamm,
und darunter roter, fester, salzhaltiger, aralokas-
pischer Lehm, oder feste Sandstücke, Mergel und
kalkhaltige Gebilde der Tertiärzeit liegen. Die Ober¬
fläche der Becken ist von vielen kleinen Sandhügeln
oder Haufen von weisser Farbe bedeckt. In diesem
Sande, sowie in dem erwähnten grauen, zerbröckeln¬
den Lehm finden sich Molluskenreste verschiedener
Gattung.
Zwischen diesen Kesseln liegen, oft unmittel¬
bar an ihren Rändern, massive, lehmsandige, bis
100 m hohe Hügel vollständig anderen Charakters.
Sie bestehen aus festem, salzhaltigem Lehm röt¬
licher Farbe, dem aralokaspischen Typus ange¬
hörend, auf welchem schmutzig-gelber Sand aufliegt,
was einen charakteristischen Gegensatz zu den Be¬
standteilen der oben erwähnten Kessel bildet. Die
Abhänge der zwischen und an den Einsenkungen
sich erhebenden Hügel tragen den Charakter von
Unterwaschungen und sind von einer Schicht von
Schilf-Torf eingefasst, die mehrere Centimeter stark
ist. Augenscheinlich waren diese Hügel früher In¬
seln, und zwar die Reste des unterspülten Festlandes.
Die ganze Bildung zeigt deutlich, dass die Gegend von
Ssary-Kamysch das geologische Bild unzähliger frühe¬
rer, ausgetrockneter Seen und Sümpfe aufweist, in
welche sich ehedem von Osten her Arme des Amu-
Darja ergossen. Nur an einer einzigen tieferen Stelle
der grossen Einsenkung, und zwar nächst den Salzseen
von Ssary-Kamysch, liegt eine Reihe von Salzlacken,
die von gypsdurchsetztem und salzigem Sande be¬
deckt sind und eine grosse Menge von Mollusken¬
resten aus salzigem Wasser enthalten, wie sich solche
noch heute im Aral-See finden. Die Anwesen¬
heit solcher Muscheln auf dem Boden des Kessels
von Ssary-Kamysch zeigt deutlich, dass dieses Becken,
ungeachtet des früheren unausgesetzten Zuflusses
aus dem Amu-Darja, dennoch niemals vollständig
in einen Süsswassersee verwandelt worden war; es
stellt den Typus eines Sees mit nur wenig salzigem
Wasser dar, in welchem gemeinschaftlich sowohl
specifische Meeres - Organismen in der Tiefe, als
auch Strand- und Sumpf-Mollusken vorhanden waren,
welche letztere an den Rändern des Beckens sich
zeigen.
Aus alle diesem folgt, dass der Amu-Darja
früher von Osten her sich in das Becken von Ssary-
Kamysch ergoss und in dessen östlichem Teil ein
Delta von etwa 20000 Quadrat-Werst bildete.
Was den Usboi betrifft, so beginnt dessen Bett
erst bei Balla-Ischem, von wo an er bis zum Kaspi¬
schen Meer einen typischen geographischen Charakter
als ehemaliger Arm fliessenden Wassers bewahrt,
zum Teil nur von bedeutenden Kesseln unterbrochen.
Wir haben hier ohne Frage ein früheres Bett oder eine
Laufrinne fliessenden Gewässers und nicht die Reste
von Regenwasser, wie zum Teil behauptet worden
ist, vor uns, da überall Molluskenreste Vorkommen,
die denen des Kaspischen Meeres und des Kessels
von Ssary-Kamysch gemeinschaftlich sind und auf
ein reges früheres Leben deuten, welches im Usboi
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548
Der frühere Lauf des Amu-Darjä.
geherrscht hat, aber durch Regenwasser nicht her¬
vorgerufen werden konnte.
Der westliche Teil des Usboi zeigt steile, oft
fast senkrechte Ufer; sein Boden ist mit zahlreichen
Salzseen oder Salzsümpfen bedeckt; selten nur finden
sich niedrige Sandhügel von stahlgrauer Farbe oder
graugelber Lehm, und zwar um so seltener, je mehr
man sich von Osten her dem Kaspischen Meer
nähert. Die kaspischen Mollusken nehmen in der
Richtung nach dem Balchan-Gebirge immer mehr
an Zahl zu und verdrängen zuletzt vollständig auf
der Halbinsel Dardsch die Fauna von Ssary-Kamysch.
Das weite, im Durchschnitt etwa ioo Werst
breite Gebiet, welches sich zwischen dem Gebirge
von Balchan und dem Ufer des Kaspischen Meeres
erstreckt, ist von unzähligen Mollusken-Kolonien be¬
deckt, welche den kaspischen Typus aufweisen, so
wie überhaupt von solchen, welche im süssen Wasser
nicht leben können. Dies ganze Gebiet macht gegen¬
wärtig den Eindruck eines kolossalen Kirchhofes
oben erwähnter Organismen, welche, auf der Ober¬
fläche vorkommend, sich sogar ihren Spezialtypus
bewahrt haben, selbst bis in einer Höhe von 40—70 m
über dem Spiegel des Kaspischen Meeres.
Am Fusse des Balchan-Gebirges, 60 Werst vom
Meeresufer entfernt, ziehen sich in einer Ausdeh¬
nung von mehr als 100 Werst in einer Linie Meeres¬
uferwälle hin, welche vorherrschend Holzstücke und
Wurzeln, vermischt mit einer grossen Menge von
Resten der oben erwähnten Meeres-Organismen, ent¬
halten. Dieser lange Wall ist durch Auswerfen
und Brandung des Meeres entstanden. Der Gebirgs-
vorsprung, welcher sich nach Mulla-Karam hin er¬
streckt und vom grossen Balchan-Gebirge ausläuft,
trägt in einer Höhe von mehr als 40 Metern über
dem Wasserspiegel deutliche Spuren von Wellen¬
einfluss, welcher die vorspringenden Ecken des Ge¬
steins zu einer Art von Spitzengewebe gestaltet und
seine Höhlungen mit Meerwassermuscheln u. dgl.
gefüllt hat.
Die trichterartigen Spalten, welche sich an ver¬
schiedenen Punkten der Halbinsel Dardscha gebildet
haben, wie z. B. an dem Naphtha-Berg, in Mulla-
Karach, in Usur-Adä, erstrecken sich bis zu einer
Tiefe von 120 Metern, und weisen nirgends Ablage¬
rungen von Süss wasser auf: sie bilden ausschliess¬
lich nur Durchsetzungen von salzhaltigen Lehm¬
schichten mit rötlicher Farbe, die, vermischt mit Sand,
nur Meeresmuscheln enthalten. — Dagegen kommen
weder verkohlte Baumstämme, noch Schilf-Torf oder
Flusswasser-Muscheln vor; mit einem Wort nichts
was für ehemaliges Vorhandensein von Süsswasser
sprechen könnte, womit, im Gegensatz hierzu, die
Sümpfe und Seen von Ssary-Kamysch und das gegen¬
wärtige Delta des Amu-Darjä so reich angefüllt sind.
Es ist augenscheinlich, dass weder auf der Halbinsel
Dardscha, noch in der Umgegend des Balchan-Ge¬
birges, noch an den östlichen Ufergegenden des
Kaspischen Meeres ein Flussdelta bestanden hat; erst
in verhältnismässig neuerer Zeit hat hier das Meer
durch seine charakteristischen Ablagerungen dieses
Gebiet gebildet.
Die ausgeführten Nivellierungen und geologi¬
schen Untersuchungen dürften folgendes für die
Genesis des Usboi festgestellt haben:
1. Der niedere, dem Meere näher gelegene Teil
des Usboi, etwa ostwärts bis zum Meridian von
Igdy reichend, erscheint als der Rest eines ver¬
hältnismässig nicht sehr lange verschwundenen Busens
des Kaspischen Meeres, dessen ehemalige Konturen
sich wie ein Flussarm mit steilen Ufern darstellen.
Ein Flussdelta des Oxus hat hier niemals bestanden.
2. Der höher liegende, mehr östliche Teil des
Usboi, von Igdy bis Balla-Ischem am Ustj-Urt, er¬
scheint als ein zeitweiliger Abfluss der angeschwolle¬
nen halbsalzigen Gewässer des Aral-Ssary-Kamysch-
Kessels in den eben erwähnten ehemaligen Busen des
Kaspischen Meeres. Es muss dabei in Betracht ge¬
zogen werden, dass die Wasserscheide zwischen dem
Ssary-Kamysch-Becken und dem Kaspischen Meere
in einer gleichen absoluten Höhe liegt, wie die
Wasserscheide zwischen dem ersteren und dem Aral-
Meer, so dass beim Anfüllen mit Fluss wasser der
Ssary-Kamysch-Kessel sich in die Bucht von Aibugir
des Aral-Meeres ergiessen müsste. Im Usboi floss
Salzwasser, d. h. eine Mischung von Wasser des
Aral-Meeres, des Ssary-Kamysch-Beckens und des
Amu-Darjä.
3. Das ausgedehnte Ssary-Kamysch-Becken hat
seit allerfrühester Zeit den Amu-Darjä vom Kaspi¬
schen Meere getrennt und kein Süsswasser zum Kaspi¬
schen Meer gelangen lassen. Die Ablagerungen des
Flusses haben sich vollständig mit den Wässern von
Ssary-Kamysch gemischt. Die unbestreitbaren früheren
Arme des Oxus-Deltas, von denen die arabischen
Schriftsteller erzählen, lagen in der östlichen Hälfte
des Ssary-Kamysch-Beckens.
Unwillkürlich tritt die Frage heran, ob nicht
das Ssary-Kamysch-Becken für den Amu-Darjä als
derselbe Regulator gedient hat, wie dies gegenwärtig
von seiten des Genfer Sees für den Rhone, oder des
Bodensees für den Rhein der Fall ist. Diese beiden
Flüsse treten mit einer bedeutenderen Wassermenge
aus genannten Seen heraus, als sie ihnen zuführen.
In Bezug auf den Amu-Darjä kann also die Frage
aufgeworfen werden, ob nicht die nur an innerem
Gehalt veränderten Wasser des Amu-Darjä beim Aus¬
tritt aus dem Ssary-Kamysch-Becken in den oberen,
näher liegenden Teil des Usboi in derselben Stärke
erscheinen, in welcher der Fluss sich in das Becken
selbst ergoss. Wenn dies nicht der Fall gewesen
ist, so entsteht die Frage, ob nicht wenigstens der
obere Teil des Usboi diejenigen Arme des Flusses
darstellt, von denen gesagt worden ist, sie seien
bebaut und besiedelt gewesen, wie die arabischen
Schriftsteller es erzählen.
Beide Fragen aber müssen aus folgenden Grün¬
den verneint werden:
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Der frühere Lauf des Amu-Darja.
Das Bett des westlichen Teiles des Usboi, so
ausgedehnt es auch ist, könnte nicht einmal den
zehnten Teil etwa der Wassermenge aufnehmen,
welche heute noch der Amu-Darja mit sich führt.
Diese Wassermenge stellt dort, wo sie zwischen
flachen Ufern hinfliesst, ein grossartiges Bild dar:
sie besitzt eine Breite von 2—3, und selbst von 5 km,
und könnte etwa mit dem Mississippi verglichen
werden. Dort aber, wo der Amu-Darja zwischen
hohen Lehmufern hinfliesst, wie z. B. zwischen Ka-
bachty und Pisnjak, hat er eine Breite von 1 bis zu
1 1 1 * km. Dagegen beträgt die Breite des Bettes des
Usboi zwischen dessen lehmigen Ufern nicht mehr
als etwa 200 m. Aehnliche Unterschiede treten auch
dort auf, wo der Amu-Darja sich sein Bett zwischen
Felsbildungen gegraben hat. So hat der Fluss z. B.
da, wo er zwischen senkrechten Kalkfelsen sarmati-
scher Bildung bei Dej-Bojun eingeengt ist, nur eine
Breite von 200—600 m. Zwischen diesen Felsen
stürzt und schäumt er brausend in einer Wassertiefe
von 20 m dahin. Dagegen hat der Usboi zwischen
Akkila und Igdy in derselben Kalkformation nicht
mehr als 50 m Breite, bei einer Einsenkung von
4—6 m.
Der Usboi konnte mithin, selbst im günstigsten
Falle, nur einer der Delta-Arme des Amu-Darja ge¬
wesen sein, niemals aber sein ausschliessliches Bett.
Gegen letztere Annahme spricht ausser dem
oben Erwähnten aber noch ganz besonders, dass die
Reste von Behausungen und Ortschaften aus früherer
Zeit, die längs des Usboi bestanden, durchaus nicht
den Charakter einer reichen Kultur und Umgebung,
einer entwickelten künstlichen Bewässerung zeigen,
von denen die arabischen Historiker berichten. Fälsch¬
licherweise ist ein altes, turmartiges Bauwerk bei
Talaichan-ata als dauernde Wohnstätte früherer Zeit
angesehen worden. Es ist dies aber nichts anderes
als ein Karawan-Ssarai, errichtet für Reisende, da
dieses Bauwerk unmittelbar an dem Karawanenwege
liegt, der von Kisil-Arwat nach Chiwa führt. Ein
ganz analoger Bau findet sich, etwa 100 km entfernt,
bei Daschkala, weit ab vom Usboi gelegen. Ebenso
unrichtigerweise glaubte man Spuren einer alten Irri¬
gation gefunden zu haben.
Eine wirkliche alte kulturelle Bewässerung
bietet aber ein ganz anderes Bild, als das hier vor¬
handene. Selbst ganz abgesehen von solchen gross¬
artigen und ausgedehnten Bewässerungsanlagen, wie in
Buchara, Chiwa und überhaupt am Amu-Darja, weisen
selbst die Trümmer des fabelhaften Ortes Mesched-
Mestorian, an dem wüsten Ufer des Kaspischen
Meeres, 50 km vom Atr£k entfernt, ein ganz anderes
Bild auf, als jene vermeintlichen Spuren von Wasser¬
anlagen, wie man sie am Usboi zu finden geglaubt
hat. Das Alter dieses Ortes wird etwa bis ins
10. Jahrhundert zurückgeführt. Man gewahrt hier
deutlich ein ganzes Netz von früheren künstlichen
Wasserläufen und massenhafte Häuserruinen und ver¬
fallene Moscheen und Minarets, deren Umgebung
Ausland 189a, Nr. 35.
549
den Wasserbedarf von Atr£k her in einer Entfernung
von, wie gesagt, fast 50 km erhielt.
Wenn nun längs des Usboi sich weder die
Muscheln finden, welche im Amu-Darja Vorkommen,
noch übereinstimmende Ablagerungen, noch Spuren
einer ausgedehnten Irrigation, so beweist dies, dass
der westliche Arm des Usboi, der im Sande verläuft, nie¬
mals das Bett, weder das einzige, noch ein partielles
des Amu-Darja gewesen sein kann, der sich ins Kaspi¬
sche Meer ergossen und ausgedehnten Anbau besessen
haben soll. Als solcher Arm hat aber der Kunja-
Darjä gedient, der bei den Seen von Ssary-Kamysch
seinen Abschluss findet. Dieses alte Flussbett ist über
300 km lang und weist längs seiner Erstreckung
zahlreiche Spuren einer früheren ausgedehnten Be¬
rieselung auf, worauf viele Dämme und Kanäle
deuten, sowie Trümmer von Städten und anderen
Ortschaften, von Gärten und Weinbergen, die eine
ausgedehnte Fläche bedecken.
Die Irrigation am Kunja-Darja reichte bis zu
seiner Mündung, ja sogar bis zum Boden des Beckens
von Ssary-Kamysch, so dass, wenn sich überströmendes
Wasser aus dem Kunja-Darja in dieses Becken ergoss,
die umliegenden Anlagen dadurch überschwemmt
worden sein mussten.
Somit erscheint die Angabe von Ham du 11 a,
dass der Spiegel des Kaspischen Meeres sich durch
überströmendes Wasser des Amu-Darja häufig erhob
und dass die umliegenden Anlagen dann über¬
schwemmt wurden, als eine völlig richtige und er¬
klärliche; nur mit dem Unterschiede, dass jener
Schriftsteller den Kessel von Ssary-Kamysch mit dem
Kaspischen Meer verwechselt hat.
Die vielen Schwellen, Abstürze, die Enge und
die schroffen Mündungen des Usboi konnten trotz
Wasserfüllung niemals eine Schiffahrt möglich ge¬
macht haben. Gleiches gilt für die Seen von Ssary-
Kamysch.
III.
Verbreitete, oft von neuem angeregte und der
Phantasie neue Nahrung gebende Anschauungen sind
meist nicht leicht zu berichtigen oder gar zu wider¬
legen; immer wieder tauchen sie auf, sobald sie
durch irgend etwas Ideelles oder Reelles neue Nah¬
rung zu finden glauben.
Dasselbe ist der Fall in Bezug auf die Frage
über den vermeintlichen früheren Lauf des Amu-
Darja und, damit zusammenhängend, über den Punkt
seines gegenwärtigen Laufes, wo eine Ablenkung
nach links stattgefunden haben sollte; wobei nament¬
lich Tschardschui genannt wird, um das Umgehen
des Kessels von Ssary-Kamysch zu veranschaulichen.
Die Turkmenen verstehen unter dem Namen
Tschardschui-Darja eine lange Reihe von Ver¬
tiefungen, welche sich fast in der Mitte der Wüste Kara-
Kum (schwarzer Sand) von Tschardschui nach dem
Usboi hin erstrecken, und dies gab die Veranlassung,
anzunehmen, dass man es hier mit einem alten Fluss¬
bett des Amu-Darja zu thun habe, welcher von
70
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550
Der frühere Lauf des Amu Darjd.
Regetek oder Kalif aus, nahe am Amu-Darjd ge¬
legen, in westlicher Richtung bei Bala-Isch£m in
den unteren Teil des Usboi und somit ins Kaspische
Meer gemündet haben sollte. Hierzu muss in erster
Linie bemerkt werden, dass die Turkmenen über¬
haupt jede tiefere und grössere Einsenkung der
Steppe, welche feuchten oder nassen Boden aufweist,
Darja oder Schor nennen; und ferner, dass solche
Einsenkungen, in welchen Muscheln Vorkommen,
nicht eher als Reste eines süssen Wassers angesehen
werden dürfen, ehe nicht festgestellt ist, ob diese
Muscheln dem süssen oder Meerwasser angehören.
Im Jahre 1885 unternahmen die Herren Kon-
schin und Lessar eine Forschungsreise längs des
sog. Tschardschui-Darjä, um Näheres über ihn fest¬
zustellen. Es erwies sich, dass in diesem vermeint¬
lichen alten Flussbett nicht allein jede Spur eines
Flusslaufes fehlte, sondern auch jede Spur von
Schlammablagerungen, Süsswassermuscheln, verkohl¬
ten Baumstämmen, Schilf-, Torfkultur und Kanali¬
sation, sowie von chemischer und mechanischer
Thätigkeit des Flusswassers.
In der Richtung von Balla-Isch£m am Ustj-Urt
nach Mirsa-Tschill£ fand man eine Reihe einzelner,
tiefer Kessel, von hohen, festen Ufern eingefasst,
und keine Unterspülung aufweisend, Ufer, welche
aus Kalk- oder Sandbildungen bestehen und der
Tertiärformation angehören. Dabei herrscht die
Eigentümlichkeit, dass die nordöstlichen Ränder dieser
Vertiefungen steil abfallen und eine Höhe Von 50 bis
60 m erreichen, während die südwestlichen niedriger
und mit beweglichen Sandhügeln von schmutzig¬
gelber Farbe bedeckt sind, in einer Form, wie sie
die ganze westliche Hälfte der Turkmenen wüste
zeigt. Das Nichtvorhandensein eines früheren Fluss¬
laufes fand ausserdem noch dadurch eine charakte¬
ristische Bestätigung, dass das im Jahre 1884 aus¬
geführte Nivellement und spätere geologische Unter¬
suchungen des Bergingenieurs Obrutscheff
entschieden zu demselben Resultat geführt hatten.
Als nun auch diese Hypothese fallen musste,
suchten deren Anhänger nach neuen Spuren eines
alten Flusslaufes und glaubten, sie weiter oberhalb
von Kalif aus, über Merw nach As-'chabad hin ge¬
funden zu haben, von wo dieselben längs des Nord-
fusses des transkaspischen Gebirges in der Oase von
Achal-Tekd und am Balchan-Gebirge nach dem un¬
teren Usboi weiter geführt wurden, wobei der Mur¬
ghab und Tedsh£n von Süden her als frühere Neben¬
flüsse auftraten.
Ohne auf diese haltlosen Hypothesen näher ein¬
zugehen, mag hier nur kurz erwähnt werden, welche
fatsche Auffassungen von lokalen Bezeichnungen vor¬
gekommen sind, um durch diese die Ansichten über
ein altes Flussbett zu unterstützen.
So wurden die Bezeichnungen »Schor« und
»Tschink« als unbestreitbare Zeugen dafür ins Feld
geführt, dass die ganze Wüste von Kara-Kum mit
fruchtbarem Löss bedeckt sei, dem Reste eines
früheren Flusslaufes, und dass sie ein weites, äusserst
fruchtbares, zur Besiedelung fähiges und für Irrigation
brauchbares Gebiet darstellen. Nun bedeutet aber
die Bezeichnung »Schor« nichts anderes in der ein¬
heimischen Sprache als »Salzlake«! »Tschink« aber
nichts anderes als »steiler Abhang«. Worauf deutet
nun das Vorhandensein von Salzlaken? Auf süsses
oder salziges Wasser?
Diese steilen Abhänge oder Abstürze in dem
genannten Gebiete sind eben nichts anderes als das
Residuum von Meereswellen, und die Salzlaken das
Resultat chemischer und mechanischer Einwirkung
des Meerwassers, wie immer an ausgedehnten Meeres¬
becken. Freilich ist dabei nicht ausgeschlossen, dass
auch Flusswasser, salzhaltigen Grund unterspülend,
nach Ueberschwemmungen Salzablagerungen zurück¬
lassen kann; aber dann sind die daraus hervorgehen¬
den Terrainbildungen doch von wesentlich anderem
Charakter, da die ursprünglichen Ufer der Salzseen
in fliessenden Gewässern immer dann an zwei Punkten,
in der Richtung des Wasserlaufes liegend, durch¬
brochen und nur selten mit Sand bedeckt sind, wäh¬
rend bei Meeresbildungen dies niemals für die alten
Ufer vorkommt. Ebenso zeigen sich bei Meerwasser¬
bildungen Gipsablagerungen sowohl auf dem Boden,
als an den Uferrändern; wobei Gips als Produkt der
Verdunstung des Meerwassers auftritt, welches Salz
im Ueberfluss enthält. Flusswasser hingegen ent¬
hält fast nie kohlensauren Kalk in grösserer Menge.
Es muss nun untersucht werden, was die oben
genannten Schors und Tschinks eigentlich sind, und
ob ihre Muschelreste süssem oder Meerwasser an¬
gehören. Somit gestaltet sich die Frage über den
vermeintlichen früheren Lauf des Amu-Darjd wesent¬
lich zu einer solchen über die Bodenverhältnisse jener
Gebiete und speciell der Kara-Kum-Wüste.
Barbot de Marni sagt über die Ablagerungen
im Delta des Amu-Darjä folgendes: Welchem seiner
Arme man auch folgen möge, überall steigt aus dem
Wasser grauer, zerbröckelnder, sehr poröser Lehm
hervor, welcher von einer Menge von Pflanzenfasern
durchsetzt ist. Dieser Lehm zerreibt sich leicht zu
einem äusserst feinen, staubartigen Pulver. Auf diesem
Lehm wächst in grosser Menge Rohr und verschie¬
denes Gesträuch, welches beim Austrocknen Torf
bildet; in diesem Lehm finden sich nicht selten die¬
selben Muschelarten wie im Amu-Darjd. Die »Bar-
chane« genannten Sandhügel, mit Lehmstaub ge¬
mischt, sind die Produkte des durch die Luft aus¬
getrockneten Lehms, und wegen ihrer weissen oder
stahlgrauen Farbe werden sie von den Eingeborenen
Ak-Kum (weisser Sand) genannt.
Der ausgezeichnete russische Geologe Musch-
k£toff, der den mittleren Lauf des Amu-Darjd
in einer Ausdehnung von über 1000 Werst unter¬
sucht hat, bestätigt gleichfalls das Vorhandensein
von zerbröckelndem, grauem, staubartigem Schlamm,
mit Schichten von Schilftorf und verkohlten Stengeln
von Gesträuch durchsetzt, aus welchem der Einfluss
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Die Kompass-Sage in Europa (Flavio Gioja), die ersten Erwähnungen desselben dortselbst u. s. w.
S5 1
der trockenen Winde eine grosse Anzahl von hügel¬
artigen , stahlgrau gefärbten Erhebungen gebildet
hat. Die typischen Meeresablagerungen, welche
massenhaft am Ufer des Kaspischen Meeres Vor¬
kommen, weisen nun einen roten, festen Lehm,
durchsetzt von Schichten eisenhaltigen braunen oder
grauen Sandes, auf, und zwar kommt der rote
Lehm, durchsättigt von Salz und Gips, gewöhnlich
in Süsswasserablagerungen nicht vor; er hat sich
ausserdem sowohl in seiner ursprünglichen Form als
auch da, wo er ausgespült und nachher durch die
Luft getrocknet ward, dergestalt verfestigt, dass das
Aufschlagen von Pferdehufeisen zwar einen klingen¬
den Ton, aber weder Staub noch Spuren hervorbringt.
In diesem roten Lehm kommen niemals ver¬
kohlte Holzreste oder Schilftorfschichten vor; der
Einfluss der trockenen Winde auf ihn und eisen¬
haltigen Sand erzeugt die bei den Russen als Bar-
chane bekannten hügelartigen Erhebungen in der
Wüste, von schmutzig-gelber Farbe, und von den
Eingeborenen Kara-Kum oder Kisil-Kum genannt.
Hätte nun der Amu-Darja dieses Gebiet der
Kara-Kums durchflossen, so müsste es von zer¬
bröckelndem grauem Schlamm und von grauen oder
weiss-sandigen Barchanen bedeckt sein, d. h. von
sog. Ak-Kums, in denen wir Torfschichten und
verkohlte Vegetationsreste finden müssten. In der
That aber sehen wir, dass die ganze Oberfläche des
mittleren Teiles der Wüste von hügelförmigen
Erhebungen schmutzig-gelben Sandes, d. h. von
Kara-Kums, bedeckt ist, woher der Name dieser
Wüste stammt. Ueberall da, wo die Grundformation
des Bodens zu Tage tritt, besteht sie aus rotem Lehm.
Nicht ein einziger Reisender, der den mittleren
Teil der Wüste besucht hat, hat entweder ein Stück
zerbröckelnden Schlammes oder aber Süsswasser¬
muscheln und Schilftorf von dort mitgebracht. Auf
den mannigfachen Pfadrichtungen, welche die Wüste
netzartig durchziehen, gewahrt man nirgends eine
Spur von Irrigation oder menschlicher Kultur, diesen
unbedingten Begleitern des Vorhandenseins von
süssem Wasser in Mittelasien. Wenn also in den
Kara-Kums keine typischen Ablagerungen von Fluss¬
wasser Vorkommen, wie kann da die Rede sein von
einem ehemaligen Flussbette, zumal von solcher
Mächtigkeit, wie der alte Oxus sie aufgewiesen
haben soll.
Besser ist es, eine Illusion zu verlieren und sich
der Wahrheit langsam zu nähern, als phantasievoll
einem Trugbilde nachzujagen.
Die Kompass-Sage in Europa (Flavio Gioja),
die ersten Erwähnungen desselben dortselbst
und nationale Ansprüche an seine Erfindung.
Von A. Schück (Hamburg).
In manchen Büchern mag man noch die An¬
gabe finden, Flavio Gioja habe in Amalfi um das
Jahr 1300 n. Chr. den Kompass erfunden; hiermit
verbindet man leicht die Vorstellung, er habe zu¬
nächst die Richtkraft der Magnetnadel entdeckt, dann
alles übrige hinzugefügt. Dies wäre durchaus falsch
(s. A. Breusing, Flavio Gioja und der Schiffs¬
kompass; Ztsclir. d. Ges. f. Erdk., Berlin 1869),
diese Richtkraft und ihre Benutzung für die Seefahrt
war in Europa gewiss mehr als 100 Jahre früher
bekannt; die Herren, welche sich mit der Sache be¬
schäftigt haben, wissen, dass in neuerer Zeit beson¬
ders A. v. Humboldt (-Kosmos II) dies in Erinne¬
rung brachte.
Die Annahme, im südlichen Teil Italiens sei in
der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts nicht allein
die Thatsache entdeckt worden, dass der Magnet¬
stein zwei Pole habe, die er nach den Weltpolen
richtet, sondern dass er diese Polarität mitteile an
Eisen oder Stahl, dass mit Magnetstein bestrichene
Nadeln (Stahlstäbchen, Stäbchen gehärteten Eisens)
infolge dessen sich der Nord-Südlinie nahe parallel
stellen: diese Annahme scheint erst ausgesprochen
zu sein, als schon die Erfindung des Kompasses
durch Flavio Gioja bestritten wurde, zu einer Zeit,
als vielleicht schon bekannt war eines der ersten
Schriftstücke, in welchem die Benutzung der Bussole
durch europäische Seefahrer genannt wird. Wille-
brordus Snellius im »Tiphys Batavus, sive Histio-
dromice, De navium cursibus et re navali« (Leyden
1624) schreibt: jene Entdeckung geschah »in Cam-
panien, sei es durch Zufall, sei es durch Studium,
vor kaum 400 Jahren«. Die Quelle, aus der er diese
Angabe schöpft, nennt er nicht; möglicherweise
gründet er seine Ansicht auf den Brief Pierre de
Maricourts vom Jahre 1269, welcher die erste bis
jetzt bekannte eingehende Beschreibung einer Bussole
enthält, den er dabei verbindet mit der dem Anto¬
nius Beccatelli (ßononius, Panormita) zuge¬
schriebenen Angabe »Primum dedit nautis usum
magnetis Amalphis (zuerst gab den Seefahrern den
Nutzen des Magneten Amalfi)«, und mit der Flavio
Biondos »Man sage« u. s. w. In Bezug auf die
Flavio Gioja-Sage ist nur die letztere von grösserer
Bedeutung; noch neuerdings hat Direktor Dr. A.
Breusing in »Die nautischen Instrumente bis zur
Erfindung des Spiegelsextanten« darauf hingewiesen,
dass er nicht im stände war, sich über den Verfasser
jenes Verses Aufklärung zu verschaffen, auch R. H.
Major in seinem Werke über Prinz Heinrich von
Portugal, genannt der Seefahrtskundige, in den Ge¬
dichten des Antonio Beccatelli jene Strophe nicht
finden konnte; jedenfalls sollen diese beiden Angaben
die ältesten sein, die Amalfi als Ort der Erfindung
nennen.
Der Rechtsgelehrte, juristische Schriftsteller,
Dichter und Verfasser einer der unzüchtigsten Ar¬
beiten, Antonius Beccatelli, lebte von 1393 bis
1471 im Königreich Neapel und Sicilien; Flavio
Biondo von 1388—1463, er war längere Zeit in
Venedig, dann in Rom päpstlicher Sekretär; er schrieb
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55 2
Die Kompass-Sage in Europa (Flavio Gioja), die ersten Erwähnungen desselben dortselbst u. s. w.
die »Italia illustrata« 1449—1451 bzw. 1453; in letz¬
terem Jahre mag die vollendete Arbeit veröffentlicht
sein; 1474 besorgte sein Sohn Gasparo die erste
Ausgabe seiner Werke in Rom; die Baseler Aus¬
gabe, 1559, soll die verbreitetste sein (Alfred Ma-
sius: Flavio Biondo; Inaugural-Dissertation, Leipzig
1879); ich übersetze aus der vom Jahre 1474; dort
heisst es Regio XIII Campania: »Aber es geht die
Sage, mit der wir die Amalfitaner rühmen hören,
der Nutzen des Magneten, durch dessen Anwendung
die Schiffsführer nach Norden gewiesen werden (d. h.
den Schiffsführern stets Norden oder die Nord-Süd-
richtung ersichtlich ist) sei zu Amalfi entdeckt wor¬
den; daran mag etwas Wahres sein; es ist sicher,
dieses Hilfsmittel, bei Nacht sich auf dem Meere
zurechtzufinden, war in alten Zeiten gänzlich un¬
bekannt«.
Wallis 1702 und Breusing 1869 haben dar¬
auf hingewiesen, dass Nutzen oder Gebrauch in
diesem Falle nicht im allgemeinen, sondern mit be¬
sonderer Beziehung auf die Schiffsführung zu ver¬
stehen ist; so zwar, dass verschiedene bisher vor¬
handene, brauchbare Teile des Kompasses durch
besondere Verbindung zu einem Ganzen, diesem erst
die Gestalt gaben, welche es zu einem unter allen
Umständen zur Schiffsführung brauchbaren Instru¬
ment machten, während es bis dahin ein sehr un¬
vollkommenes war. Wenn auch der älteste Hinweis
auf Amalfi als Ort der Erfindung nur als Sage, Ge¬
rücht »fama est« gegeben ist, so ist doch zu be¬
achten, dass Guglielmo da Puglia, ein Schrift¬
steller des 11. Jahrhunderts, von dieser Stadt u. a.
spricht, als ganz besonders erfahren in Bezug auf
die Wege des Meeres und der Gestirne des Himmels
(Girolamo Tiraboschi, Storia della Letteratura
Italiana, nuova ed. S. 199, Firenze 1806); ebenso
erwähnen Breusing (Ztschr. d. Ges. f. Erdk., Berlin
1869) und Theob. Fischer (Sammlung mittel¬
alterlicher Welt- und Seekarten italienischen Ur¬
sprungs etc., Venedig 1886), dass Amalfi schon um
800 n. Chr. ausgedehnte Seefahrt trieb, die Italiener
überhaupt bis zur Zeit Heinrichs, genannt der See¬
fahrtskundige, als die wichtigste der Seefahrt treiben¬
den Nationen zu betrachten sind. Hieraus ergibt
sich die Wahrscheinlichkeit, dass Italien, besonders
Süditalien und Amalfi, wenigstens ebenso früh als
andere Länder und Orte Europas die Richtkraft des
Magneten, wegen grösserer Schiffszahl aber in grös¬
serem Maasse und zweckmässiger verwendeten (Gil¬
bert in De magnete, 1600: »Dennoch will ich den
Amalfitanern die grosse Ehre nicht rauben, dass sie
[die Magnetnadel] von ihnen im Mittelmeer zuerst
in grosser Anzahl angefertigt sei«).
Während im Jahre 1453 bzw. 1474 einem be¬
stimmten Orte der Ruf der Erfindung des Kompasses
zugebilligt wird, sagt 1499 Polydor Vergilius in
»De rerum inventoribus« (Ausgaben 1509 bis 1614),
Fol. LXI, Kap. XVIII (Quod multa quum vetera
tum nova inventa sunt, quorum auctores ignorant),
auch vorher Fol. XXVII, Kap. V. (Quis horas pri-
mum ordinaverit aut Horologia diversi generis in-
venerit): »Aber nach meinem Dafürhalten war es
bewunderungswürdiger (als andere nützliche Ein¬
richtungen), den Kompass zu erfinden, nach welchem
die Seefahrer die Schiffsführung jetzt auf geschickteste
Weise betreiben. Wer ihn erfunden hat, ist aber
gänzlich unbekannt.«
Von 1540 an fand ich, aber nicht immer, einen
Erfinder genannt, zuerst in des Lilius Gregorius
Grimaldus »De re nautica libellus« (Basel 1540,
S. 61): »Man berichtet, dass vor noch nicht vielen Jahr¬
hunderten in Amalfi, einer Stadt Campanias, durch einen
gewissen Flavius erdacht ist der den Alten unbe¬
kannte Gebrauch der Schiffsführung mittelst Magnet
(Magnetstein) und Stahl, nach deren Angabe die
Seefahrer die Nordrichtung erkennen (ad polos diri-
guntur); die Vorrichtung wird jetzt gewöhnlich ge¬
nannt der Kompass (wörtlich: ,die Dose [Büchse]
der Seefahrer") oder die Dose (das Büchslein) des
Magneten u. s. w.« Dies ist offenbar nicht nach
Quellenstudium, sondern nach Hörensagen geschrie¬
ben, und aus einem Berichterstatter ist der Erfinder
geworden. Auf diese Verwechselung wies bereits
hin Martinus Lipenius in »Navigatio Salomonis
Ophiritica« (Wittenberg 1660, S. 395 u. w. § 3):
»Obwohl Petrus Bellonius (f 1564), 1 . II Sin-
gularium et Memorabilium observationum, Kap. XVI,
einen anderen Namen des Erfinders vorzieht, indem
er sagt: ,Wir wissen, dass der, welcher zuerst den
Nutzen dieses Steines ausfand, Flavius war", und
obgleich, ebenso wie Bellonius, Thomas Bozius
(f 1610), 1 . XX de signis Ecclesia, Kap. VI, p. m. 329,
ferner Salmuth ad Panciroll., p. m. 562, es sagen,
ziehe ich doch den Namen Go ja dem Flavius vor.
Denn jene geehrten Herren verwechseln die Namen
des Erfinders und Berichterstatters. Flavius war
nicht der Erfinder, sondern der Berichterstatter
(Scriptor). Athan. Kircher gibt andere an, die
ihn Gira nennen, denen er selbst sich anschliesst.
T/dTcot; arctöv ist, dass Barthol. Keckermann im
Commentarium Nauticum, p. specialis, probl. VII
den Flavius einen gewissen Melphi nennt, der in
der Provinz Campanien des Königreiches Neapel
wohnte; denn er verändert den Namen des Ortes
in den des Mannes (ausserdem gibt er den Namen
des Ortes nicht richtig an).« — Von Georgius
Paschius in »Inventa Nova-Antiqua« (Lipsiae 1700,
S. 773—74) ist auf diese Angabe der Verwechselung
des Lipenius als von den bekannten »Anderen«,
Bezug genommen.
Francisco Lopez di Gomara (La Historia
General de las Indias, Antwerpen 1554) geht noch
weiter, Bl. 10: »Der erste, so schreiben Biondo
und Malpheo Girardo, welcher den Schiffskom¬
pass (wörtlich: die Seefahrtsnadel, aguja de marear)
benutzte, war Flavio de Malpha (obwohl dies auf
Melphi bezogen werden könnte, ist sicher Amalfi
gemeint), Stadt im Königreich Neapel, womit diese
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Die Kompass-Sage in Europa (Flavio Gioja), die ersten Erwähnungen desselben dortselbst u. s. w.
553
noch jetzt sich rühmt u. s. w.« Das Werk des
M. Girardo habe ich noch nicht erhalten können,
ebensowenig die von Laevinus Lemnius in De
»Miraculis occultisnaturae« (Antwerpen 158i)citierten
Kommentare zu Vitruvius von Philander, ich
weiss also nicht, ob letztere beide unabhängige
Quellen oder auch nur Berichte nach den bzw. Ab¬
änderungen der Angaben des Antonio Beccatelli
oder des Flavio Biondo sind. Nach diesen berichtet
wohl F. Leander Alberti aus Bologna in seiner
»Descrittione di tutta Italia«, Venetia 1561 (die Wid¬
mung an Heinrich II. von Frankreich und an seine
Gemahlin Katharina, datiert 1550, Jan. 19; eine
Anrede an F. L. Alb. von Antonius Flamenius
über dieses Werk, datiert schon 1537), Bl. 195 r.:
»Genannte Amalfitaner waren die ersten, welche die
Kunst erfanden, das Meer zu befahren mit Hilfe des
Magneten und nach ihm zu steuern, sowohl bei Tage
als bei Nacht. Sicherlich war dies eine sehr gute
Erfindung, sei sie von ihnen oder von anderen.« —
William Barlowe in »The navigators supply« (Lon¬
don 1597) schreibt derb genug: »Die hinkende Fabel
(lame tale), dass ein Flavius in Amalfi, Königreich
Neapel, ihn erfand, hat sehr wenig für sich.« —
Gilbert sagt 1600, es scheine, Marco Polo habe
den Kompass aus China nach Italien gebracht (er
war aber schon vorher in Europa bekannt).
Das Jahr der Erfindung mag zuerst angedeutet
sein von Joannes Lerius in der »Historia navigationis
in Brasiliam« (Basel 1586, S. 8): »Einige berichten,
es sei vor 250 Jahren in Gebrauch gewesen«; dies
ist wahrscheinlich von 1555 gerechnet, dem Jahre,
in welchem die Historia geschrieben ist. Es ist
nicht unmöglich, dass man damals die Er¬
wähnung des Magneten durch Dante in der
um das Jahr 1300 gefertigten Divina comedia als
die älteste betrachtete, »che l’ago a la stella
parer mi fece«.
Den Namen Goia als den des Erfinders und
1300 als Jahr der Erfindung traf ich zuerst in Wilhelm
Gilberts Werk »De Magnete etc.« (London 1600,
S. 3); im selben Satze und unmittelbar vorher ist
zwar auch auf den Ausspruch des Flavio Biondo
Bezug genommen, doch will ich nicht behaupten,
dass der Satz die Meinung ausspricht, dieser Schrift¬
steller habe Johannes (nicht Flavio) Gioia oder
Gira als den Erfinder bezeichnet; andererseits ist
kein Anhalt, wo Gilbert diesen Namen gefunden
hat. (»Im Königreich Neapel sollen zuerst die Melfi-
taner den Kompass in Gebrauch zu nehmen gezeigt
haben, wie Flavius Blondus für die Melfitaner
nicht genug zu rühmen erwähnt, von einem ge¬
wissen gelehrten Bürger Johannes Goia im Jahre
n. Chr. 1300.«) — In Paul Merulas »Cosmo-
graphia generalis«, Amsterdam 1621 (1. Ausg. 1605?)
wird S. 115 der Erfinder noch genannt Flavius
Melfius Neapolitanus (s. Lopez di Gomara)
und S. 913 heisst es: »Blondus libro Historiarum XV
bezeugt, die Amalfitaner seien grosse Kaufleute ge¬
wesen u. s. w.«; dies veranlasste mich, die fünfte
der zweiten Dekade von Historiarum ab inclinato
Romae imperio nach einem Joannes Gioia durch¬
zusuchen, aber weder dort noch in dem Index der
Werke fand ich diesen Namen.
Zwischen 1550 und 1600 ist die Frage: »wer
war der Erfinder des Kompasses?« wahrscheinlich
schon eine Art wissenschaftlicher Streitfrage gewesen,
auch ist bereits für (Philander) und gegen (Tur¬
nebus) die Uebersetzung des Wortes versoria als
Magnetnadel oder Schoot geschrieben (in Plautus,
Mercator u. a., ungefähr 100 v. Chr.). Noch Four-
nier (Hydrographie, Paris 1643) tritt energisch da¬
für ein, dass Plautus den Kompass gemeint habe;
er sagt: er wisse wohl, dass es Leute gäbe, die
unter jenem Wort ein Tau, selbst das (Steuer-) Ruder
verstehen, behauptet jedoch, »wenn wir gegenwärtig
eine Windrose (er meint die Kompassrose) beschrei¬
ben wollten, könnten wir uns keines bezeichnen¬
deren Wortes bedienen und sie nicht besser be¬
nennen, als mit dem Namen versoria«. Riccioli
(Geographia et Hydrographia reformata, Bononiae
1661, 1 . X, Kap. 18) schreibt: in Bologna »habe man
sich dagegen entschieden, und C. F. M. Dechales
(L’art de naviguer, Paris 1677) sagt denjenigen, welche
annehmen, versoria sei die Bussole, sie verstehen
weder Lateinisch noch das Seewesen, denn mit jenem
Wort könne an jener Stelle nur eine Schoot gemeint
sein, »dies ist die Ansicht fast aller Uebersetzer«.
Der Wortstreit mag noch nicht entschieden sein;
es mag mit darauf ankommen, ob in dem Verse
»cape modo versoriam« cape auch die Bedeutung
haben kann: steure, halte das Vorderende des Fahr¬
zeuges in gewisser Richtung, mit welcher Bedeutung
das jetzige italienische cappa, cappeggiare gewisse
Verbindung haben (auch im Französischen, Spani¬
schen, Portugiesischen sind an jene Bedeutung an¬
lehnende Worte). Da vorher gesagt w T ird: hier ist
günstiger Wind, so kann jener Vers nicht den Sinn
haben: der straff angeholten Schoot gemäss, also
»beim Winde« steuern; die andere Weise, bei der
noch jetzt die Worte Steuern und Schoot in Ver¬
bindung Vorkommen: raum Schoots wegsteuern, kann
hier nicht gemeint sein, denn entweder ist bei ihr
wegsteuern statt fahren oder weitersteuern gesetzt,
wobei man mit günstig gewordenem Winde den
Kompass oder eine feste Landmarke benutzen müsste,
um das Schiff auf seinem Kurse zu halten, oder aber
es müsste eine Untiefe im Schiffskurse liegen, die
man sieht und von der man statt bisher beim Winde
oder mit Wind querein »raum Schoots« wegsteüerr.
Das Fahrzeug mit Holen und Fieren (Straffziehen
und Lose geben) der Schoot zu steuern, war gewiss
nicht gemeint, das ist sehr mühsam, langweilig und
unsicher.
(Fortsetzung folgt.)
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
554
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
Ein Beitrag zur Geschichte der Erdkunde.
Von Emil Wisotzki (Stettin).
(Fortsetzung.)
Wenden wir uns zu Buffon. Derselbe kennt
selbstverständlich die Einströmungen aus dem Pontus
und dem Atlantischen Ocean ins Mittelmeer, was von
ihm als Beweis für das niedrigere Niveau des letzteren
herangezogen wird. Von der Ostsee wird der Aus¬
fluss als von allen Seefahrern einstimmig behauptet
bezeichnet. Ueber die betreffenden Unterströme aber
sagte er: »Es ist mir nicht unbekannt, dass einige
Leute behaupten wollen, das Wasser in der gibralta-
rischen Meerenge nehme einen zweifachen Lauf.
Durch den oberen würden die Wasser ins Mittel¬
ländische Meer getrieben, und die Wirkung des
unteren wäre dem ersteren gerade entgegengesetzt.
Allein diese Meinung ist offenbar falsch und den
hydrostatischen Gesetzen gänzlich zuwider. Ebenso
will man auch an vielen Orten bemerkt haben, das
Wasser laufe unten nach einer dem Laufe des oberen
Wassers entgegengesetzten Richtung, wie z. B. im
Bosporus, im Sund u. s. w. Marsigli führt sogar
gewisse im Bosporus angestellte Erfahrungen an,
welche zum Beweise der Sache dienen sollen. Bei
diesen Erfahrungen muss man aber, aller Wahr¬
scheinlichkeit nach, sehr unrichtig zu Werke ge¬
gangen sein, weil die Sache selbst unmöglich und
allen Begriffen von den Bewegungen des Wassers
entgegen ist 1 ). Auch konnten Marsigli und andere
leicht dadurch hintergangen werden, dass längs den
Ufern starke Wirbel oder Wasserkreise bemerkt wer¬
den, deren Richtung insgemein anders als im Haupt¬
zuge des Stromes und bisweilen demselben ganz zu¬
wider ist 2 ).« Uebrigens soll Buffon diesen Wider¬
spruch später aufgegeben und die Möglichkeit von
Unterströmen anerkannt haben 3 ).
Mit wohl das Beste, was über die Strömungen
in den Meeresstrassen geschrieben, aber wenig, in
der neueren Litteratur wie es scheint leider gar nicht
beachtet ist, lieferte der »Kasselische Geheime Rat
Herr Waiz« in seiner »Untersuchung der Ursache,
warum das Wasser im Atlantischen Meere allezeit
in das Mittelländische Meer durch die Enge bei
Gibraltar hineinströmt« 4 ). Hierdurch will ich durch-
*) Untersuchungen vom Meere u. s. w., Leipzig 1750,
S. 7, 126, 129, 156, 160, 172, 215, 223, 231.
* 2 ) Allgemeine Naturgeschichte, ins Deutsche übertragen
nach der Ausgabe von 1769, I, Berlin 1771, S. 145, 147, 152,
193, 220.
8 ) Vgl. Ingigian, Nachrichten über den Thracischen
Bosporus, Weimar 1814, S. 43. Leider war mir eine jüngere
Ausgabe Buffons nicht zugänglich.
4 ) Der königl. schwedischen Akademie der Wissenschaften
Abhandlungen aus der Naturlchre auf das Jahr 1755, aus dem
Schwedischen übersetzt von A. G. Kästner, XVII. Bd., Ham¬
burg und Leipzig 1757, S. 28—48. Verlesen bereits am
II. Mai 1754.
aus nicht meine Zustimmung zu allen seinen Auf¬
stellungen ausgesprochen haben.
Was zuerst die Thatsachen selbst betrifft, so
ist er überall auf der Höhe. Die Ober- wie die
Unterströme bei Gibraltar, Konstantinopel und Kopen¬
hagen sind ihm bekannt. Eingehender spricht er
aber nur über die Verhältnisse des Mittelmeeres.
Als Ursache der Oberströmung erscheint ihm die
Niveaudifferenz zwischen Mittelmeer und Atlanti¬
schem Ocean einerseits und Schwarzem Meer anderer¬
seits, als Ursache der Unterströmung die betreffen¬
den Schweredifferenzen. Diese seien übrigens zwi¬
schen Mittelmeer und Pontus grösser, als zwischen
Mittelmeer und Atlantischem Ocean, daher auch die
Unterströmung im Bosporus stärker als in der Strasse
von Gibraltar.
Von anderen Punkten behandeln wir zuerst
das Verhältnis, in welchem beide Ströme seiner
Auffassung nach zu einander stehen. Hierüber
sprach Waiz sich folgendermaassen aus: »Weil also
eine Menge Salzwasser beständig in das Mittelmeer
drängt und ein grosser Teil daselbst wegdünstet
und sein Salz zurücklässt, so wird das zurückblei¬
bende immer salziger und folglich schwerer. Stehen
nun beide Meere gleich hoch, so ist doch kein
Gleichgewicht vorhanden, sondern das schwere Wasser
des Mittelmeeres wird des Atlantischen leichteres
verdrängen und durch die Enge zu fliessen anfangen,
bis beide Meere ins Gleichgewicht gekommen sind,
da also das Mittelmeer notwendig niedriger wird.
Sobald nun dieses niederer ist, kann das höhere
Wasser im Ocean nicht anders, als in die Meerenge
oben dem Strome nachlaufen, durch den es sich
ins Mittelmeer ausbreitet; dadurch wird dieses Ge¬
wicht noch stärker vermehrt und das gesalzene und
schwere Wasser des Mittelmeeres muss seinen Aus¬
fluss wieder durch die Strasse am Boden, unter
dem oben einfliessenden Strome suchen.« So¬
nach ist für Waiz, wie wir das schon bei Mar¬
sigli bemerkten, der untere Strom der primäre, der
obere der sekundäre; die Niveaudifferenz ist bei bei¬
den erst eine Folge der Unterströmung; auch ge¬
langten beide zu diesem Schluss an der Hand eines
ähnlichen Experimentes, bei dem Wasser und Oel
dieselbe Oberfläche hatten.
Zur weiteren Erklärung vergleicht er Mittelmeer
und die ihm zur Seite gelegenen Meere, den Pon¬
tus nämlich und den Atlantischen Ocean mit einem
kalten Zimmer, welches durch Thüren gegen zwei
warme, zu beiden Seiten gelegene Zimmer abge¬
schlossen ist. Nach der Oeffnung dieser Thüren
beginne sofort aus dem kalten Zimmer je ein Unter¬
strom nach den beiden warmen Zimmern, und je
ein Oberstrom aus diesen nach jenem hin zu fliessen.
Denjenigen, welche die Möglichkeit solcher Ströme
leugneten, wie Buffon gegenüber, weise er hin auf
so oft in entgegengesetzter Richtung übereinander
hinziehende Wolken.
Einen grossen Teil der Abhandlung von Waiz
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
555
nimmt ein sein Nachweis der Notwendigkeit der
Annahme eines unteren Stromes, um gewisse Er¬
scheinungen des Mittelmeeres zu erklären. So dient
ihm der Unterstrom zur Abfuhr überschüssigen
Wassers.
Das Mittelmeer erhalte sein Wasser aus dem
Atlantischen Ocean, dem Schwarzen Meer, durch
die Flüsse und durch Regen und Tau. Angesichts
dessen habe sich stets die Frage nach dem Verbleib
desselben erhoben, sei bisher aber nicht richtig, oder
wenigstens nicht genügend beantwortet worden. Die
vielfach angenommenen unterirdischen Kanäle seien
nicht vorhanden und wenn das auch der Fall, so
doch nicht im stände, die notwendige Wasserabfuhr zu
besorgen. Denn der Spiegel des Mittelmeeres sei
niedriger als der des Oceans, es könnte also um¬
gekehrt nur Wasser dem Mittelmeer durch jene
Kanäle zugeführt werden. Ebenso hätte man fälsch¬
lich allein der Verdunstung die Besorgung der Ab¬
fuhr zugeschrieben. Selbst eine viel stärkere Ver¬
dunstung sei aber bei weitem nicht zureichend, das
zufliessende Wasser wieder wegzuschaffen, ein Satz,
den Waiz durch längere Rechnungen an der Hand
älterer derartiger Versuche nachzuweisen sich be¬
müht. Diese Funktion übe vornehmlich der Unter¬
strom. Aus diesem Grunde sei derselbe eine Not¬
wendigkeit. Die Niveaudifferenz ist also erst eine
Folge der Wasserabfuhr durch den Unterstrom.
Wir sehen uns hier einem Zirkel gegenüber, denn
auf der einen Seite ist der Unterstrom eine Not¬
wendigkeit zur Abfuhr des vornehmlich auch durch
den Oberstrom zugeführten Wassers, auf der anderen
Seite jedoch veranlasst die Wasserabfuhr durch den
Unterstrom erst ihrerseits wieder die Niveaudifferenz
und dadurch den eintretenden Oberstrom. Der Grund¬
fehler lag wesentlich in dem zu frühen Heranziehen
der Wasserzufuhr durch den Oberstrom, abgesehen
von den zum Teil höchst vagen Berechnungen.
. Aber ein wesentliches Verdienst erwarb sich
Waiz durch den Nachweis der Notwendigkeit des
Unterstroms zur Abfuhr überschüssigen Salzes aus
dem Mittelmeer. Er sagt: »Alle Naturforscher und
Salzsieder wissen genugsam, dass nur das süsse
Wasser durch die Ausdünstung fortgeht und das
Salz zurückbleibt. Stiege also all das Wasser, das
jährlich ins Mittelmeer fliesst, in Dünsten auf, so
würde es doch all sein Salz zurück lassen und das
ganze Mittelmeer müsste schon längst mit Salz er¬
füllt und in eine harte Salzgrube verwandelt sein,
denn sowohl das Wasser, das aus der spanischen
See durch die Meerenge kommt, als auch das aus
dem Schwarzen Meere durch den Bosporus einfliesst,
sind beide stark gesalzen.« Oben sieht Waiz in
dem Unterstrom im Bosporus die Ursache, »warum
das Wasser im Schwarzen Meere salzig ist, sonst
würde es von den vielen einfallenden Strömen bald
verdünnt und süss werden«.
Dass in der Gibraltar-Strasse oberflächliche Gegen¬
ströme existieren, wird von Waiz noch schliesslich
bemerkt und dieselben, wie Marsigli für den Bos¬
porus es thut, als Reaktionsströme erklärt. Das Wesen
der letzteren wird eingehend und richtig auseinander¬
gesetzt.
Wesentlich kürzer behandelte die Frage Thomas
James in seinem Werke »The history of the Her-
culean Straits«. Derselbe begnügte sich, auf das
früher schon erwähnte, gesunkene holländische Schiff
hinzuweisen und meinte, für eine Doppelströmung
spräche auch der Umstand, dass man selbst mit den
längsten Tauen keinen Grund hätte finden können *).
Die Auseinandersetzungen Torbern Berg¬
manns sind hier nicht weiter vorzulegen, da er
sich zum Teil ganz eng an Waiz anschliesst. Nur
treten die dänischen Meeresstrassen mehr hervor.
Wie selbstverständlich ihm solche Doppelströme er¬
scheinen, beweise folgendes Citat: »Solche einander
entgegengehende Ströme kommen in der Luft und
im Wasser täglich vor und führen nichts Ungereimtes
mit sich 2 ).«
Mit grossen Erwartungen trat ich an die Lektüre
von Nordenankars »Strömungen der Ostsee« 3 )
heran. Aber das Büchlein bot mir wenig genug. Die
Ostsee könne mit Recht zu den Binnenseen gezählt
werden, »deren allgemeiner Begriff ist, dass sie höher
liegen, das ist, dass ihre Oberfläche höher als das
Weltmeer liegt«. Die vornehmste Ursache dieser
höheren Lage sei die unermessliche Menge von zu¬
geführtem Fluss- und Regenwasser, ihre Folge der
Abfluss zur Nordsee, »um sich im Gleichgewicht
mit dem Weltmeere zu setzen«. Diese Ostseeströ¬
mungen erlitten auch zufällige Veränderungen von
mehr oder weniger einfallendem Wasser aus den
Flüssen, in gewissen Jahren, gewissen Zeiten im
Jahre, Winden u. s. w. Die Unterströmungen wer¬
den gar nicht erwähnt.
Der grosse Königsberger Philosoph Kant wendet
in seiner physischen Geographie sich auch unseren
Strömungen zu. Niveaudifferenzen und Schwere¬
differenzen werden als Ursachen der Ober- und Unter¬
ströme bezeichnet, selbst wieder veranlasst durch
Ueberwiegen des Zuflusses oder der Verdunstung.
»Ist also die Ausdünstung in einem Mittelmeere
grösser als der Zufluss, so geht der obere Strom
hinein und der untere heraus. Ist aber der Zufluss
von süssem Wasser grösser, so tritt der entgegen¬
gesetzte Fall ein. Nach diesem Maasstabe lässt sich
nun die Stromkommunikation aller Meere beurteilen.«
! ) Vol. I, London 1771, p. 191 ff.
2 ) Physikalische Beschreibung der Erdkugel, aus dem
Schwedischen übersetzt von Röhl, Greifswald 1780, I, S. 349 ff.
3 ) Deutsch von Gröning, Leipzig 1795. Nach vielfachen
vergeblichen Bemühungen gelang es mir, in den Besitz dieses
Büchleins zu kommen durch die Liebenswürdigkeit des Herrn
Geheimen Admiralitätsrats Prof. Dr. Neumayer, dem ich auch
an dieser Stelle meinen ergebensten Dank für seine Güte aus¬
spreche. Ob das schwedische Original etwa mehr enthält, ist
mir nicht bekannt. Vgl. Ackermann, Die Ostsee, Hamburg
1891, S. 133.
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55*
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
»Eigenartige Geistesarbeit« J ) ist hier nirgends zu
finden; was Kant, hier sagt, ist, wie wir gesehen
haben, vorher schon vielfach gesagt worden und
ihm bekannt gewesen.
Zu bemerken aber ist, dass Kant nicht bloss
für die immer wieder von uns besprochenen Strassen
solche Doppelströme annahm, sondern seine Blicke
weiter schweifen Hess. »So wie bei Bab el Mandeb
der obere Strom in das Rote Meer dringt, geht der
untere heraus. Bei Ormuz fliesst der Persische Meer¬
busen oben in das Weltmeer, und ein unterer Strom
führt dieses wieder zurück.« Diese Doppelströme
in den Meeresstrassen seien »nicht wunderbarer, als
wenn die obere Luft einen der unteren ganz ent¬
gegengesetzten Zug hält, welches man täglich be¬
merken kann« 1 2 ). Ob schon vor Kant für die
beiden zuletzt genannten Strassen solche Doppel¬
ströme behauptet sind, ist mir unbekannt geblieben.
Noch weiter dehnte ihre Existenz aus der Hydro¬
graph Otto. Trotz Buffon würde man dergleichen
Strömungen unfehlbar in allen Meerengen antreffen,
weil die Gewässer auf beiden Seiten fast allemal von
verschiedener Salzigkeit sind. »Salzigere Meere aber
haben ein schwereres Wasser und stehen dahero
niedrigerer, als die minder gesalzenen. Wenn nun
beide eine Strasse verbindet, so müssen diese in jene
abfliessen, und weil durch solchen Zuwachs die Höhe
und der Druck dann zunimmt, so muss das untere
Wasser in das ausströmende Meer zurücklaufen 3 ).«
Nach Otto ist also der Oberstrom der primäre, der
Unterstrom der sekundäre.
Dieser Auffassung schloss sich auch an Bar¬
tholdy, doch erscheint ihm auch folgende Erklärung
möglich: »Wenn das Atlantische Meer bei der Strasse
an der allgemeinen Bewegung von Morgen nach
Abend 4 ) noch teilnimmt, so muss das Wasser des
Mittelländischen Meeres, welches mit dem festen
Lande einerlei Bewegung von Abend gegen Morgen
1 ) Paul Lehmann, Kants Bedeutung als akademischer
Lehrer der Erdkunde, VI. Deutscher Geographentag, Berlin 1886,
S. 144 ff. Wenn Lehmann hier sagt: »Günther irrt mit
Wisotzki, wenn er meint, dass dieser Punkt (aus Meerwasser
bildet sich kein Eis) gar nicht angezweifelt wurde«, so bedaure
ich, feststellen zu müssen, dass diese Bemerkung in meiner hier
gemeinten Schrift »Die Verteilung von Wasser und Land* sich
nirgends findet. Ich habe damals (1879) nur gesagt und halte
auch jetzt daran fest, dass die Anhänger einer »terra australis*
sich der vermeintlichen Unmöglichkeit der Eisbildung aus See¬
wasser als eines Beweismittels bedienten, um die Existenz jener
nachzuweisen. Solche Anhänger im alten Sinne aber gab es nur
bis zur Rückkehr Cooks von seiner zweiten Reise. Kant selbst
zählte ja ursprünglich zu jenen an Zahl und Bedeutung bei
weitem überwiegenden Verfechtern der Unmöglichkeit der Eis¬
bildung aus Seewasser, erst »vor der Grenze unseres Jahrhunderts
hat er dies Dogma aufgegeben« und die »neuere Vorstellung«
angenommen. Für diese wurde aber die Rückkehr Cooks sehr
wichtig.
2 ) Physische Geographie, herausgeg. von Vollmer, I, 1,
S. 176, 215; von Rink, S. 115 ff.
8 ) Hydrographie, Berlin 1800, S. 570.
4 ) Anleitung zur mathematischen, physischen und Staats-
Geographie, 2. Aufl., Berlin 1805, S. 208.
hat, stärker gegen das Wasser des Weltmeeres drücken,
als es zurückgedrückt wird. Das untere Wasser drückt
stärker, als das obere, und fliesst also zur Meerenge
hinaus, das obere aber sinkt und muss dem über-
herstürzenden Wasser des Weltmeeres ausweichen.«
In derselben Zeit schrieb über den Thrakischen
Bosporus das Mitglied der Akademie des heiligen
Lazarus zu Venedig, Dr. Ingigian *). Den Strö¬
mungen desselben widmete er das fünfte Kapitel
seiner Schrift. Ingigian kennt die ältere Litteratur
besonders, so z. B. Prokop von Cäsarea, Gyllius,
dann auch Marsigli und Tournefort u. s. w. Ihm
sind demnach Ober- und Unterstrom ihrer Existenz
nach bekannt. Er legt sich besonders die Frage vor,
woher die Heftigkeit des abfliessenden Oberstromes?
Die Behauptung, dass die Ergiessung der Flüsse in
das Schwarze Meer die Ursache des reissenden Stromes
sei, und dass dieser Strom das Schwarze Meer in
seiner gleichen Höhe erhalte, könne nicht erwiesen
werden. In Wirklichkeit ȟbersteige die Wassermasse
der Flüsse beträchtlich die der durch den Bosporus
abfliessenden Gewässer«. Dies beweise, dass das
Wasser der Flüsse nicht der einzige Grund der
reissenden Strömung im Bosporus sei. Eine zweite
Ursache sei die niedrigere Lage der Oberfläche des
Mittelmeeres zu der des Pontus, wofür auch spreche
dasselbe Verhältnis desselben zum Atlantischen Ocean.
Ausserdem betont Ingigian die Bedeutung der Winde
auf diesen Oberstrom. Der Unterstrom existiere trotz
Greaves und Buffon, welch letzterer ja schliesslich
auch zugestimmt habe. Eine Begründung wird nicht
gegeben, jeder möge dem Rate Prokops folgen und
denken wie er es für gut finde.
Malte Brun zeigt sich 1812 auch als Anhänger
der Doppelströme in den genannten Strassen; ausser¬
dem bemerkt er, dass die Oberflächen vom Schwarzen
Meer und Ostsee im Frühling ungewöhnlich hoch
stünden wegen des in dieser Jahreszeit ganz besonders
kräftigen Zuflusses 2 ). Aber 1826 tritt uns in den
dänischen Sunden nur noch ein zur Sommerzeit aus¬
tretender Ostseestrom entgegen, in den anderen
Jahreszeiten hängen die Strömungen von dem Winde
ab. Der Unterstrom findet schon keine Erwähnung 3 ).
Für den Oberstrom in der Gibraltar-Strasse erhalten
wir jetzt folgende Erklärung. Das Mittelmeer er¬
halte durch Ströme eine ausserordentliche Wasser¬
menge. Trotzdem hätte man geglaubt, das Mittel¬
meer erhalte aus dem Ocean mehr Wasser als es
an ihn zurückgibt und dieses zu beweisen gemeint
durch Hinweis auf einen beständigen, mitten durch
die Strasse eintretenden Strom, welchem zur Seite
nur schwächliche Gegenströme hinausträten. »Mais
cet influx apparent de Toc£an dans la M£diterran£e
n’est que reffet de la pression d’une masse fluide
1 ) Aus dem Armenischen von F. Martin, aus dem Fran¬
zösischen von Adanson ins Deutsche übersetzt aus A. Mi 11 in,
Magasin encyclop£dique, 1813, III, Weimar 1814, S. 28—45.
2 ) Prdcis de la g£ographie, II, Paris 1812, p. 326, 352.
3 ) A. a. O., VI, 1826, p. 8, II.
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
557
plus grande sur une masse plus petite, pression qui
d£place n£cessairement les couches sup£rieures de la
petite masse, comme ayant la moindre force d’im-
pulsion collective«. Ein Unterstrom entführe dann
das überflüssige Mittelmeerwasser *).
Georg Friedrich Parrot kennt bei Gibraltar
auch eine Doppelströmung: »Das Mittelmeer ist be¬
deutend salziger als der Ocean, wodurch der Wechsel
entstehen muss. Die Ebbe und Flut im Ocean ver¬
mehrt ihn dadurch, dass bei der Flut das atlantische
Wasser mit grosser Kraft ins Mittelmeer getrieben
wird, und dann bei der Ebbe nur langsam heraus-
fliessen kann, wodurch die unteren Schichten heraus¬
gedrängt werden« 2 ).
Auch keine zu lang anhaltende Beschäftigung
widmete der Graf d’Andriossy in seiner »Voyage
ä Pembouchure de la Mer Noire, Paris 1818« unserer
Frage. Der Oberstrom werde veranlasst durch den
Druck der durch die Flüsse zugeführten Wasser¬
massen und dann durch eine Niveaudifferenz. Seine
Geschwindigkeit sei besonders im Frühling zur Zeit
der Schneeschmelze und im Herbst stark; sie würde
noch bedeutender sein, wenn nicht ein Teil der durch
die Flüsse dem europäischen Teile des Schwarzen
Meeres zugeführten Wassermassen die Verdunstung
in dem asiatischen Teile desselben ersetzen müsste,
wo ein solch starker Zußuss nicht vorhanden. Von
dem Unterstrom aber heisst es: »Pexistence de ce
courant n’est rien moins que prouvee« 3 ).
Wie wenig, trotz Halley, Marsigli, Waiz u. a.,
die Lehre von den Doppelströmungen in den immer
wieder genannten Meeresstrassen als gesicherter Be¬
sitz, als allgemein anerkannte Erkenntnis galt, ist
bereits aus manchem Gesagten klar geworden. Aber
sie geradezu als eine »Sage« zu erweisen, unter¬
nahm kein Geringerer wie Karl Ernst Adolf von
Hoff, der berühmte Verfasser der »Natürlichen Ver¬
änderungen der Erdoberfläche«. Derselbe schreibt:
»Es ist bekannt, dass aus dem Ocean ein immer¬
währender Strom durch die Strasse in das Mittel¬
ländische Meer hineingeht. Dieses leugnet niemand;
dagegen aber hat sich unter den Erdbeschreibern
eine andere Sage fortgepflanzt, zufolge welcher ein
anderer Strom aus dem Mittelländischen Meere durch
die Strasse in den Ocean hinausgehen soll, und zwar
unsichtbar in der Tiefe des Meeres unter dem von
West nach Ost gerichteten sichtbaren Strom. Mit
Hilfe der Annahme eines solchen Gegenstromes hat
man sich von der Besorgnis, dass der Ocean das
Mittelmeer überfüllen könne, zu befreien gesucht;
und diese Sage ist unzähligemal nachgesprochen und
nachgeschrieben worden, aber ohne allen Grund und
ohne alle sichere Gewährschaft« 4 ). Als »vornehmste
*) In der von H u o t besorgten Ausgabe (1853) lautet es ebenso.
*) Grundriss der theoretischen Physik, 3. Teil, Physik der
Erde, Riga und Leipzig 1815, S. 391.
8 ) A. a. O., S. 130—134.
4 ) Geschichte der natürlichen Veränderungen der Erd¬
oberfläche, I, Gotha 1822, S. 154, 158.
und vielleicht einzige Gewährschaft« für diese Tiefen¬
strömung gebe man jenen, auch von uns oben mit¬
geteilten, Vorgang mit dem gesunkenen und vier
Leguas westlich wieder hervorgekommenen hollän¬
dischen Schiff" an, »das also in der Tiefe des Meeres
in einer der oberen Strömung allerdings entgegen¬
gesetzten Richtung fortgetrieben war«. Diese That-
sache sei unbezweifelbar und, fügt er hinzu: »wir hegen
auch nicht den leisesten Zweifel gegen das Dasein
dieses submarinischen Gegenstromes, oder vielmehr
einer ziemlich schwachen rückwirkenden Bewegung
des unteren Wassers, da nämlich, wo sie wahrge¬
nommen worden ist. Aber man beachte wohl den
Ort dieser Wahrnehmung! Einzig und allein in
der Strasse selbst, nur westlich von Gibraltar und
Ceuta, hat er sein Dasein zu erkennen gegeben«.
Im Osten von diesen Punkten wisse niemand von
einer solchen submarinischen Strömung etwas zu
sagen. Und doch habe man die Sage ersonnen, in
der Tiefe ströme das Wasser aus dem Mittelmeer
heraus. Er sei überzeugt, dass der submarinische
Gegenstrom in der Strasse bestehen könne, ohne dass
dadurch ein Tropfen von dem Wasser, welches der
beständige Oststrom dem Mittelmeer aus dem Ocean
zuführt, aus ersterem wieder in diesen zurückgeführt
zu werden braucht. Der Oberflächenstrom reiche
nämlich herab bis zu der den Atlantischen Ocean
und das Mittelmeer trennenden Schwelle. Ein Teil
desselben stosse gegen diese Schwelle, werde auf¬
gehalten und fliesse längs des westwärts gerichteten
Abhanges derselben herab und als westlicher Unter¬
strom hinaus in den Ocean, aber mit ungleich
schwächerer Strömung wie der Oberstrom.
v. Hoff glaubt diese Erklärung auch auf den
Bosporus anwenden zu dürfen.
Wir erinnern uns, dass Waiz die Notwendig¬
keit der Annahme eines Unterstromes erstens in dem
Bedürfnis einer Abfuhr überschüssigen Wassers er¬
blickte und zweitens zur Entsalzung des Mittel¬
meeres.
Gegen das erstere Moment erinnert v. Hoff
an Halleys uns bekannte Untersuchung; das andere,
doch ganz besonders zu berücksichtigende Moment
wird ignoriert.
Zwölf Jahre später kommt v. Hoff infolge
eines gerade auf diese Partien seines Buches ge¬
machten Angriffes auf den Gegenstand zurück. Er
habe von neuem die »Sage« einer sorgfältigen Prü¬
fung unterzogen, aber vergebens. Vor allem weise
er darauf hin, dass eine Reihe von Gelehrten die
Unterströmung geradezu geleugnet oder doch wenig¬
stens ignoriert, wie Buffon, Lulofs, Humboldt
und Marc et. Letzterer habe gesagt, der einzige
Grund für das Dasein eines Unterstromes sei die
anscheinend leichte Erklärung desselben aus dem ver¬
schiedenen Salzgehalte beider Meere.
Dann erzählt er eine »neuerliche Wahrnehmung«,
die der englische Schiffslieutenant Patton mitge¬
teilt, aus der man auf das Vorhandensein habe
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55«
Geographische Mitteilungen.
schliessen wollen, weist aber diese als ganz unzu¬
reichend zu irgend welchem Beweise zurück.
(Schluss folgt.)
Geographische Mitteilungen.
(Inseln an der Küste Neu-Guineas.) Der Gou¬
verneur des britischen Neu-Guinea, Sir William Mac¬
gregor, hat sich durch Erforschung des ihm unter¬
stellten Gebietes bereits mehrfach verdient gemacht.
Im Februar 1892 hat er von neuem eine Reihe von
zwischen der Woodlark-, der Trobriand- und der
D’Entrecasteaux-Gruppe liegenden Koralleninseln (Atolle),
welche, ähnlich den Riffinseln der Salomonen, in nach¬
tertiärer Zeit aufgebaut wurden, besucht und unter¬
sucht.
Die von einem Riffe umzingelte und 13—15 qkm
umfassende Insel Kitaoa oder Nowan wird von einer
800 m breiten und mit Bäumen bedeckten Strandfläche
umgeben, hinter welcher ein 90—120 m hoher und
dicht bewaldeter Korallenwall aufsteigt. Derselbe senkt
sich in der Mitte um 15—30 m und bildet ein gegen
Winde geschütztes Plateau mit fruchtbarem, chokolade-
farbigem Boden. In
dieser, durch Spalten
im Korallenfelsen drai-
nierten Mulde lebt die
ganze Bevölkerung, so
dass die Insel, vom
Meere aus gesehen,
unbewohnt erscheint.
Murua, Woodlark
Islands, zählt drei Dör¬
fer. Darunter ist das
4 km von der Küste entfernte und 70 m hoch ge¬
legene Dorf des Wamana- Stammes mit 80 gut und
zweckmässig gebauten Häusern in zwei Reihen das
bedeutendste. Die flache und wenig wellenförmige
Umgebung ist, soweit sie nicht für Anpflanzungen urbar
gemacht, mit Wald bedeckt. Aus dem sehr fruchtbaren
Boden ragt hier und dort der Korallenfels hervor.
Die 6 Seemeilen von Kwaiawata entfernte Korallen¬
insel Dugumenu mit nur 800 m im Durchmesser und
mit Wald und einer Gruppe von Kokospalmen bedeckt,
ist unbewohnt.
Kwaiawata, 3 km im Durchmesser, hat dieselbe
Form und Struktur wie Kitaoa, es ist ein gehobenes
Atoll. Die Ersteigung des Korallenwalles bietet Schwierig¬
keiten. Die aus acht bis zehn Häusern bestehenden
13 Dörfer mit ungefähr 500 Bewohnern, sowie fast
sämtliche Gartenanlagen liegen auf dem centralen Plateau
der Insel. Jedes Dorf ist von einer Gruppe Kokospalmen
umgeben, und, nach der üppigen Vegetation zu schliessen,
muss der jährliche Regenfall ein bedeutender sein.
Auf Gawa, etwas grösser als Kwaiawata, hat sich
die Atollform am vollkommensten erhalten. Der Korallen¬
wall war an der Stelle, wo man ihn bestieg, 120 m
hoch, und man musste mehrmals eine Leiter zu Hilfe
nehmen. Das über 3 km im Durchmesser haltende
Plateau, dessen chokoladebrauner Boden ausserordentlich
fruchtbar ist, senkt sich gegen die Randhöhe des Korallen¬
walles um 30 m, die darauf befindlichen 20 Dörfer
werden von ungefähr 500 Eingeborenen bewohnt. Jedes
Dorf macht sich auch hier durch eine Kokosgruppe
kenntlich.
Die 12 Seemeilen von Kitaoa entfernte Insel Iwa
mit 1 V* km im Durchmesser hat ebenfalls Atollenstruktur,
nur mit dem Unterschiede, dass hier der Korallen wall
meistens bis ans Meer reicht, so dass die umgebende
Strandfläche fehlt. Iwa besitzt zwei von 150 Ein¬
geborenen bewohnte Dörfer. Da kein Ankerplatz ex¬
istiert, so konnte man nicht landen.
Die Eingeborenen dieser vom Gouverneur Sir Mac¬
gregor besuchten Inseln bewiesen sich ohne Ausnahme
freundlich und entgegenkommend. Sie sind Papuas,
aber in physischer und intellektueller Hinsicht den Ein¬
geborenen der D’Entrecasteaux-Gruppe und der Nord¬
ostküste von Neu-Guinea überlegen. Sie besitzen viele
Hunde und schöne Katzen, w r elche vor 45 Jahren von
der damaligen Meristenmission zurückgelassen wurden.
Ihre Schweine, verschieden von denen in Neu-Guinea,
sind schwarz, mit einem dicken, schweren Kopfe und
überhaupt hässlich gestaltet. (Mitteilung von H. Greff¬
rat h in Dessau.)
(Die Schiffe des Columbus.) Auf Grund einer
»Restauracion hipotetica de las carabelas de Cristobäl
Colon« von seiten des spanischen Marinemalers Mon-
leon hat J. Heinz das Wenige, was wir vom Bau und
der Ausrüstung dieser
Schiffe wissen, über¬
sichtlich zusammen¬
gestellt und durch
hübsche Zeichnungen
erläutert. Die »Santa
Maria« und die »Nina«
waren, bei sehr ver¬
schiedener Grösse,
doch von gleicherKon-
struktion, es waren
»Quersegel - Karawellen«, während die »Pinta« an¬
fänglich eine »lateinische« Takelage besessen und
sich erst auf den Kanarien ihren beiden Kolleginnen
angepasst haben soll. Die wichtigsten Dimensionen der
drei Fahrzeuge werden — selbstredend hypothetisch,
aber mit guten Wahrscheinlichkeitsgründen — angegeben,
wie folgt (alles in Meter):
Santa Maria Pinta Nina
Länge des Kieles.19,00 15,68 14,00
Länge zwischen den Perpendikeln 23,00 20,16 17,36
Grösste Breite.6,70 7,28 5,60
Tiefe des Raumes.4,50 3,36 3,80
Grösster Tiefgang. — 2,80 —
Jedem Schiffe scheinen für den Fall, dass bei Wind¬
stille seine Segel den Dienst versagten, je 34 Ruder
der beiden im Schlepp mitgeführten Boote (»Barkasse«
und »Pinasse«) zur Verfügung gestanden zu haben;
von Ankern führte ein jedes einen grossen und vier
kleinere. Vgl. obige Durchschnittszeichnung. (Mitteilungen
aus dem Gebiete des Seewesens, 1892, Heft 2 und 3.)
(Gletscherlawinen am Montblanc.) Als vor
wenigen Wochen das furchtbare Unglück von St. Gervais
sich ereignete, welches diesem reizend gelegenen Bade¬
orte Hoch-Savoyens den Untergang und einer grossen
Anzahl von Menschen jähen Tod brachte, erging man
sich sofort in Hypothesen über die Veranlassung der
gigantischen »Ueberschwemmung«, und es wurden Ver¬
mutungen in Menge laut, vernünftige wie ungereimte.
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Litteratur.
559
Man darf es deshalb freudig begrüssen, dass einer der
besten Kenner der Physik der Alpenwelt, Prof. F. A. Forel
in Morges, die Bedingungen der Katastrophe an Ort
und Stelle erforscht und dieselben in einer wissen¬
schaftlich völlig befriedigenden Weise aufgeklärt hat.
Es handelte sich in Wirklichkeit um eine ungeheure
Gletscherlawine. Geführt von einem als Kenner
der Oertlichkeit bekannten Gemsjäger, drang Forel
bis an den Abhang der »T£tes rousses« vor, wo sich
nach den Aussagen seines Begleiters früher ein über¬
hängender Gletscher befand, während jetzt nur noch eine
Wand von 30 m Höhe die Stelle anzeigt, von welcher der
Abbruch des Gletschers erfolgte. Der kubische Inhalt
der abgelösten Eismasse mag sich auf 1—2 000 000 cbm
belaufen. Von einem interglacialen See, von dem man
nach berühmten Mustern zuerst fabelte, kann nach Forel
keine Rede sein; dagegen sprechen die physikalischen
Bedenken, welche in Deutschland Finsterwalder mit
voller Bestimmtheit dargelegt hat, dagegen spricht aber
auch der Umstand, dass im Lawinenbette keine Spuren
von durch fliessendes Wasser bewirkter Erosion zu
sehen waren. Es war allem Anscheine nach eine halb¬
flüssige Masse, die sich auf einem gewundenen Wege
in das Thal der Arve hinab bewegte; mannigfache
Kennzeichen sprechen dafür, dass das eigentlich zer¬
störende Element nicht wirkliches Wasser war, als eines
der beweiskräftigsten das, dass im Schulzimmer des ver¬
wüsteten Dorfes Bionnay ein Teil der Gegenstände im
Schutte begraben, der andere Teil intakt und nicht einmal
beschmutzt war. In ihrem furchtbaren Sturze ist die
Gletschergruppe anscheinend geradezu pulverisiert worden,
und indem sich dieser Menge kleiner Festkörper der
Inhalt verschiedener Moränentümpel und Giessbäche bei¬
gesellte, kam schliesslich jener Strom halbflüssiger Ma¬
terie zu stände, von welchem die Rede war. Etwas
ganz Ungewöhnliches sind übrigens, unserem Gewährs¬
manne zufolge, solche Gletscherstürze'nicht, vielmehr
hat sich in den Jahren 1560, 1635, 1636, 1835, 1887
Aehnliches ereignet, wenn auch nicht in solchem Maass¬
stabe. Beiläufig sei bemerkt, dass Forels Erklärung
des Sachverhaltes auch A. E. v. Nordenskiölds Be¬
hauptung widerlegt, das sogenannte Kalben der Glet¬
scher erfolge stets in der Richtung von unten nach
oben, weil der Auftrieb des Meerwassers in diesem
Sinne wirke; dieses Agens fehlt bei den Alpengletschern
gänzlich, und allein der Zug der Schwere löst die längst
vorbereitete Gletscherlawine aus. (Gazette de Lausanne
vom 18. Juli 1892.)
Litteratur.
Untersuchungen über das Wesen der sogenannten
Besse Ischen Formel, sowie deren Anwendung
auf die tägliche periodische Veränderung der
Lufttemperatur. Von Prof. Dr. Paul Schreiber, Di¬
rektor des kgl. sächs. meteorologischen Institutes zu Chemnitz.
Mit 6 Tafeln. Halle 1892. Nova Acta der kais. Leop.-Karol.
Deutschen Akademie der Naturforscher. Band LVIII, Nr. 3.
83 S. gr. 4°.
Seitdem Bessel (im 6. Bande der »Astronom. Nachrichten«)
das jetzt nach ihm benannte Verfahren zur Entwickelung einer
Funktion in eine trigonometrische Reihe angegeben hatte, galten
derartige Rechnungen für eine der wichtigsten Aufgaben, mit
denen sich die Klimatologie zu befassen hatte. Als aber (1881)
Wild in seinem berühmten Werke »Die Temperaturverhältnisse
des Russischen Reiches« sich gegen diese Methode aussprach,
schlug die Stimmung völlig um, und in dem 1882 erschienenen,
von sechs hervorragenden britischen Fachmännern bearbeiteten
Werke «Die moderne Meteorologie« sprach Strachan von der
Bessel sehen Formel wie von einem überlebten Standpunkte.
Doch kam man, hauptsächlich unter dem Einflüsse der tief¬
gehenden Untersuchung von Weihrauch über diesen Gegen¬
stand, allmählich wieder von dieser extremen Auffassung zurück;
immerhin aber musste es als wünschenswert bezeichnet werden,
aus der Praxis heraus ein völlig unbefangenes Urteil über die
Streitfrage zu vernehmen, zumal da bei Weihrauch doch zu¬
nächst das mathematische Interesse das vorwaltende gewesen
war. Die vorliegende Schrift des auf klimatologischem Gebiete
so gründlich bewanderten sächsischen Meteorologen dürfte des¬
halb den Wünschen vieler entgegenkommen.
Auf die analytischen Darstellungen kann an dieser Stelle
natürlich nicht näher eingegangen werden; es sei nur erwähnt,
dass der Verfasser die zwischen ihm und Weihrauch obwaltenden
Meinungsverschiedenheiten einer gründlichen Erörterung unter¬
zieht und zu dem Schlüsse kommt, die Anwendung der Methode
der kleinsten Quadrate sei unter gewissen Voraussetzungen zu¬
lässig. Jene langen Rechnungen, welche bei der Behandlung
eines Problemes nach dem Besse Ischen Verfahren zumeist an-
gestellt wurden und welche auch für Wild die Veranlassung
geboten hatten, dieselben als allzu zeitraubend zu verpönen, ver¬
wirft auch der Verfasser; er will auf die Besselsche Reihe nur
dann zurückgegriflfen wissen, »wenn man mit wenig Gliedern die
Beobachtungen innerhalb der Grenzen ihrer Genauigkeit auszu-
drücken vermag«. Nicht in allen Fällen wird dies eintreten,
wohl aber trifft es im vollsten Maasse zu, wenn man es mit dem
täglichen Temperaturgange zu thun hat, der somit sozusagen
ein klassisches Beispiel für die Verwendbarkeit der Methode
abgibt. Es ist ja der Einwurf auch hier zulässig, dass die
wellenförmige Kurve, welche als das graphische Bild der Reihen¬
entwickelung erscheint, kleinere individuelle Abweichungen vom
normalen Gange, wie man sich ausdrtickt, »verwischt«, dass sie
zumal die Maxima »abstumpft«, dieselben nicht voll zur Ent¬
faltung gelangen lässt. Die vortrefflichen Kurventafeln, mit
denen die Abhandlung versehen ist, gestatten aber sofort eine
Uebersicht über die Art des so entstehenden Fehlers, und man
überzeugt sich, wie ungemein gering derselbe in der Regel aus-
fallen wird. Zum Schlüsse gibt der Verfasser sein eigenes, auf
eine mechanische Quadratur hinauslaufendes Verfahren zur Er¬
mittelung der Reihenkoeffizienten an. Dieses, sowie die ganze
Schrift, wird vielfach Anklang in Fachkreisen finden; wir hätten
nur gewünscht, dass auch auf A. Schmidts eigenartige Inter¬
pretation der von Weihrauch geäusserten Ansichten Rücksicht
genommen worden wäre.
De Harmonische Analyse der Getijden, toegepast op
Waarnemingen te Tiilatjap Verricht door Dr. J. P. vanderStok.
Batavia, Ogilvie & Co., 1891. 75 S. gr. 8°.
Dieses Schriftchen des Direktors des meteorologisch-mag¬
netischen Observatoriums zu Batavia berührt sich inhaltlich nahe
mit der vorstehend besprochenen Studie von Schreiber, denn
das, was man, nach dem Vorgänge der Engländer, »harmonische
Analyse der Gezeiten« zu nennen sich gewöhnt hat, beruht eben
auch auf dem Prinzipe, irgend welche Grössen durch eine nach
Sinus und Kosinus der Vielfachen eines gewissen Winkels fort¬
laufende Reihe auszudrUcken. Den schon früher von Krümmel
und Borgen unternommenen Versuchen, der strengen und des
Formelreichtums wegen wenig übersichtlichen Theorie eine mehr
gemeinverständliche Form zu erteilen, reiht sich nunmehr diese
neue Darstellung an; sie setzt sehr wenig voraus und sucht
mit den einfachsten Hilfsmitteln zurechtzukommen. Aus den
Titelworten geht hervor, dass die Berechnung der Flutbeobach¬
tungen eines bestimmten Küstenplatzes (Tiilatjap) einer der Zwecke
der Schrift ist, und dem Leser erwächst daraus der Vorteil, zu
sehen, wie die Lehren und Formeln dazu dienen, für eine ge¬
gebene Beobachtungsreihe den Zusammenhang zwischen der Flut¬
höhe und den Stellungen der maassgebenden Gestirne rechnerisch
festzustellen.
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560
Litteratur.
Geographische Abhandlungen aus den Reichslanden
Eisass - Lothringen. Mit Unterstützung der kaiserl. Re¬
gierung zu Strassburg berausgegeben von Prof. Dr. G. Ger-
land. 1. Heft (mit 5 Tafeln). Stuttgart, E. Schweizerbart-
sche Verlagshandlung (E. Koch), 1892. VII und 184 S.
Mit vollem Rechte spricht der Herausgeber der Regierung
des kaiserl. Statthalters von Elsass-Lothringen seinen Dank dafür
aus, dass sie dieses neue Unternehmen subventionierte; allen
dabei in Frage kommenden Teilen kann dieses Zusammenwirken
nur zur Ehre gereichen. Auf dem historisch so interessanten
Boden der Reichslande ist, auch wenn man den älteren Arbeiten
von Herrenschneider, Grad, Daubr£e u. a. ihr volles
Recht angedeiheu lässt, doch in erdkundlicher Beziehung noch
viel zu thun; es ist aber von dem seit bald 20 Jahren be¬
stehenden geographischen Lehrstuhle der Universität Strass¬
burg ein kräftiger Anstoss zu landeskundlichen Arbeiten aus-
gegängen, und einige reife Früchte dieser Anregung werden uns
hier vorgelegt. Im Vorwort betont der Herausgeber die Not¬
wendigkeit, bei Untersuchungen dieser Art von den politischen
Grenzen absehen und natürlich verwandte Gegenden anderer
Länder mit in den Kreis der Betrachtung ziehen zu müssen;
wie peinlich die Beiseitesetzung dieses scheinbar einleuchtenden
Grundsatzes berühren kann, das hat unlängst in dieser Wochen¬
schrift (S. 434) A. E. Förster an Beispielen klargelegt. Der
Inhalt dieser ersten Lieferung nun setzt sich aus zwei unter sich
nicht zusammenhängenden Teilen zusammen, welche wir deshalb
auch gesondert besprechen wollen; Verfasser des ersteren ist
Dr. Langenbeck, während die zweite Abhandlung durch die
gemeinsame Thätigkeit der Herren Drr. H. Hergesell, Langen¬
beck und Rudolph (sämtliche in Strassburg) zustande ge¬
kommen ist.
I. Die Erdbebenerscheinungen in der oberrheini¬
schen Tiefebene und ihrer Umgebung. Auf Grund um¬
fassender Studien in einer zum Teil schwer zugänglichen Littera¬
tur *) gibt der Verfasser eine geschichtliche Uebersicht über alle
die Erderschütterungen, welche sich seit dem Jahre 801 — so
weit gehen die Quellenberichte — in dem fraglichen Gebiete
zugetragen haben. Die Prüfung dieses ziemlich reichhaltigen
Materiales an der Hand dessen, was wir von der geologischen
Beschaffenheit dieses Landesteiles wissen, lässt natürlich die von
Dieffenbacli, Falb u. a. vertretene Anschauung zurück weisen,
nach welcher vulkanische Zuckungen sich hier geltend gemacht
hätten; es kann vielmehr kaum einem Zweifel unterliegen, dass
alle diese Phänomene in die Klasse der tektonischen oder Dis¬
lokations-Beben gehören. Von den spärlichen Lothringer Vor¬
kommnissen absehend, kann man einen grösseren Mainzer und
Strassburger, einen kleineren am Kaiserstuhl belegenen Schtitter-
bezirk nachweisen; ferner geben die Ränder der alten Schollen
Schwarzwald und Wasgenwald, wie alle Horstränder, vielfach
Gelegenheit zur Bildung seismischer Wellen, und im Süden liegt
das Baseler Schüttercentrura, dessen Umgebung viel und stark
von Erdstössen heiragesucht wurde. Ueber die Oertlichkeit und
damit über die Bedingungen, unter denen die Ereignisse ein-
treten, ist man mithin ziemlich gut orientiert, während in der
zeitlichen Verteilung der Erdbeben irgend eine ausgesprochene
Regelmässigkeit bisher nicht nachgewiesen werden konnte.
II. Die Seen der Südvogesen. Die Wasser enthaltenden
Seen dieses Gebirgsteiles, deren wichtigste der Schwarze See,
Weisse See und Belchen-See sind, wurden von den Verfassern
gründlich ausgelotet, und es finden sich auf den beigegebenen
Tafeln die Reliefverhältnisse der betreffenden Becken durch
Isobathen dargestellt. Weiter verbreitet sich die Abhandlung
über die eigentümlichen Trockenseen, auf welche früher schon
Gerl and selbst die Aufmerksamkeit der Geographen hingelenkt
hatte, und welche als charakteristische Residuen einer ehemaligen
!) Nicht erwähnt finden wir unter den von Herrn Langenbeck be¬
nutzten Materialien die Schiiften des Polyhistors J o h a n n Rasch, die über
Erdbeben des 16. Jahrhunderts und über ältere manchen Aufschluss erteilen,
freilich aber sehr selten geworden sind. Näheres daiüber gibt des Bericht¬
erstatters Studie «Münchener Erdbeben- und Prodigienlittcratur in älterer
Zeit« (Jahrbuch für Münchener Geschichte, 4. Jahrgang, S. 233 ff.).
ausgedehnten Eisbedeckung des Gebirges diese Aufmerksamkeit
auch vollauf verdienen. Zum Schlüsse erhalten wir einen Ueber-
blick über die Verbreitung der Temperatur im Weissen See.
Die Isothermobathen, welche die Abhängigkeit der Wärme von
der Tiefe zur Anschauung bringen, gestatten die Formulierung
des folgenden Erfahrungssatzes: »Die Durchwärmung der tieferen
Schichten eines Sees ist in erster Linie nicht von den Mittel¬
temperaturen der Sommermonate, sondern von den in ihnen auf¬
tretenden Temperaturdifferenzen abhängig.«
Europäische Wanderbilder. Verlag, Druck und Illustration
des Art. Instituts Orell Ftissli, Zürich. Kl. 8°. Nr. 198 und
199. Kursaal Maloja im Oberengadin und seine Umgebung.
Von Wilh. Altenburg. Mit Plänen, 14 Illustrationen und
einer Exkursionskarte. 54 S. — Spiez und Kanderthal im
Berner Oberland. Von Ernst Müller, Pfarrer. Mit 33 Illu¬
strationen von J. Weber und einer Karte. 80 S.
Die kleinen Reisebücher des Orell Füsslisehen Verlages
sind allgemein bekannt und geschätzt von denjenigen, welche
eine Stadt, eine Gegend nicht bloss flüchtig durchstreifen, sondern
gründlich kennen lernen, studieren wollen. Das in grossartiger
Bergeseinsamkeit, 1810 m über dem Meere, erbaute Kurhaus
von Maloja erscheint dazu geeignet, nicht bloss dem Touristen¬
strome, sondern auch dem wissenschaftlichen Geographen ein
angenehmes Standquartier zu werden, denn auf dieser das Ober¬
engadin vom Bergeil trennenden Höhe bietet sich Gelegenheit
zu mancherlei dankbaren Studien. Der Mensch und seine Sprache,
welche unserer Vorlage zufolge zwischen dem Italienischen und
Ladinischen mitten inne steht, zieht unsere Beachtung auf sich;
die Wasserscheide des Inn und der Mera (Schwarzes und Adria¬
tisches Meer) ist von bekanntem geologischem Interesse; die
Winde des Maloja-Passes haben (s. Hanns Klimatologie, S. 202)
den Meteorologen schon manches zu denken gegeben. Und gut
aufgehoben dürfte der Forscher in diesem weltentrückten Asyle
sein, so dass er das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden
im stände ist. — Sehr hübsch und anschaulich schildert Pfarrer
Müller den berühmten Gebirgsweg, der vom Gestade des
Thuner Sees hinüber ins obere Wallis führt, auf der Berner
Seite (die Gemmi ward bereits in Nr. 105 ff. der »Wanderbilder«
beschrieben). Minder bekannt als das Thal von Interlaken, ist
doch auch das Kanderthal überreich an Naturschönheiten, und
es steht zu wünschen, dass dieses Heft unter den Gebirgs-
wanderern recht Propaganda machen möge für eine der ab¬
wechslungsreichsten Landschaften der deutschen Schweiz.
Der Bürgerkrieg in Chile. Von Hugo Kunz. Mit Por¬
träts, Karten und Plänen. Leipzig, in Kommission bei
F. A. Brockhaus, 1892. XII und 195 S.
Diese Kriegsgeschichte, deren Preis (5 Mark) in Anbetracht
der guten Ausstattung und des kompressen Druckes kein hoher
ist, gibt erstmalig eine zusammenhängende Darstellung der
kriegerischen Ereignisse selbst, ihrer Vorgeschichte und ihrer
unmittelbaren Folgen und ist demgemäss eine wertvolle Er¬
gänzung zu dem bloss Dokumente enthaltenden Schriftchen, über
welches im »Ausland« (S. 400) bereits referiert wurde. Wie
alle chilenischen Deutschen, steht der Verfasser mit Leib und
Seele auf der Seite der sieghaften Parlamentspartei, welcher ja
gewiss auch die Sympathien der grossen Mehrheit der Reichs¬
deutschen zugewandt sind, und feiert namentlich die Verdienste
des »Coronel Körner«. Eine ganz objektive Geschichtserzählung
kann freilich erst dann erreicht werden, wenn auch die Anhänger
des Diktators Balmaceda einmal zu sprechen anfangen — vor¬
läufig wollen wir uns an dem Gebotenen genügen lassen. Die
Verfolgung der Operationen bietet an der Hand der beigefügten
Pläne und Karten keine Schwierigkeit. Der Berichterstatter
möchte nicht unterlassen, zu bemerken, dass aus der Feder des
Autors im vorigen Jahre ein grösseres Werk über die Republik
Chile und deren deutsche Einwanderung erschienen ist.
S. Günther.
Verlag der J. G. Cotta*sehen Buchhandlung Nachfolger
in Stuttgart.
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft ebendaselbst.
_zed by Google
Die vulkanische Katastrophe auf den
Sangir-Inseln.
Von H. Zondervan (Bergen-op-zoom).
Während die Erinnerung an die schreckliche
Krakatau-Katastrophe des Jahres 1883 noch bei vielen
fortlebt, ist vor einigen Wochen ein anderer Teil
Insulindes von einer nicht weniger schrecklichen
Eruption heimgesucht worden. Ihre vernichtende
Wirkung möge sich weniger weit ausgedehnt haben,
ihre Nachwirkungen mögen weniger Veranlassung zu
wissenschaftlichen Experimenten geben, die Zahl der
von ihr heimgesuchten Dörfer, sowie der Menschen¬
opfer, welche sie gefordert hat, ist vielleicht noch
grösser. Dabei hat diese Eruption gerade in dem Teile
des ostindischen Archipels stattgefunden, welcher bis
jetzt am wenigsten von ähnlichen Unglücksfällen ge¬
troffen worden ist. Allein eben dieser Vulkan, der
GoenoengAwoe,hat wiederholentlich den östlichen
Teil Insulindes schwer heimgesucht. So kamen bei
seiner Eruption vom 10. bis zum 16. Dezember 1711
mehr als 2000 Menschen ums Leben, bei derjenigen
vom 2. bis zum 18. März 1856 mehr als 3000. Seit¬
dem hat er sich ruhig verhalten und war bis an seinen
Gipfel mit einer üppigen Vegetation bewachsen.
Der Goenoeng Awoe erhebt sich in dem nörd¬
lichen Teile der Insel Groot-Sangir, welche die
Hauptinsel der Sangir-Gruppe ist, die sich im
Norden der Insel Celebes hinzieht. Diese Insel¬
gruppe hat eine dichte Bevölkerung, denn Groot-
Sangir allein soll 70000 Einwohner gezählt haben,
grösstenteils von den rastlos thätigen Missionären
zum Christentum bekehrt. Der Hauptreichtum der
Bevölkerung bestand aus Kokosnussbäumen, das wich¬
tigste Ausfuhrprodukt war Copra. Gerade während
der letzten Jahre war diese Insel in einer freudigen
Entwickelung begriffen, welche jetzt so plötzlich
zum Stillstände gebracht worden ist.
Ausland 189a, Nr. 36.
Am 7. Juni, des Abends um 6 Uhr und io Mi¬
nuten, wurde der Vulkan plötzlich thätig, ohne dass auch
nur ein einziges Zeichen im voraus darauf hingedeutet
hätte. In Menado (Nord-Celebes) wurde man gegen
6 Uhr 50 Minuten aufgeschreckt durch heftige Schläge,
wie wenn Kanonen abgeschossen würden. Darauf
glaubte man den Donner rollen zu hören, wonach
es stille wurde, bis bald wieder an Kraft stets zu¬
nehmende Schläge vernommen wurden, welche von
dem Echo des Gebirges in fürchterlicher Weise
tausendfältig zurückgehallt wurden. Zu gleicher
Zeit sah man jedesmal ein grossartiges Feuer am
Himmel aufleuchten. Erst gegen 8 Uhr wurden
die Schläge weniger stark und Hessen allmählich
ganz nach. Da man bald Sicherheit bekommen
hatte, dass es sich um eine vulkanische Eruption
handle, fuhr des anderen Morgens der Regierungs¬
beamte J. W. Campagne mit dem eingeborenen
Arzte auf dem am vorigen Abend zufälligerweise
eingelaufenen englischen Dampfer »Hecuba« aus,
um zu untersuchen, wo die Katastrophe stattge¬
funden habe. Schon auf der Höhe von Talisse war
die Luft mit Aschenteilchen erfüllt. Die kleinen In¬
seln auf dem Wege nach Groot-Sangir, welche sonst
im herrlichsten Grün prangen, sahen jetzt finster grau
aus; alles war mit Staub und Asche bedeckt, und
auch die Luft war trübe und wie von Moorrauch
erfüllt. Die Insel Groot-Sangir war vor Rauch¬
wolken nicht sichtbar. »Als wir nahten,« schreibt
Herr Campagne, »war diese liebliche Insel, von
den Gipfeln der Berge bis an den Strand bewachsen
und grösstenteils mit Kökosnussbäumen bepflanzt,
nicht mehr wieder zu erkennen. Grün, war nicht
mehr sichtbar, alles war mit Asche bedeckt, während
an den Abhängen des Berges da und dort Rauch¬
säulen, wie von weissem Dampf, emporstiegen«.
Als man an das Ufer gestiegen war, musste man
bis an die Knöchel durch den Schlamm und die
71
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562
Die vulkanische Katastrophe auf den Sangir-Inseln.
Asche waten, um die Hauptstadt der Insel, Taroena,
wo auch der niederländische Regierungsbeamte resi¬
diert, zu erreichen. Hier erst konnte man die fürchter¬
lichen Folgen der Eruption in ihrem ganzen Um¬
fange übersehen.
Der Regierungsbeamte in Taroena, Herr R. L.
A. Hellwig, teilt uns folgendes darüber mit: »Die
Katastrophe ereignete sich ganz unverhofft, ohne
vorhergehende, warnende Zeichen, so dass niemand
darauf vorbereitet sein konnte. Erst stiess der Vul¬
kan eine riesige Dampfsäule aus unter schrecklichem
Lärm und fortwährendem Wetterleuchten. Sofort
wurde die Bevölkerung Taroenas von einem pani¬
schen Schrecken ergriffen und floh allerorten hin.
Gegen 6 Uhr 20 Minuten trat die Finsternis ein
und fing die Schlammeruption an, die bald aber in
einen Asche- und Bimssteinregen überging; die
Dimensionen der Bimssteinstücke nehmen fortwäh¬
rend zu, der Lärm und das Getöse sind nicht zu
beschreiben, fürchterlich zucken die Blitzstrahlen am
schwarzgrauen Himmel, der Berggipfel zeigt jeden
Augenblick ein grässlich-schönes Feuerleuchten, wäh¬
rend die schwere Finsternis, und vor allem die Furcht
vor einem Seebeben — wie bei Krakatau —, die
Angst der Bewohner stets zunehmen lässt. Glück¬
licherweise tritt aber weder Erd- noch Meeresbeben
ein. Gegen 9 Uhr erreicht die Eruption ihren Höhe¬
punkt; von jetzt an nimmt der Bimssteinregen ab,
der Aschenregen dagegen in Dichtigkeit zu, so dass
der Boden mit einer etwa 6 cm dicken Aschen¬
schichte bedeckt wird, Häuser und Bäume zusammen¬
brechen und Hunderte von Menschen den Tod finden.
Um 12 Uhr fängt der Aschenregen an nachzulassen,
die Explosionen werden schwächer und wiederholen
sich nur mit grösseren Zwischenräumen, endlich
nimmt das Schreckenereignis ein Ende. Am anderen
Morgen aber war der Vulkangipfel noch ganz in
Rauchwolken gehüllt und sah man allerorten Sol-
fataren, aufsprudelnde Dampfblasen und weisse Rauch¬
säulen. Als gegen 6 Uhr des Morgens die Finsternis
von der Tageshelle allmählich verscheucht wurde,
zeigten sich sofort die Folgen der Eruption auf
dieser gut bevölkerten Insel.
In dem Hauptorte Taroena waren die meisten
Wohnungen der Eingeborenen zusammengestürzt, das
chinesische Stadtviertel hatte dagegen wenig gelitten.
Auch die Schiffe auf der Reede waren unbeschädigt,
ein Gebäude des hydrographischen Dienstes, sowie
ein Magazin der Paketfahrt-Gesellschaft aber gänz¬
lich zertrümmert. So wie hier, war es allerorten.
Der Küste entlang erstreckt sich eine ganze Reihe
Dörfer mit vielen Einwohnern. Sie alle sind schwer
mitgenommen worden; fast kein einziges, von dem
nicht einige Personen den Tod gefunden haben, sei
es in ihren Wohnungen, sei es von dem Feuer¬
regen auf ihrer Flucht, oder dadurch, dass sie sich
im Wege irrten und entweder in den Morästen auf
elende Weise den Tod fanden, oder in dem Meere
ertranken. Die Zahl der Toten lässt sich noch nicht
angeben, zumal da sehr viele Eingeborene aus ihren
Dörfern verschwunden waren, vor allem Frauen und
Kinder, welche noch aufgefunden werden könnten.
Herr Campagne sagt: »Es können 300 oder auch
2000 sein«. Die neuesten, aus Indien erhaltenen
Nachrichten sprechen von 700 Toten. Im allge¬
meinen hat der Teil der Insel, welcher sich im
Norden von Taroena ausdehnt, am meisten gelitten,
weniger die Südhälfte, obwohl auch hier alles mit
einer Aschenschichte bedeckt ist. Am schwersten
sind die Bergbewohner und die Feldarbeiter, welche
mit der Reisernte beschäftigt waren, getroffen wor¬
den, während die Eingeborenen, welche in ihren
Kampongs verweilten, verhältnismässig weniger ge¬
litten haben. Auch ist kein einziger Europäer bei
der Katastrophe umgekommen.«
Am 11. Juni schrieb Hellwig: »Der Vulkan
hat jetzt keine Eruptionen mehr, wohl aber stösst
er kolossal viel Rauch aus; die zahllosen Lavaströme
sind noch kochend und aufsprudelnd, so dass die
ganze Gegend rund um den Feuerberg, bis zu be¬
deutender Entfernung, noch immer mit laut kochen¬
den Schwefelbrunnen und Schlammtümpeln überdeckt
ist«. Als er am 9. die Kampong Kandhar besuchte,
wurde er des Abends von dort verjagt durch den
gewaltigen Schlammstrom, der sich quer durch
den Ort einen Weg bahnte. In der ganzen Insel
ist die Reisernte verloren, sind alle bebauten Felder
mit Asche und Lava bedeckt, die Kokosnussbäume
teils vernichtet, teils ihrer Früchte beraubt, die Wäl¬
der von Sagobäumen teils getötet, teils ihres Blätter¬
schmuckes beraubt. In den meisten Plätzen steht
aller Handel still und sind die Läden geschlossen.
Die Bevölkerung aber zeigt sich ruhig und folgsam.
Gross ist der Mangel an Lebensmitteln, welcher aller¬
wegen herrscht, und überdies an trinkbarem Wasser,
da alle Brunnen und Flüsse verschlammt sind.
Das Reich Kandhar wurde am härtesten mit¬
genommen. Campagne, der am Tage nach der
Katastrophe eine Reise rund um die ganze Insel
gemacht hat, schreibt: »Die Verwüstung ist hier
entsetzlich. Riesige Strecken, welche mit Kokos¬
nussbäumen bepflanzt waren, sind mit dem Erd¬
boden gleich gemacht worden. Die Hügel am Meeres¬
strande sind da und dort gespalten oder abgebröckelt.
Das Dorf Kandhar ist zum grössten Teile zerstört;
fast alle Häuser sind unter dem Gewichte der Asche
oder des Schlammes eingestürzt. Es ist ein gräss¬
licher Anblick, die mit Brandwunden bedeckten
Körper in den halb zusammengebrochenen Häusgrn
liegen zu sehen.
Darauf gehen wir nach Sawang, wo wir den
Zustand noch schlimmer finden; hier ist buchstäb¬
lich kein einziges Haus stehen geblieben. Von den
3000 Einwohnern, welche dieser bedeutende Ort
an der Nordspitze von Groot-Sangir zählt, sind viele
umgekommen. Quer durch den Ort hat sich ein
Lavastrom Bahn gebrochen, acht Häuser samt allen
ihren Bewohnern mitschleppend; der Strom hatte
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Google.
Die Kompass-Sage in Europa (Flavio Gioja), die ersten Erwähnungen desselben dortselbst u. s. w.
563
eine Breite von 70 m. Die Ansicht der Ebene,
über welche der Lava geflossen hat, ist ergreifend,
aber grossartig. Augenzeugen behaupten, es sei
ein Strom von fliessendem Feuer gewesen. ,Das
Dorf Bahoe (an der Ostküste) ist gänzlich von einem
Feuerstrome verbrannt worden, während alle seine
Bewohner, insofern sie zugegen waren, den Tod ge¬
funden haben, entweder durch das Feuer oder in den
Meereswellen, da das Dorf von drei Seiten von dem
Feuer eingeschlossen wurde und die vierte Meeres¬
seite jäh abfällt.«
Damit einer Hungersnot vorgebeugt wurde, hatte
Herr Hellwig sofort alle vorhandenen Lebensmittel
für die Regierung aufgekauft und zu gleicher Zeit
kräftige Hilfe in Menado angerufen. Auch hat sich
ein Komitee gebildet, Gelder für die unglücklichen
Eingeborenen einzusammeln. Denn möge auch die
Zahl der Toten nicht so gross sein, als man an¬
fangs fürchtete, das steht fest, dass die Insel durch
diese Katastrophe wieder auf Jahre hin zurückgeworfen
wird. Es ist zu fürchten, dass es lange Zeit dauern
werde, bevor die Energie der Bevölkerung zurück¬
gekehrt ist, und es ist möglich, dass erst das jetzige
Geschlecht verschwunden sein muss, bevor der
schwere Druck, welchen dieser Unglücksfall hervor¬
gerufen hat, gänzlich verschwunden sein wird*).
Die Kompass-Sage in Europa (Flavio Gioja),
die erstenErwähnungen desselben dortselbst
und nationale Ansprüche an seine Erfindung.
Von A. Schück (Hamburg).
(Fortsetzung.)
Zur Gioja-Sage zurückkehrend, mag Alex.
Sardo von Ferrara der erste gewesen sein, der
einem Einwohner Amalfis einen bestimmten Anteil
an der Herstellung des Kompasses zu weist; er sagt
in »De rerum inventoribus etc.« (Moguntiae 1577):
»Flavius Campanus aus der Stadt Amalfi stellte
den Magnet in einer Büchse auf, damit die Seefahrer,
wenn sie beständig die Nordrichtung erkannten, wo¬
hin sie wollten steuern konnten«. — Laevinus
Lemnius in »De Mirac.«,S. 302, geht weiter; nachdem
er die Wahrscheinlichkeit betont, dass er im Altertum
bekannt war, sagt er: »Dabei übersehe ich nicht,
dass Philander in seinem Kommentar zu Vitru-
vius, und mit ihm die ersten Autoritäten der Mei¬
nung sind, dieser Kompass-sei vor noch nicht
vielen Jahrhunderten in Amalfi, einer Stadt Cam-
paniens, hergestellt worden. Dennoch glaube ich,
dass jenes Instrument nicht dort, noch zu jener Zeit
erfunden, oder nach unseren Kenntnissen erdacht sei,
sondern interpoliert, d. h. mit gewisser Erneuerung
wieder in Gebrauch genommen sei und mit der
*) Nachschr. d. Verf. Die Anzahl der Getöteten beläuft sich
nach den neuesten Regierungsberichten auf 2000, von denen
1500 genau identifiziert sind.
Kunstfertigkeit eingerichtet, dass es genau und wage¬
recht, mit keinem Teile neigend oder schwankend,
auf dem Perpendikel oder der Pinne den Himmels¬
pol anzeigt u. s. w.« — Am bezeichnendsten für
die damalige Ansicht spricht sich aus Guillaume
deNautonier, »Mecom£trie de Leymant etc.« (Tou¬
louse, T. I, 1603, S. 8): »Dieses Instrument, dessen
Kenntnis man verloren hatte, ist um das Jahr 1300
wieder erfunden durch einen Amalfitaner Namens
Gioja, wie es Flavius u. a. bezeugen«. Nau-
tonier führt dann an das Citat von Albertus
Magnus (Albrecht, Graf von Bollstädt) aus dem
als fraglich betrachteten Werk des Aristoteles
oder Theophrast (ungefähr 350 v. Chr.), dass
schon zur Zeit des Aristoteles die »Nordweisung«
des Magneten bekannt und von Seefahrern benutzt,
diese Kenntnis jedoch seiten und das Mittel, sie zu
benutzen, verloren war, dann »aber er (Goya)
kann der zweite Erfinder oder der Wiederhersteller
dieses Kunstwerkes geworden sein, welches damals
in seinem Vaterlande nicht in Gebrauch war.
Besonders verdient er grosses Lob, wenn er dies
Instrument so verbesserte und einrichtete, wie es
noch jetzt im Gebrauch ist, dass es sich auf seiner
Pinne leicht in die Richtung dreht, in welche es
durch seine natürliche Eigenschaft gelenkt wird, an¬
statt des unbequemen, das genannter Goya vorher
selbst benutzte, indem man in ein Gefäss mit Wasser
eine (ein kleines Stückchen Stroh- oder Bast-) Matte,
einen Splitter oder ein kleines Stück Holz legte,
durch welches eine gewöhnliche Nadel gesteckt
wurde, die man mit einem Magnetstein bestrichen
hatte; da diese mit der Matte oder dem Splitter
schwamm, zeigte sie die Nord-Südrichtung an; da¬
her mag man seit jener Zeit das Instrument Nadel
genannt haben«. — »Weder mit Hilfe des Wassers,
noch wenn man den Magnet in der Luft an einem
sehr feinen Haare aufhängt, kann er so leicht, noch
so genau, noch ro rasch arbeiten. — Anfangs be¬
diente man sich der Nadel allein, ohne die Wind¬
rose beizufügen, deren Erfindung sich die Flamänder
rühmen; in der That, dies war eine ausgezeichnete
Beigabe zu jener Erfindung.«
Hierzu bemerke ich zunächst, dass die Angabe,
der aufgehängte Magnet könne nicht so genau
arbeiten, als der auf der Pinne schwebende, nicht
unbedingt richtig ist; ein feines Haar ist allerdings
nicht geeignet zur Aufhängung eines für genaue
Beobachtungen bestimmten Magneten; der gegen
Luftzug geschützte, an einem Kokonfaden oder Bün¬
del aufgehängte »arbeitet« aber leichter und genauer
als der auf einer Pinne schwebende, es lässt sich
jedoch nicht so rasch, auf See überhaupt nicht, da¬
mit beobachten. — Ferner mache ich darauf auf¬
merksam, dass im Original für »eine (ein kleines
Stückchen Stroh- oder Bast-) Matte« paille steht;
dies mit Strohhalm zu übersetzen, wäre ebenso un¬
richtig, wie etwa die Uebersetzung von paille de
bitte (Betingsbolzen, wenn nicht Betingspall) mit
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564
Die Kompass-Sage in Europa (Flavio Gioja), die ersten Erwähnungen desselben dortselbst u. s. w.
Strohhalm des Betings oder Betingsstroh! Selbst eine
gewöhnliche Nähnadel schwämme nicht, wenn sie in
einen Strohhalm gesteckt wird; sie im Wasser schwim¬
mend zu halten, sind ein Paar Streichhölzer nötig.
Paille mag statt paillet oder paillette, Matte (von Stroh
oder Bast), kleines Stück Matte gesetzt sein; viel¬
leicht ist es ein ausser Gebrauch gekommenes Wort,
gleichbedeutend mit unserem Pall (Sperrklinke), in
welchem Fall es hier ein längliches Stückchen Holz
bezeichnen soll.
Der Name Joannes Gioia verschwindet immer
mehr, und Flavio Gioia tritt an seine Stelle; wäh¬
rend Philippus Ferrarius (Epitome Geographica,
1605) nur schreibt: »Amalphis, Malfi und Amalfi;
hier sagt man, sei zuerst der Gebrauch des Magneten
erfunden«, hat Mich. Ant. Baudrand in seiner
Ausgabe desselben Werkes als Lexicon Geographi-
cum, Paris 1670 hinzugefügt: »Hier ist 1300 der
Kompass erfunden von Flavio Gioia«. Später mag
die Frage: Joan oder Flavio Gioia Doktorfrage
geworden sein, so dass Joannes Chrysostomus
Trombellus in seinem Briefe an Franciscus
Maria Zanotti: De acus nauticae inventore (De
Bononiensi Scientiarum et Artium Instituto atque
Academia Commentarii, T. II, p. 3, Bononiae 1747)
schreibt: »Denn ich kann nicht die Ansicht derer zu¬
rückweisen, welche dies Lob unter zwei Bürger Amal¬
phis teilen, deren erster (es ist vielleicht Joannes
Gioia, der Zeitgenosse Marco Polos gewesen sein
mag, selbst vor ihm leben konnte) begann, was der
andere (wenn ich nicht irre Flavius Gira genannt)
noch bedeutend vermehrte und, ich möchte es kaum
sagen, verbesserte. Hierauf deutet selbst hin, dass
der Streit sowohl zwischen beider Vor- als Zunamen
schwankt, denn einige nennen den Erfinder des
Kompasses Joannes, andere Flavius, einige mit
dem Zunamen Gira, andere Gioia. Dies kannst
du sehr bequem erklären, wenn du zwei anerkennst,
beide Bürger von Amalfi und besonders verdient
um den Kompass, von denen der eine Joannes,
der andere Flavius war, einer mit dem Zunamen
Gira, der andere mit dem Gioia«. (Als Möglich¬
keit hierfür beruft er sich »auf die Autorität sehr
berühmter Männer«, besonders von Riccioli und
Brietius, von denen ersterer vielleicht meistens
citiert, letzterer ohne Begründung behauptet; dann
schreibt er ab von Riccioli:) »Es kann sein, dass
Joannes Gioia den Kompass erfand und Flavius
ihn vervollkommnete, indem er die Teilung (des
Kreises, Horizontes) in 16 Richtungen, dann in 32
einführte und eine so (geteilte und) bezeichnete
Rose aus rundem Pappdeckel auf den magnetisierten
Stahl legte«. — Dies ist die Lösung des Rätsels im
Sinne der Lösung des gordischen Knotens durch
Alexander d. Gr.: »Was man nicht lösen kann,
zerhaue man«.
Trombellus erwähnt als ihm unbekannt, aber
sehr gerühmt die Dissertation des Gregorio Gri-
maldi »Sopra il Primo Inventore della Bussola«, die
enthalten sein soll in den »Acta Academiae hetruscae«,
T. III; ich fand sie in der »Scelta di Dissertazioni
cavate dä piü celebri Autori si antichi che moderni,
intorno ad ogni sorta di Arti e Scienze«, T. II, Ve¬
nezia 1750. Grimaldi tritt für Flavio Gioja ein und
nennt ihn aus dem Flecken (oder Städtchen, castello)
Pasitano di Amalfi (A. v. Humboldt, Kosmos, II);
er beruft sich aber nur auf das von anderen Gesagte,
ohne zu prüfen, woher dieser Bericht stammt.
In Bezug auf einen Gioia spitzt sich die Frage
dahin zu: Aus welcher Quelle schöpfte Gil¬
bert den Namen Johannes Goia oder Gira,
und welche Zuverlässigkeit kann diese Quelle
beanspruchen? Sollte keine zuverlässige Quelle
zu finden, man also nur auf ein Gerücht angewiesen
sein, das Gilbert irgendwie zu Ohren kam, so ist
zu beachten, dass der Familienname Gioja noch
jetzt besteht, dass Joia, Gioia nicht nur eine Stadt
im früheren Königreich Neapel, 16 Miglien vom
Golf von Tarent ist, sondern auch Joa, Joia,
Gioia, Gioja ein befestigter Ort Calabriens in
dem kleinen Golf des Tyrrhenischen Meeres Joia
(im Altertum Bruttius sinus) ist — Alph. Lasor
a Varea, Universus terrarum orbis, Padua 1713 —;
dann liegt es also nahe, folgendermaassen zu schliessen:
Zur Zeit Gilberts (um 1600) mag eine Bus¬
sole, deren Verfertigung man aus jetzt nicht mehr
ersichtlichen Gründen in die Zeit um 1300 setzte,
den Namen Johannes und Gioia oder Gira ge¬
tragen haben, so dass sie entweder zu einer Zeit
zwischen 1300 und 1600 Eigentum eines Johannes
mit jenem Zunamen bzw. aus einem jener Orte war
oder einen Johannes mit jenem Zunamen bzw. aus
einem jener Orte zum Verfertiger hatte, wobei —
sei es von dem Händler, der keine Litteraturkenntnis
besass, sei es von einer »Autorität« — jener Be¬
sitzer oder Verfertiger zum Erfinder gemacht wurde.
Sobald man den Vornamen (Johannes so¬
wohl als Flavio) ausser acht lassen, sich nur an
das Wort Gioia halten will, ist zu beachten die
Bedeutung, welche Egidio Menagio in »Le
Origine della lingua Italiana« Genova 1681) diesem
Worte gibt, S. 258: »Gioia bedeutet kostbares Ge¬
stein. Von jocalia oder jocaria. Salmasius über
Salino sagt: ,Die heutigen Araber nennen die Perle
aljohar %az’ ££o*/t]v, denn sie nennen alle Edelsteine
johar. Dieser Ausdruck ist offenbar aus jocarium
und jocale verdrehtes Latein, denn noch jetzt nennen
wir jocalia das Ausgesuchteste aller Edelsteinschmuck¬
sachen, womit wir die Gattin erfreuen, daher heissen
sie jocalia und jocaliarii, gemmarii. Jocar et jocarium
ist so viel wie jocale. Daraus das arabische johar 4 «.
Aus einigen Schriften des 13. Jahrhunderts geht so¬
wohl deutlich hervor, dass zu jener Zeit schreibselige
bzw. kenntnisreichere Reisende nicht nur in höherem
Grade als früher beachteten: wie helfen sich die
Schiffsführer auf See, wenn kein Land sichtbar ist,
sondern auch, dass die Schiffsführer den Magnetstein
als (gioia) den kostbarsten Stein bezeichneten, der
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
vorhanden sei; dies mag Gelehrte, welche den Dia¬
manten als kostbarsten Stein kannten, veranlasst
haben, die dem Magnetstein verliehenen Eigen¬
schaften dem Diamanten beizulegen (Vincentius de
ßeauvais, auch V. Burgundus und V. Bello-
vacensis genannt, Jacques de Vitry, Jean de
St. Am and; vielleicht hat es nur einer gethan, und
alle anderen haben es auf seine Autorität hin ge¬
glaubt). Falls ein Johannes Händler mit Hand¬
stücken Magnetsteins war, denen man besondere
magnetische Kraft zuschrieb, so rühmten die Besitzer
die gioia des Johannes, und für Nicht-Italiener,
die mit dem Sprachgebrauch bzw. der Sprache oder
dem Dialekte nicht vertraut waren, konnte daraus
werden: Johannes Gioia, der Erfinder des Kom¬
passes. Nebenbei sei erwähnt, dass Bertelli in
seiner bewunderungswürdigen Arbeit: »Sulla Epistola
di Pietro Peregrino« folgenden Ausspruch des Si¬
mone Monaco aus dessen »Clavis sanationis« (aus
dem Jahre 1288, ed. 1474) wiedergibt: »Den Magnet¬
stein nennen (,putarunt‘ kann hier nicht ,dafür halten 4
bedeuten) viele fälschlich Diamant«. In einer der
alten Handschriften hat der Abschreiber statt aimant
iamant gesetzt; da mag der nächste, »um Sinn hinein¬
zubringen«, es für richtig gehalten haben, noch ein
d voranzusetzen = diamant.
Jal im »Glossaire nautique« erwähnt, nach
Pantero-Pantera (1614), im Mittelalter und im
16. Jahrhundert habe man mit Gioia bezeichnet
den Sklaven, den man, ausser anderen Belohnungen,
als Geschenk gab an jeden Kapitän einer Galeere,
der ein feindliches Schiff erobert hatte; Jal vergleicht
dies mit der Beilage der Fleischhändler an ihre Kun¬
den (Zugabe der Bäcker u. a.); in der That war
die Verbindung eines Rosenblattes mit dem oder
den Magneten der Bussole eine so angenehme und
nützliche Zugabe, d. i. Gioia, wie man nur wün¬
schen konnte (vgl. Breusing in beiden gen. Auf¬
sätzen).
Sobald man den Vornamen nicht berücksichtigt,
liegt es nahe, noch eine andere Entstehung der
Gioia-Sage anzunehmen. 1558 wurde in Augs¬
burg veröffentlicht der Brief des Pierre de Mari¬
court vom Jahre 1269: »De magnete etc.«, der¬
selbe enthält die älteste genaue Beschreibung von
Bussolen. Taisnier hat ihn 1562 in Köln mehr
nachgedruckt als benutzt, worauf Gilbert 1600
und Wenckebach neuerdings aufmerksam machten.
Bertelli weist darauf hin, dass Taisnier auch von
Plinius abschrieb; ausserdem ist dieser Brief viel¬
fach mit und ohne Quellenangabe in mehrfacher
Variation benutzt, so auch von Jo. Baptista Porta
in »Magia naturalis« (Frankfurt 1591); Bertelli
legt dies eingehend dar. Da im 16. Jahrhundert
mehrfach gedruckt wurden die Berichte über Ereig¬
nisse während der Reisen Vasco da Gamas und
andere Reiseberichte, in denen von der Benutzung
des Kompasses durch die Asiaten die Rede ist, aber
auch die Frage, wer der Erfinder des Kompasses war,
Ausland 189a, Nr. 36.
5 ^
schon gestellt war, so hat man zweifellos daran ge¬
dacht, dass über verhältnismässig so wohlüberlegte
Sachen, wie die von P. de Maricourt beschriebenen
Bussolen, ältere Berichte vorhanden sein müssen.
Irgend jemand erinnerte sich an die Erwähnung des
Instrumentes durch den sog. Guyot, er war aber
entweder des Namens nicht ganz sicher, oder andere,
die diesen Namen nicht richtig verstanden, gaben
ihm die italienisch klingende Schreibart Gioia, weil
sie wussten, dass bis vor nicht langer Zeit italie¬
nische Schiffsführer wegen ihrer Kenntnisse die be¬
rühmtesten waren, deshalb von Spanien und Por¬
tugal in Dienst genommen, nach gewissen Richtungen
also die Lehrer dieser damals berühmten Seemächte
in der Schiffsführung wurden (Th. Fischer).
(Fortsetzung folgt.)
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
Ein Beitrag zur Geschichte der Erdkunde.
Von Emil Wisotzki (Stettin).
(Schluss.)
Auch sei der Unterschied der specifischen Schwere
des Wassers in beiden Meeren noch gar nicht ge¬
nügend dargethan, wenigstens nicht in dem Grade,
dass sich daraus eine so grosse Erscheinung, wie
der angebliche untere Gegenstrom, erweisen Hesse.
Ja, dieser Unterschied würde am Ende ganz auf¬
gehoben durch die grössere Wärme des Wassers im
Mittelmeer. Es werden dann von neuem die Zu¬
fluss- und Verdunstungsangaben einander gegen¬
übergestellt, aber mit demselben Resultat, wie vorher,
ein vielleicht doch vorhandener Ueberschuss durch
Flusszufuhr würde durch die seitlichen Küstenströ¬
mungen in den Ocean wieder abgeführt.
v. Hoff kommt jetzt auch zu der vorher ver¬
missten Behandlung der Frage nach dem Verbleib
des durch den Oberstrom immer wieder von neuem
zugeführten Salzes, worauf zuerst Waiz hingewiesen.
James Hall habe neuerdings gemeint, es müssten
sich in der Tiefe des Mittelmeeres grosse Salzstöcke
bilden J ), was wohl möglich. Er weise dann darauf
hin, dass die grossen Vulkane im Mittelmeer wohl
dazu wirken könnten, die in demselben sich an¬
häufende Menge des Salzes zu mindern, oder es
bildeten sich Steinlagen auf dem Boden des Meeres.
Wie ganz verzweifelt v. Hoffs Stellung diesem
Punkte gegenüber war, ergibt sich aus seiner resig¬
nierten Bemerkung: »So wenig man erklären kann,
warum in Binnenmeeren, denen Flüsse eine Menge
von süssem Wasser immerfort zuführen, der Salzgehalt
sich nicht vermindert, so wenig kann man auch zu
bestimmen wagen, warum im Mittelmeer der Zu¬
fluss aus dem Ocean denselben nicht vermehrt 2 ).«
Aber in demselben Jahre trat für die Existenz
der Doppelströmungen in den Meeresstrassen der
! ) Brewsters Journal of Science, vol. III, 1825, p. 1 ff.
a ) A. a. O., III, Gotha 1834, S. 278—288.
72
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566
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
Verfasser der »Reisen zu Lande und zu Wasser«,
T. F. M. Richter, ein. Niveaudifferenz und Schwere¬
differenz sind die Ursachen. Er berichtet über den
Gegenstand so ruhig, als ob bereits allgemeinste
Uebereinstimmung herrschte J ). Dass dies aber nicht
der Fall, beweist gleich wieder Heinrich Berg¬
haus; derselbe verhält sich nur referierend; in Be¬
zug auf die Unterströme stellt er sich auf die Seite
v. Hoffs und spricht von der »oft wiederholten
Sage« 2 ). Aber Muncke tritt noch in demselben
Jahre v. Hoff entgegen. Er erklärt es »mit hydro¬
dynamischen Gesetzen für unvereinbar, dass das at¬
lantische Wasser von der schrägen Felsenwand zu-
rückgestossen- und durch den oberen Strom nieder¬
gedrückt eine entgegengesetzte Strömung erhalten
sollte, wenigstens insofern dies nicht in der ganzen
Breite der Meerenge stattfinden könnte. Es würde
vielmehr das untere Wasser sich heben, das obere
in seiner Bewegung verzögern und selbst mit letz¬
terem überfliessen«. Auch einzelne andere Auf¬
stellungen v. Hoffs bekämpft er 3 ).
Arago wieder greift die Grundlage für die
Erklärung des Oberstromes an. Man habe behauptet,
das Mittelländische Meer müsse niedriger stehen, als
der Atlantische Ocean, weil es durch Verdunstung
mehr Wasser verliere, als es durch Regen und Flüsse
empfange. Allein direkte Messungen, so die in den
Jahren 1825—1827 im südlichen Frankreich unter
Leitung des Obersten Coraboeuf ausgeführte Trian¬
gulation, setzen den Ocean nur 0,73 m höher, als
das Mittelmeer, geben also so gut wie keinen Unter¬
schied zwischen dem Mittelstände beider Wasser¬
becken. Also sei die zur Erklärung des Oberstromes
herangezogene Niveaudifferenz entweder gar nicht
vorhanden oder höchst geringfügig. Ströme jedoch,
erzeugt durch Unterschiede im Salzgehalt, gebe es
in allen Tiefen 4 ). Dass Arago auch in der Gibraltar-
Enge den Unterstrom angenommen, geht aus einer
Bemerkung Humboldts hervor 5 ). In seiner hinter-
lassenen Schrift »Ueber die Phänomene des Meeres«
wird auch der Oberstrom als existierend anerkannt,
aber Arago fährt fort ganz im Sinne seiner oben
mitgeteilten Anschauung 6 ): »Folglich ist von der
Strömung nicht eine angeblich geringere Höhe des
Niveaus des Mittelmeeres gegen das des Oceans die
Ursache. Es ist bewiesen, dass in diesen Gegenden
ein unterseeischer Strom in der Richtung von Ost
nach West unaufhörlich eine gewisse Menge Wasser
aus dem Mittelmeere in den Ocean führt. Man kann
also annehmen, dass der obere, entgegengesetzt ge-
J ) Die Wasserwelt, I, Das Meer, Dresden und Leipzig 1834,
S. 361.
2 ) Allgemeine Länder- und Völkerkunde, I, Stuttgart 1837,
S. 439 — 445 -
3 ) Gehlers Physikalisches Wörterbuch, VI, 3, Leipzig
1837, S. 1768 ff.
4 ) Annuaire 1836. Daraus in Poggendorffs Annalen,
37, S. 450 ff.
5 ) Kosmos, 1 , 322.
6 ) Aragos Werke, DC, S. 444, 467, 481.
richtete Strom nur die Lücken ausfüllt, welche der
untere Strom hervorgerufen hat«. Dann wird auch
wieder der Unterstrom als zweifelhaft bezeichnet.
Auch der Physiker Buff ist kein Freund der
Unterströme, an die man wohl früher geglaubt.
Neuere Untersuchungen aber hätten gezeigt, dass
die beiden, die Meerenge von Gibraltar bildenden
Küsten durch ein an manchen Stellen bis nahe zur
Oberfläche emporsteigendes Felsenriff verbunden sind,
während die Meere auf beiden Seiten der Enge eine
sehr grosse Tiefe besitzen. Ueberdies werde jene
Vermutung durch die Thatsache widerlegt, dass das
Mittelmeer sowohl an der Oberfläche wie in der
Tiefe eine höhere Temperatur besitzt, als der be¬
nachbarte Teil des Oceans 1 ). Arago aber hatte
gerade »scharfsinnig bemerkt«, die grosse Erkältung
der unteren Wasserschichten im Mittelmeere w y erde
bloss wegen des Unterstromes nicht gefunden 2 ).
Stillschweigend übergehen wir die Anschauungen
des Prager Sanitätsrates Dr. Nowdk, welche uns
wieder in »tellurische Hohlräume« hinabführen 3 ).
Sir Henry T. de la Beche anerkennt in seinem
vortrefflichen »geological observer«, einem würdigen
Vorläufer unseres neuesten »Führers für Forschungs¬
reisende«, die Oberströme als veranlasst durch Niveau¬
differenzen, deren Ursache zu suchen sei in dem Ver¬
hältnisse von Verdunstung und Zufluss. Die Unter¬
ströme bleiben in dunkler Unbestimmtheit: sie seien
ohnelängst bezweifelt worden 4 ).
Auch Sir Charles Lyell steht den Oberströmen
ebenso anerkennend gegenüber, desgleichen sind
Niveaudifferenzen für ihn die Ursache derselben. Dann
beschäftigt ihn der Salzgehalt des Mittelmeeres: wes¬
halb derselbe nicht zunehme? Einige hätten auf
einen Unterstrom hingewiesen. Noch neuerdings
habe Dr. Wollaston auf Grund einer Analyse be¬
hauptet, dass viermal dichteres Wasser in der Tiefe
der Strasse sich finde, wie an der Oberfläche, und
daraufhin solch einen Unterstrom angenommen. Er
sei aber der Ansicht, dass hier ein Irrtum mit unter¬
gelaufen und dass die durch den Oberstrom dem
Mittelmeer zugeführte starke Salzmenge nicht wieder
durch die Strasse hinausgeführt werde. Zwischen
Trafalgar und Spartel sei die tiefste Stelle nur
220 Faden. Daher sei es auch einleuchtend, dass,
wenn an gewissen Stellen des Mittelmeeres Wasser
wegen der Zunahme seines specifischen Gewichtes
herabsinke bis zu grösseren Tiefen als 220 Faden,
es niemals wieder in den Ocean hinausfliessen könne
wegen der submarinen Schwelle, welche sich quer
über die Strasse erhebt. Die Tiefen des Mittelmeeres
müssten demnach viel bedeutenderen Salzgehalt be¬
sitzen, als man bisher beobachtet 5 ).
*) Physik der Erde, Braunschweig 1850, S. 187.
2 ) Kosmos, I, 322.
3 ) Der Ocean, Leipzig 1852.
4 ) Deutsch von Dieffenbach, Braunschweig 1853,
S. 17, 70.
6 ) Principles of geology, 9. Aufl., 1853, p. 333 ff.
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
567
Selbst noch 14 Jahre später, 1867, spricht sich
Lyell dem Unterstrome gegenüber ablehnend aus.
Noch die neuesten Messungen, welche den tiefsten
Punkt der trennenden Schwelle auf nur 167 Faden
bestimmten, hätten diese einst ganz populäre Idee
verscheucht. Den uns bekannten Vorgang mit dem
gesunkenen Holländer könne man dahin erklären,
dass derselbe durch die bekannten Seitenströme west¬
lich getrieben worden.
Admiral W. H. Smyth, der Verfasser einer
heute wohl im einzelnen vielfach veralteten, aber
als Ganzes noch immer notwendigen Schrift über
das Mittelmeer, bekämpft Lyells »geistvollen Ge¬
danken«, dass sich das Salz im Mittelmeere schliess¬
lich auf den Boden niederschlage. Die Tiefenproben,
welche er hcrausgebracht, seien immer nur Schlamm,
Sand u. dgl. gewesen, aber niemals Salzkrystalle.
Man müsse weitere Information abwarten, inzwischen
aber könne man bereits erweisen, dass Dr. Wo liaston
nicht recht habe.
Es könnte wohl sein, dass das Mittelmeer durch
Flüsse, Quellen und Regen, abgesehen von Ocean
und Pontus, weniger Wasser erhalte, als die Ver¬
dunstung wegführe. Er bespricht die Berechnungs¬
versuche Halleys, auf den er den Satz anwendet:
»aliquando bonus dormitat Homerus«, stellt eigene
derartige Versuche gegenüber, nennt die verschiedenen
trigonometrischen Bestimmungen der Höhendifferenz
zwischen dem Ocean und dem Mittelmeer, und kommt
so schliesslich zu dem Resultat, dass diese Differenz
doch beinahe gleich Null sei. Daher müsse man
nach anderen wahrscheinlichen Faktoren suchen zur
Erklärung des Oberstromes. Welches dieselben seiner
Ansicht nach seien, erfahren wir nicht, da seine Zeit
und seine Mittel bei entsprechender Gelegenheit nicht
hinreichend hierzu gewesen. Vielleicht dachte Smyth
an »differences in the specific gravities of the con-
tiguous waters, to the depth and form of bottom,
to the density of the several media, to the fluctua-
tions of atmospheric pressure«.
Was den »angenommenen Unterstrom« betreffe,
so leugne er denselben durchaus nicht, aber derselbe
sei bisher durchaus nicht erwiesen. Er selbst macht
keinen derartigen Versuch, sondern begnügt sich,
einige früher hierfür angeführte Vorgänge zu be¬
richten und zum Teil kritisch zu beleuchten 1 ). Er
weist ausserdem darauf hin, dass seiner Ansicht nach
zur Erklärung des Unterstromes: »unless a greater
gravity be conceded, it is necessary that the Medi-
terranean water be of a lower temperature than
that of the Atlantic«, sonst dürften die Strömungen
gerade umgekehrt ihren Lauf nehmen.
Es ist wohl Admiral Smyth, den Herschel
in seiner »Physical geography« eine »authority en-
titled to every respect« nennt, trotzdem aber meint,
sich bei Halleys Schlüssen beruhigen zu dürfen.
*) Smyth, The Mediterranean etc., London 1854, p. 128
bis 167.
Er bemüht sich, dieselben auch rechnerisch als richtig
zu erweisen. So erkläre sich der Oberstrom sehr
leicht. Der Unterstrom führe seinerseits wieder ab
einen Teil des Wassers, andererseits diene er zur
Salzabfuhr. Der Salzgehalt nehme nach unten hin
zu l ).
Auch Anton v. Etzel stellt sich auf die Seite
der Vertheidiger der Doppelströme 2 ).
Ausserordentlich lebhaft hat sich der Doppel¬
strömungen und ihrer Erklärung durch Niveau- und
Druckdifferenzen angenommen der bekannte ameri¬
kanische Hydrograph Maury, mit dem man das
Zeitalter der modernen Oceanographie zu beginnen
pflegt-
Nur noch eingehende Lotungen, Temperatur-
und Schweremessungen u. s. w. haben für die Wissen¬
schaft einen Wert. Auch für unseren Gegenstand
ringt man sich allmählich los von rein theoretischen
Erörterungen und wendet sich zu thatsächlichen
Nachweisungen, ohne welche jene haltlos in der
Luft schweben. Man fragt vor allem nach den
Thatsachen und versucht dann erst eine Erklärung,
oder sollte es wenigstens.
Zum Ausgangspunkt wählte Maury das Rote
Meer: ein langer, schmaler Trog, ohne Regen, ohne
Flüsse, trockene und heisse Winde, starke Verdun¬
stung. Der Ersatz könne nur aus dem Indischen
Ocean kommen. Die Oberfläche des Roten Meeres
neige sich allmählich nach Norden. Um dies noch
wahrscheinlicher zu machen, denke man sich, sagt
er, das Bett des Roten Meeres vollkommen glatt und
horizontal und ohne Wasser. Eine 10 Fuss hohe
Welle ströme jetzt durch die Strasse von Bab el
Mandeb ein und lege 50 Tage lang täglich 20 Meilen
zurück. Verliere sie nur täglich 1 j 2 Zoll durch Eva¬
poration, so sei leicht einzusehen, dass sie am letzten
Tage ein etwa 2 Fuss tieferes Niveau haben müsse.
Die Seeoberfläche sei daher als eine schiefe Ebene
anzusehen.
Der ausfliessende Unterstrom entführe »kälteres
und salzigeres, mithin schwereres Wasser« und ver¬
hindere so ein schliessliches Absetzen von Salz in
Form von Krystallen im Roten Meere. Maury weist,
um den Eintritt dieser Doppelströmung recht an¬
schaulich zu machen, auf das uns schon bekannte
Experiment Marsiglis hin. In ähnlicher Weise sei
der Vorgang in der Strasse von Gibraltar.
Nach diesen theoretischen Bemerkungen wendet
Maury sich dann den Resultaten wirklicher Beobach¬
tungen zu, welche über die Dichtigkeit des Wassers
im Roten und Mittelmeer und über die aus diesen
Meeren sich ergiessenden Unterströmungen angestellt
worden seien.
So beweisen die von Morris gesammelten und
*) A. a. O., Edinburgh 1861, p. 27 flf. Wie die Vorrede
besagt, ist das Werk ein Abdruck aus der Encyclopaedia Bri-
tannica von 1859.
*) Die Ostsee u. s. w., Leipzig 1859, S. 201.
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5 68
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
von Giraud untersuchten Wasserproben aus dem
Roten Meere, dass die Gewässer an der Oberfläche
immer salziger und specifisch schwerer werden, je
weiter sie von der Strasse entfernt seien. Dann be¬
richtet Maury über Dr. Smiths Bemerkungen im
Jahre 1683, erzählt den Vorgang mit dem Holländer
von 1712, weist hin auf Dr. Wollastons Unter¬
suchungen von Wasserproben 1828; aber Maury
verschweigt auch nicht die Gegnerschaft von »Schrift¬
stellern, deren Urteil die höchste Achtung verdiene«,
wie Admiral Smyth und Sir Charles Lyell, welche
aber doch auch nicht miteinander übereinstimmten.
An beiden übt Maury dann Kritik, welche er mit
den Worten schliesst: »Mir erscheinen die Beweise,
die theoretischen, nur aus vernünftigen Schlüssen
und Analogien hergeleiteten Beweise zu Gunsten dieser
unteren Strömung aus dem Mittelmeer ebenso klar,
als jene Beweise für die Existenz des Leverrier-
schen Planeten, ehe er durch das Teleskop gesehen
wurde *)«.
Aber in demselben Augenblick erhob sich ein
neuer Gegner der Doppelströmung in dem Kapitän
F. A. B. Spratt. Derselbe stellte Ende 1857 und
Anfang 1858 Strömungsbeobachtungen in den Darda¬
nellen, im Marmara-Meer und im Bosporus an und
proklamierte als Resultat die Abwesenheit jedes Unter¬
stromes und die Thatsache, dass der Oberstrom »is
merely a skimming surface movement«, welche sich
sehr rapid bis zu einer Tiefe von 20 Faden ver¬
ändere, weiter unterhalb aber kaum bemerklich sei.
Auch Schweremessungen des Oberflächen- und Tiefen¬
wassers wurden vorgenommen; diese ergaben für
das Marmara-Meer und die Dardanellen die »sehr
interessante Thatsache, dass fast in demselben Ver¬
hältnisse, in welchem der aus dem Schwarzen Meere
abfliessende Oberstrom nach unten an Geschwindig¬
keit abnahm, dass fast in demselben Verhältnisse der
Salzgehalt zunahm und dass letzterer sofort unter¬
halb des Oberstromes stark wuchs und in allen
Tiefen derselbe war und gleich demjenigen des
Mittelmeeres.
Angesichts des geleugneten Unterstromes er¬
hebt sich die Frage, wie erklärte nun Spratt diese
»interessante Thatsache« ? Er meinte ganz naiv, »an
mehreren Tagen, in gewissen Jahreszeiten und wäh¬
rend gewisser Winde« finde ein Einfluss salzigeren
Mittelmeerwassers ins Marmara-Meer statt. Es sei
»ein gelegentlicher Strom während heftiger West¬
winde im Herbst und Winter, wo gerade die Flüsse
dem Schwarzen Meere wenig Wasser zuführten«.
Das so eindringende schwere Wasser habe die Ten¬
denz, durch das leichtere Wa?ser des Schwarzen und
des Marmara-Meeres zu sinken. Im letzteren sammle
es sich an und erfülle die Tiefen mehr, im ersteren
dagegen werde es wegen der bedeutenden Grösse
mit dem leichteren Wasser vermischt. Das Schwarze
l ) Die physische Geographie des Meeres, deutsch von
Böttger, Leipzig 1856, S. 114 IT.
Meer sei auf dem Wege, aus einem Süsswassersee
ein Salzwassersee zu werden *).
War der Streit allmählich immer heftiger ge¬
worden, so entbrannte er auf der ganzen Linie in
den 70er Jahren. Carpenter, Laughton, Croll
sind die bedeutendsten Kämpen.
Carpenter hatte sich im Anschluss an Maury
für Doppelströmungen mit der bekannten Erklärung
ausgesprochen. Laughton antwortete hierauf 1872:
schon die beigebrachten Thatsachen seien falsch. In
Wirklichkeit nämlich trete ein Oberflächenstrom aus
dem Roten Meere heraus während des Sommers,
trotz der sicherlich dann im umgekehrten Sinne exi¬
stierenden Niveaudifferenz. Letztere sei also nicht
im stände, anderen, den Oberflächenstrom veran¬
lassenden Kräften die Stange zu halten. Während
des Winters jedoch, wo die Verdunstung gering,
also auch die Niveaudifferenz auf ein Minimum ge¬
sunken, ergiesse sich ein Strom ins Rote Meer. Ob¬
wohl die Winde in den verschiedenen Jahreszeiten
eine entsprechende Richtung hätten, so wolle er
doch durchaus nicht diesen jene Strömungen zu¬
schreiben, wenn sie auch mit dazu beitrügen. Er
schreibe vielmehr diese Strömungen den im offenen
Indischen Ocean wehenden Monsunen zu.
Während des winterlichen Nordost-Monsuns
entstehe auf dem gesamten Arabischen Meere ein
westlich ziehender Driftstrom. Der grösste Teil dieses
werde nach Süden gedrängt längs der Afrikanischen
Küste, aber ein anderer werde in die trichterförmige
Bucht von Aden getrieben und zum Teil durch die
Strasse von Bab el Mandeb ins Rote Meer gedrängt.
Im Sommer jedoch seien die Verhältnisse gerade
umgekehrt.
Der dann über die Arabische See hin wehende
Südwest-Monsun veranlasse vom Kap Guardafin nach
Bombay hin eine Strömung, welche aus dem Golf
von Aden das Wasser herauszieht resp. heraussaugt.
So entstehe in der Strasse Bab el Mandeb ein aus¬
tretender Strom.
Ob ein Unterstrom hier vorhanden, in dieser
oder jener Jahreszeit, oder dieser, resp. jener Rich¬
tung, sei unbekannt; auch sehe er keine zwingende
Veranlassung hierzu. Zu etwaigen Wasser- und
Salzausgleichungen könne man sich der seitlichen
Strömungen ja bedienen. Aber protestieren müsse
er energisch gegen derartige Einführung vorgefasster
Theorien ohne alle thatsächliche Grundlage in die
Geographie; letztere sei erwiesen durch die Beobach¬
tungen Sprattsin den Dardanellen und im Bosporus.
Man dürfe nicht sagen: hier ist ein Strom, denn hier
muss einer sein! Er sage lieber: dort braucht kein
Strom zu sein, weil keiner ist!
Laughton wendet sich dann gegen Car-
penters Auffassung der Verhältnisse in der Strasse
von Gibraltar.
*) Travels aod researches in Crete, vol. II, London 1865,
P- 333 — 349 -
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Die Strömungen in den Meeresstrassen.
569
Dagegen, dass die Oberströmung die Folge einer
durch starke Verdunstung des Mittelmeeres entstan¬
denen Niveaudifferenz sei, spräche der Umstand, dass
dieselbe im Sommer zur Zeit der starken Verdunstung
ebenso kräftig sei, wie im Winter, der Zeit schwacher
Verdunstung. Ja die allgemeinere Meinung sei so¬
gar, dass der Strom im Winter am stärksten, was
aber wegen ungenügender Beobachtungen nicht be¬
hauptet werden könnte. Dass aber selbst eine starke
Verdunstung noch durchaus nicht immer einen nach
innen gerichteten Strom veranlasse, erweise die Bab
el Mandeb-Strasse. Zur Zeit der geringeren winter¬
lichen Verdunstung führten die europäischen Flüsse
gerade grosse Wassermassen hinzu. Das alles be¬
weise, dass der Oberstrom in der Gibraltar-Strasse
nicht verursacht werde durch die Verdunstung.
Seiner festen Ansicht nach sei derselbe eine Folge
der Nordatlantischen Westwindtrift, welche gegen
die Küsten Portugals, und so weiter südwärts drän¬
gend, sich zum Teil in die Gibraltar-Strasse zwänge x )
und so entschlüpfe. Dieser äussere Druck gegen
die Strasse sei so gross, dass mehr Wasser ins Mittel¬
meer hineingelange, als dieses fassen könne, und dass
sofort ein Teil wieder in oberflächlicher oder, wie
es manche meinen, in einem unteren Gegenstrome
hinausgeführt würde. Dieser untere Gegenstrom
werde nicht bewirkt durch eine Schweredifferenz,
denn eine noch bedeutendere, zwischen dem Wasser
des Schwarzen Meeres und des Mittelmeeres vor¬
handene, sei ja erwiesenermaassen hierzu nicht im
stände. Ausserdem nehme der Unterstrom nicht die
niedrigsten Stellen der Strasse ein, was er müsste,
wenn er durch seine eigene Schwere hinausgedrängt
würde. Vielmehr fänden sich verschiedene Lagen
mehr oder weniger salzigen Wassers über- und unter¬
einander. Es sei vielmehr nur äusserer Zwang, der
den Unterstrom verursache; das sei das ins Mittel¬
meer oberflächlich hineingepresste oceanische Wasser.
Laughton machte diese Erörterungen zum
Gegenstände eines Vortrages. In der sich anschliessen¬
den Diskussion wurden auch Stimmen vernehmbar
zu Gunsten Carpenters und Maurys. Sehr gut
aber und für viele, auch uns heute noch beschäf¬
tigende Gegenstände beherzigenswert, war die gleich¬
zeitig gemachte Bemerkung, die beiden verschiedenen
Theorien seien »the results of a want of facts« 2 ).
*) Wir bemerkten schon oben, dass Isaak Vossius die¬
selbe Erklärung gab. Dass diese Erklärung von Carpcnter
zurückgewiesen ist, wird sich gleich weiter unten zeigen. Ausser¬
dem hat Puff (Das kalte Auftriebwasser u. s. w., in dem Jahres¬
bericht der Frankfurter Vereins für Geographie, 1890, S. I ff.)
nachgewiesen, dass das kalte Wasser in unmittelbarer Nähe der
Ostküste des Nordatlantischen Oceans zwischen 40 0 und 10 0
n. Br. nicht, wie man bis vor kurzem angenommen, die Folge
eines aus höheren nach niederen Breiten eilenden Oberfiächen-
stromes ist, sondern dass es aus der Tiefe stammt und von hier
aus in einem vertikalen Strome dicht unter Land an die Meeres¬
oberfläche gebracht wird.
*) Lajighton, Mathematical and naval instructor, Ocean
currents, Journal of the Royal United Service Institution, London
1872, vol. XV, p. 672 ff.
Sehr bald antwortete Carpenter 1 ). Er ging
von folgendem Versuch aus. Er nahm ein langes,
schmales Gefäss (oben rechts) A f (oben links) B ,
(unten links) C , (unten rechts) D y und füllte das¬
selbe aus mit Seewasser. Das bei B befindliche
Wasser unterlag dann einer starken Verdunstung,
wodurch sich die Wassersäule B C erniedrigte; gleich¬
zeitig aber verringerte sich der Salzgehalt bei A und
erhöhte sich die Wassersäule AD durch einen Zu¬
strom süssen Wassers. Infolge der so entstandenen
Niveaudifferenz floss das Wasser von A nach B ;
dadurch wurde nun aber wieder das Gleichgewicht
zwischen C und D am Boden gestört, indem der
Druck bei C nun grösser als der bei D , und somit
ein Unterstrom von C nach D entstand, entgegen
dem oberen. Man bemerke, dass hier der Ober¬
strom der primäre, der untere der sekundäre ist,
was wir bei Marsigli und sonst nicht bemerkten.
Bleiben die Ursachen, so bleiben auch die Wirkungen.
Im allgemeinen seien dies die Verhältnisse zwischen
Mittelmeer einerseits und Atlantischem Ocean resp.
Schwarzem Meer andererseits, zwischen Ostsee und
Nordsee, Rotem Meer und Indischem Ocean, daher
hier überall Ober- und Unterströme.
Dass diese seine Anschauung richtig, dafür be¬
rufe er sich auf den ausgezeichneten Physiker Sir
W. Thomson, der ihm zugestimmt.
Carpenter wendet sich dann zu dem Ver¬
hältnis zwischen Verdunstung und Regenfall resp.
Zufuhr durch Flüsse. Zu einer genauen Bestimmung
der Verdunstung der Mittelmeerwasser seien die Ma¬
terialien noch nicht vorhanden, aber dass sie die Zu¬
fuhr süssen Wassers durch Regen und Flüsse bei
weitem übertreffe, sei unzweifelhaft. Er bespricht
die Ansichten Halleys, Sir John Herschels,
zweier französischer Offiziere, Regy und Vigan,
welche bei ihren Berechnungen mit Recht das
Schwarze Meer ausgeschlossen. Er selbst weise hin
auf das Kaspische Meer, das unter ähnlichen Ver¬
hältnissen stehe. Alles spräche für ein Ueberwiegen der
Verdunstung. Angesichts dessen sei es schwer ver¬
ständlich, dass immer noch Zweifel erhoben würden
an dem hierdurch veranlassten Oberstrom. Ein ein¬
ziger wirklicher Grund sei bisher dagegen angeführt
worden: er ströme ja auch im Winter, wo die Ver¬
dunstung gering. Darauf erwidere er, die Tempe¬
ratur der Luft und des Wassers des Mittelmeeres
seien dann durchaus nicht so niedrig und vor allem
die Flüsse führten gerade dann am wenigsten Wasser
hinzu.
Was dann den Unterstrom betrefle, so sei er
von der theoretischen Notwendigkeit desselben immer
überzeugt gewesen, aber er meinte auch ihn bis zu
»mechanischer Evidenz« führen zu müssen. Kapitän
Nares und er hätten sich 1870 hierum bemüht.
Diese Arbeiten hätten nun ergeben, dass das Ober-
*) Further inquiries on oceanic circulation, Proceed. R.
Geogr. Society London, XVIII, 1874, p. 302 ff.
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570
Die Strömungen in den Meeresstrassen.
flächenwasser in der Strasse von Gibraltar atlanti¬
schen, das Bodenwasser jedoch ganz mittelmeerischen
Charakters sei. Es würde hier zu weit führen, die
Einzelheiten mitzuteilen.
Carpenter bespricht dann nochmals die Ur¬
sachen des Unterstromes und setzt hinzu, dass auch
auf ihn, wie auf den Oberstrom, Winde und Ge¬
zeiten einwirkten. Temperaturbeobachtungen in den
Strassen hätten ihn und Nares noch des weiteren
davon überzeugt, dass der Oberstrom nicht sei »a
wind current propelled by a vis a tergo«, sondern
»an indraught current drawn in by a vis a fronte« *).
Wir nannten oben schon den einen Hauptgegner
Carpenters, Laughton, gegen welchen derselbe
noch einen besonderen »Appendix«, als Anhang seiner
Hauptarbeit, richtete. Aber Carpenter bemerkte
auch die Abweichung seiner Auffassung von der¬
jenigen James Crolls.
Letzterer antwortete schon im nächsten Jahre
in seinem bekannten Werke: »Climate and time
in their geological relations 1 2 )«. Carpenter habe
ihn in Bezug auf die Ursachen der Oberflächen¬
strömung in der Strasse von Gibraltar missverstanden.
Er habe sehr wohl die Bedeutung der Verdunstung
für denselben in seiner früheren Arbeit 3 ) anerkannt
und auch jetzt noch sei er dieser Ansicht. Aber
ebenso wenig sei zu verkennen, dass das Golfstrom¬
wasser sich von selbst heran- und hereindränge in
die Strasse. Was den Unterstrom betreffe, so sei
es für ihn ausgemacht, dass die so ausserordentlich
geringe Schweredifferenz zwischen dem atlantischen
und mittelmeerischen Wasser gar nicht im stände
sei, einen solchen Unterstrom zu veranlassen, noch
viel weniger für die dänischen Sunde. Seine An¬
sicht vielmehr sei, dass das atlantische, in die enge
Strasse hineingedrängte Wasser »tends to produce
a slight banking up; and as the pressure urging the
water forward is greatest at the surface and dimin-
ishes rapidly downwards, the tendency to the resto-
ration of level will cause an underflow towards the
Atlantic, because below the surface the water will
find the path of least resistance«.
Eine ganz neue Erklärung versuchte der schwe¬
dische Gelehrte E k m a n. Dass der Oberflächen¬
strom die Folge einer Niveaudifferenz sei, wird zu¬
gestanden. Für die Erklärung der Unterströme führte
er seine Studien an der Einmündung der Göta-Elf
in das Kattegatt ins Feld. Indem er nämlich hier den
Salzgehalt untersuchte, fand er, dass dem in das Meer
sich ergiessenden Süsswasserstrom oben stets ein Salz¬
wasserstrom unten entspreche, der stromaufwärts
gehe und sich mehr und mehr der Oberfläche nähere.
Seinem weiteren Eindringen in den Fluss mache das
Ansteigen des Flussbettes schliesslich ein Ende. An
der Berührungsfläche, nämlich zwischen dem ein¬
1 ) Ueber diese Temperaturbeobachtungen und deren Er¬
klärung vgl. Puff a. a. O,
2 ) London 1875, P- 21 5 l6 7 ff -
8 ) Philos. Mag. for March., 1874, p. 182.
dringenden Strom und dem ruhenden Wasser, wür¬
den unaufhörlich Wasserteilchen mit fortgerissen,
die eines Ersatzes bedürften. Derselbe würde ge¬
liefert eben durch den in entgegengesetzter Richtung
eindringenden Salzwasserstrom.
Ekman bezeichnete diese Strömungen als
Reaktionsströme und erklärte die Unterströme in
den Meeresstrassen ebenfalls als solche. Der Ober¬
flächenstrom sei der mündende Fluss, das abfliessende
Binnenmeer sei gewissermaassen als obere Erweite¬
rung des Flusses zu betrachten. Während nun aber
einem weiteren Eindringen des schweren Meerwassers
durch das Ansteigen des Flussbettes ein Ende bereitet,
und so alles Meerwasser wieder durch den oben
fliessenden Fluss ins Meer zurückgeführt würde, sei
das in den Meeresstrassen nicht der Fall. Nur ein
Teil werde z. B. dem Mittelmeer wieder zurück¬
gegeben, ein anderer dagegen über die den Ocean
und das Mittelmeer trennende Schwelle hinaus-
gehoben, sinke infolge seiner grösseren Schwere in
den Atlantischen Ocean und bilde so den Unter¬
strom. »The specific weight of the water in the
basin can probably not attain such an amount, that
a real surplus of hydrostatic pressure should take
place from that^side, w r ere it not helped by the
excess of water carried thither by mechanical reac-
tion *)«. Dass hier noch eine Reihe anderer Fak¬
toren mitbestimmend einwirken und entsprechende
Modifikationen veranlassen, hat Ekman ausdrück¬
lich ausgesprochen.
Mit Recht hat der noch immer der Wissen¬
schaft nicht ersetzte Karl Zöppritz (Geograph.
Jahrbuch VIII, p. 63) von der Reaktion oder besser
Aspiration im Sinne Ekmans behauptet, dass sie
keine so allgemein auftretende Bewegungsursache
sein könne, wie Ekman plausibel zu machen suche.
Auch Emil Witte, ein lebhafter Mitarbeiter
bei der Lösung der Frage nach den Ursachen der
Meeresströmungen, erklärte sich gegen die Ek¬
man sehe Auffassung und fügte hinzu: »Ueberhaupt
ist es ja in allen Fällen unzulässig, eine Erscheinung,
welche durch bekannte Kräfte vollständig erklärt,
und durch die mathematische Form auch hinsicht¬
lich ihrer Quantität ,in den Kreis des Notwendigen
zurückgeführt 4 ist, durch unbekannte oder doch wenig
erforschte Kräfte erklären zu wollen 2 )«.
Wir unterlassen es, seine mathematische Formel
hier anzugeben, auch berichten wir nicht über die
Verdienste der Kommission zur wissenschaftlichen
Untersuchung der deutschen Meere, über diejenigen
Makarofs, Kropps u. a. Sie gehören bereits der
Gegenwart an. Allgemein scheint heute es ange¬
nommen zu sein, dass die Oberflächenströmung die
Folge einer Niveaudifferenz, die Unterströmung die
Folge einer Schweredifferenz sei. Die Erkenntnis aber,
1 ) Ekman, On the general causes of the ocean-currents,
Upsala 1876, in »Nova Acta Regiae Societatis Scientiarum Upsa-
liensis«, Ser. III, vol. X, Upsaliae 1879, p. 3 ff.
2 ) Ueber Meeresströmungen, Pless, 1878, S. 6.
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Die Vorstellungen der Swaneten von dem Leben nach dem Tode.
S 7 i
welcher der beiden Ströme der primäre, welcher der
sekundäre ist, wird meines Dafürhaltens noch immer
fälschlich beantwortet durch die stete Bezugnahme
auf das Experiment Marsiglis. In Wirklichkeit ist
auszugehen davon, dass in den beiden durch eine
Strasse verbundenen Meeresbecken ursprünglich jede
Niveau-, wie jede Schweredifferenz, also jede Ur¬
sache irgendwelcher Strömung gefehlt hat. Dann
erst dürfen die betreffenden Faktoren in Wirksam¬
keit gesetzt werden, Ueberwiegen der Verdunstung
oder der frischen Wasserzufuhr einerseits und Ver¬
harren bei dem vorhandenen Zustande andererseits,
oder zweitens eine gleichzeitige Veränderung beider
Meeresräume in entgegengesetztem Sinne. Dann
wird sich zeigen, dass die Oberflächenströmung als
Folge der Niveaudifferenz die primäre, die Unter¬
strömung aber die sekundäre ist. Dabei wird selbst¬
verständlich nicht geleugnet, dass in der Folge, aber
auch erst dann, die Unterströmung mit beiträgt zur
Erhaltung der Niveaudifferenz.
Die Vorstellungen der Swaneten von dem
Leben nach dem Tode.
Von C. Hahn (Tiflis).
DieSwaneten (im Kaukasus) haben von dem Leben
nach dem Tode sehr originelle Vorstellungen *). Die
Seelen der Abgestorbenen befinden sich auf einer un¬
geheuren Ebene, die mit ewigem Grün bedeckt ist.
Durch ein und dasselbeThor gelangen die guten und die
bösen Seelen dahin und erst hier werden die einen
ins Paradies, die anderen in die Hölle geschickt. Das
Paradies stellt eine grosse Wiese dar, in deren Mitte
steht ein langer Tisch, den Ehrenplatz an demselben
nimmt Jesus Christus ein, bei ihm sitzen die Seelen
der Gerechten. Die besten und mannigfaltigsten
Speisen stehen auf dem Tische. Der Ehrenplatz
Christi ist erleuchtet vom Glanze des ewigen Lichts.
Weder Christus noch die Seligen essen und trinken,
sie ergötzen sich nur am Geruch der aufgetragenen
Speisen. Vor jedem sind diejenigen Speisen auf¬
getragen, welche die Verwandten während der Leichen¬
feier geweiht haben. Nur die nächsten Verwandten
dürfen sich gegenseitig ihre Gerichte anbieten.
Die Seelen der Seligen wie der Verdammten
gleichen den Schatten. Sie tragen entweder die
Kleider, in welchen sie begraben wurden, oder aber
diejenigen, welche ihnen die Verwandten nach dem
Tode geweiht haben, wobei den schöneren der Vor¬
zug gegeben wird. Der von den Verwandten ge¬
weihte neue Anzug wird vom Verstorbenen sogleich
angelegt, und den alten schenkt er einer anderen
Seele, welche keine Verwandten hat, die ihr Kleider
schenken könnten. Jede Seele muss zwei Anzüge
haben, wenn aber die Verwandten noch weitere
schenken, so wird das mit Dank angenommen und
1 ) Alles Folgende stützt sich auf die Erzählungen eines
jungen Swaneten.
belohnt. Die Männer tragen in jenem Leben ihre
Waffen, die Frauen ihren Schmuck. Die Seelen sind
völlig frei, sie spazieren entweder auf der herrlichen
Wiese oder sitzen an dem mit köstlichen Speisen
beladenen Tisch oder aber sie »sättigen« sich am
Anblicke Jesu Christi, was ihre höchste Seligkeit
ausmacht, oder aber sie verbringen die Zeit in Ge¬
sprächen. Oftmals dürfen sie sogar mit dem Erlöser
selbst sprechen.
In einem entfernten Winkel der Ebene ist der
Ort für die Verdammten. Dort herrscht undurch¬
dringliches Dunkel. Von dort aus ist Jesus Christus
und das göttliche Licht nicht zu sehen. Auch
die Verdammten erhalten die Gerichte, welche die
Hinterbliebenen ihnen geweiht, aber diese Speisen sind
geschmacklos und widrig wegen der in der Hölle
herrschenden Finsternis. (Es gilt in Swanetien für
eine grosse Schande, im Finstern zu essen.) Uebrigens
herrscht auch die Meinung, dass die für die Ver¬
dammten bestimmten Speisen denjenigen Seligen zu¬
kommen, welche auf Erden keine Verwandten haben.
Die Swaneten sind überzeugt, dass Christus die¬
jenigen Verdammten begnadigt und ins Paradies ge¬
langen lässt, deren Hinterbliebenen öfters Gedächtnis¬
mahle veranstalten und ihnen Speisen weihen. Auch
schenkt der Erlöser der Fürbitte der Gerechten für
die Verdammten Gehör. Wir sehen daraus, dass
der Ort der Verdammnis bei den Swaneten durch¬
aus nicht so schrecklich ist, wie ihn manche christ¬
liche Bekenntnisse darstellen, dafür sind aber auch
die Freuden des Paradieses sehr bescheiden.
Auffallend ist, dass in jenem Leben die erste
Person in der Gottheit, Gott der Vater, bei den
Swaneten gar keine Rolle spielt. Niemals betet man
zu ihm um Begnadigung einer Seele.
Als einzige Sünde, welche nie verziehen werden
kann, gilt die Verletzung der Heiligkeit geistlicher